Année politique Suisse 1991 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
 
Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV)
Eine wissenschaftliche Überprüfung der Drei-Säulen-Konzeption der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge, welche der Bundesrat 1990 bei fünf Experten in Auftrag gegeben hatte, führte zu einer grundsätzlichen Bejahung dieses Prinzips. Die drei Säulen (AHV/IV, BVG und Selbstvorsorge) wurden hingegen unterschiedlich gewichtet. Insbesondere wichen die Vorschläge zum optimalen Finanzierungssystem voneinander ab. Das EDI will nun die Gutachten vertieft auswerten und dem Bundesrat bis im Sommer 1992 einen Bericht zur Drei-Säulen-Konzeption mit Vorschlägen über die Grundsätze der künftigen Gesetzgebung unterbreiten [5].
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und die SP reichten mit 118 264 gültigen Unterschriften ihre Volksinitiative "zum Ausbau von AHV und IV" ein, die zum Ziel hat, AHV und IV weitgehend existenzsichernd zu gestalten. Die Pensionskassen sollten 'dagegen abgebaut werden und deutlicher als heute die Funktion einer Zusatzversicherung erhalten. Gleichzeitig wollen die Initianten die Gleichstellung von Mann und Frau erreichen und die heutige Ehepaarrente durch eine Einzelrente (Splitting) ersetzen [6].
Der Gedanke einer substantiellen Aufstockung der AHV-Renten mit dem Ziel, diese existenzsichernd auszugestalten, scheint sich auch in bürgerlichen Kreisen einen Weg zu bahnen. Mit einem überwiesenen Postulat des Tessiner Freisinnigen Cavadini lud der Nationalrat den Bundesrat ein, den finanziellen Mehraufwand zu ermitteln, den die Anhebung des Mindestbetrages der AHV-Renten auf das Niveau des Höchstbetrages mit sich brächte, und im Rahmen der 11. AHV-Revision die Einführung einer Einheitsrente zu prüfen, die den Existenzbedarf aller AHV-Bezügerinnen und -bezüger deckt. Dies würde, führte Cavadini aus, zu einer Verringerung der Ergänzungsleistungen führen, welche nur noch an Einzelpersonen oder Ehepaare ohne ausreichende berufliche Vorsorge als Unterstützungsbeiträge an die Wohnungskosten und die Krankenkassenprämien auszurichten wären [7].
Gleich wie im Vorjahr der Ständerat lehnte auch der Nationalrat eine Standesinitiative des Kantons Jura ab, die eine einheitliche Erhöhung aller AHV/IV-Renten und eine Überprüfung der Minimalrenten verlangte [8].
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10. AHV-Revision
Für den Vorsteher des federführenden Departements des Innern, Bundespräsident Cotti, wurde die ständerätliche Eintretensdebatte zur 10. AHV-Revision zu einer wahren Zitterpartie. Die Mehrheit der vorberatenden Kommission beantragte dem Rat zwar Eintreten, doch verlangten sowohl eine sozialdemokratische Kommissionsminderheit (Bührer/SH und Miville/BS) wie auch der Freisinnige Schoch (AR) Rückweisung an den Bundesrat; Jagmetti (fdp, ZH) wollte die Vorlage zur Überarbeitung an die Kommission zurückgeben. Alle diese Antragsteller stiessen sich daran, dass die 10. AHV-Revision der Gleichstellung der Geschlechter nicht Rechnung trägt. Während aber der Antrag Bührer/Miville das Rentensplitting ohne Schlechterstellung der Frauen beim Rentenalter wollte, tendierten die beiden freisinnigen Anträge auf eine Angleichung des Rentenalters zuungunsten der Frauen. Nur dank der geschlossenen Front der CVP-Abgeordneten, welche zwar vereinzelt auch Kritik am mangelnden Mut des Bundesrates übten, die aber ihren Regierungsvertreter offenbar nicht durch eine Rückweisung brüskieren wollten, wurde schliesslich Eintreten beschlossen. Hauptargument Cottis war, dass bei Nichteintreten die Verbesserungen für die weniger begüterten Rentner weiter auf sich warten lassen müssten. Nach dieser recht emotional geführten Grundsatzdebatte schien es, als würden die Kritiker in der kleinen Kammer resignieren. In der Detailberatung verabschiedete der Ständerat die bundesrätliche Vorlage mit einigen unbedeutenden Änderungsvorschlägen. Insbesondere hielt er — entgegen anderslautenden Anträgen — an dem vom Bundesrat vorgeschlagenen ungleichen Rentenalter (65/62) für Männer und Frauen und an der gemeinsamen Ehepaarrente fest [9].
Das Unbehagen an der erneut ausgeklammerten Gleichstellung der Geschlechter veranlasste die Ständeräte Küchler (cvp, 0W) und Schoch (fdp, AR) zur Einreichung von zwei Motionen, welche beide die unverzügliche Ausarbeitung einer 11. AHV-Revision verlangten. Während die Motion Küchler sehr allgemein gehalten war, forderte die Motion Schoch als Preis für Rentensplitting und Betreuungsgutschriften auch die Gleichstellung der Geschlechter beim Rentenalter durch die Heraufsetzung des Pensionierungsalters der Frauen auf 65 Jahre. Dieser Punkt war es denn auch, der in der Herbstsession zu einem heftigen Schlagabtausch zwischen der Schaffhauser SP-Ständerätin Bührer und dem Motionär führte. Beide Motionen wurden schliesslich als Postulat überwiesen [10].
Nachdem bereits im Frühjahr die meisten Parteien wenig Begeisterung für Cottis Revisionsvorschläge signalisiert hatten, scherte die vorberatende Kommission des Nationalrates — die aufgestockte Kommission für soziale Sicherheit unter dem Zürcher Freisinnigen Allenspach — dann definitiv aus und beschloss, die Einführung einer zivilstandsunabhängigen Rente ohne Verzug einlässlich zu prüfen. Sie unterbrach deshalb ihre Beratungen und beauftragte das BSV, bis im Herbst einen Zusatzbericht zu den verschiedenen Splitting-Modellen vorzulegen. Obgleich das BSV in diesem Bericht die Ansicht vertrat, das Splitting würde zu massiven Einkommenseinbussen für Rentner mit ehemals mittleren Einkommen führen, bildete die Kommission im September einen Ausschuss mit dem Auftrag, innerhalb von sechs Monaten ein konsensfähiges Splitting-Modell mit Betreuungsgutschriften auszuarbeiten. Die Arbeitsgruppe kann sich dabei, neben dem Bericht des BSV, auf die bereits vorliegenden Modelle von SP und Gewerkschaften, der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen, einer Arbeitsgruppe der FDP sowie auf Vorschläge der Nationalrätinnen Haller (sp, BE) und Nabholz (fdp, ZH) abstützen [11].
Bei der Behandlung der Revision von Art. 33ter des AHV-Gesetzes (s. unten) wurden im Nationalrat in letzter Minute mehrere Anträge eingebracht mit dem Ziel, die 10. AHV-Revision aufzuspalten und die kaum bestrittenen Punkte (Rentenformel und Hilflosenentschädigung sowie die — allerdings kontroverser beurteilte — Frage der Besserstellung der geschiedenen Frauen) vorwegzunehmen, damit diese termingemäss auf den 1.1.1992 in Kraft treten könnten. Die Frage des Systemwechsels sollte dann gesondert angegangen werden. Dieses Vorprellen wurde vom Rat wenig goutiert und — wenige Wochen vor den Erneuerungswahlen — als wahltaktisches Manöver qualifiziert. Die grosse Kammer stimmte denn auch mit deutlichem Mehr einem Ordnungsantrag auf Nichteintreten zu und überwies die Anträge der vorberatenden Kommission [12].
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Ergänzungsleistungen
Als Geste der Solidarität schlug der Bundesrat dem Parlament vor, anlässlich der 700-Jahr-Feiern der Eidgenossenschaft allen Bezügern von Ergänzungsleistungen (EL) eine Jubiläumszulage von 700 Fr. auszurichten. Der Vorlage wurde in beiden Räten einstimmig zugestimmt [13].
Nur als Postulat verabschiedete der Nationalrat eine vom Ständerat überwiesene Motion Hänsenberger (fdp, BE), mit welcher der Bundesrat aufgefordert wird, die verfassungsmässigen Grundlagen der EL neu zu fassen [14].
Die grosse Kammer behandelte drei parlamentarische Vorstösse, welche zum Ziel hatten, den Kreis der Anspruchsberechtigten auszudehnen. Mit einer Motion wollte Nationalrat Leuenberger (sp, SO) eine Aufhebung der Sperrfrist von 15 Jahren für den Bezug von Ergänzungsleistungen für niedergelassene Ausländer erreichen. Der Bundesrat äusserte Bedenken, dies könnte zu einem Altersrentner-Tourismus führen und wies darauf hin, dass auch die vorberatende Kommission des Ständerates bei der Behandlung der 10. AHVRevision eine Reduktion von 15 auf 10 Jahre abgelehnt hatte. Ebenfalls mit einer Motion verlangte der Aargauer CVPAbgeordnete Bircher die Ausarbeitungeines Ergänzungsleistungssystems für Familien und Alleinerziehende in wirtschaftlichen Notlagen. Der Bundesrat sagte zu, bei der Behandlung der Armutsfrage auch diesen Aspekt miteinzubeziehen, und war bereit, die Motion als Postulat entgegenzunehmen, ebenso wie ein ähnlichlautendes Postulat Hildbrand (cvp, VS). Da sowohl die Motion Leuenberger als auch die Vorstösse Bircher und Hildbrand bekämpft wurden, verschob der Nationalrat die Diskussion auf später [15].
1989 hatte der Bundesrat mit Erfolg die Abschwächung einer Motion Gadient (svp, GR), welche eine automatische Ausrichtung der EL an die Anspruchsberechtigten verlangt hatte, in ein Postulat beantragt. Sein Haupteinwand war damals, dies würde zu einer unverhältnismässigen Belastung der Verwaltung führen. Dieses Argument fällt nach Meinung des Nationalrates mit der Steuerharmonisierung weg, weshalb er ein Postulat Zölch (svp, BE) überwies, welches die Regierung auffordert, die Möglichkeiten zu untersuchen, die es erlauben würden, die Berechtigung zum Bezug von EL anhand der Steuererklärung durch die Steuerbeamten zu prüfen [16].
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Konjunkturelle Anpassungen
Aus Gründen des administrativen Aufwandes werden die Renten der AHV/IV und der Unfallversicherung nur alle zwei Jahre der Teuerung angepasst, es sei denn, die Inflation überschreite im Zwischenjahr eine bestimmte Schwelle. Bei der 9. AHV-Revision war diese auf 8% festgesetzt worden. Im Vorjahr jedoch waren Bundesrat und Parlament – angeregt durch eine Intervention des SGB – übereinstimmend zur Ansicht gelangt, diese Schwelle sei zu hoch, weshalb sie auf den 1.1.1991 einen ausserordentlichen Teuerungsausgleich beschlossen hatten. Noch vor Ende 1990 hatte der Bundesrat dem Parlament seine Botschaft für eine Revision von Art. 33ter Absatz 4 des AHVGesetzes und von Art. 34 Absatz 2 des Unfallversicherungsgesetzes zugeleitet. Nach Auffassung des Bundesrates sollte für diese beiden Versicherungen inskünftig eine jährliche Anpassung möglich sein, sobald die Teuerung die Schwelle von 4% überschreitet. Eine Minderheit der vorberatenden Kommission, welche von der SP, den Grünen und der LdU/EVP-Fraktion unterstützt wurde, beantragte eine Senkung auf 3%, konnte sich im Rat aber nicht durchsetzen. Im Ständerat wurde der bundesrätliche Vorschlag diskussionslos und einstimmig angenommen. Keine Chance hatte in beiden Räten eine Standesinitiative des Kantons Baselstadt, welche den Übergang zum jährlichen Teuerungsausgleich verlangte [17].
 
[5] Presse vom 10.7.91. Siehe auch SPJ 1990, S. 218.
[6] BBl, 1991, III, S. 1104 ff.; Presse vom 31.5.91. Zu Lancierung und Inhalt siehe SPJ 1990, S. 217 f.
[7] Amtl. Bull. NR, 1991, S..1980 f.
[8] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1539 f.; SPJ 1990, S. 222.
[9] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 232 ff. Die Vorlage war bereits in den Kommissionsberatungen sehr umstritten: NZZ, 2.2.91; Presse vom 18.3.91. Siehe auch SPJ 1990, S. 220 f.
[10] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 779 ff.
[11]Presse vom 1.5. und 2.5.91; Bund, 2.9.91; SZ, 3.9.91; Presse vorn 11.9.91; SoZ, 15.9.91; BZ, 21.9.91; Frauenfragen, 14/1991, Nr. 2, S. 99 und Nr. 3, S. 64. Siehe auch SPJ 1990, S. 220 f.
[12] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1536 ff.; Presse vom 19.9. und 20.9.91; TA, 28.9.91. In der vorberatenden Kommission war der Antrag auf eine zweistufige Behandlung der Vorlage nur ganz knapp abgelehnt worden (Bund, 1.5.91).
[13] BBl, 1991, I, S. 913 ff.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 285 f. und 340; Amtl. Bull. NR, 1991, S. 524 ff. und 845.
[14] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1540 f.; SPJ 1990, S. 221.
[15] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1328 ff. und 1347 f. Siehe auch SPJ 1990, S. 221. Die Motion Leuenberger wurde von Cincera (fdp, ZH) und Ruf (sd, BE) bekämpft, die beiden CVP-Vorstösse von Allenspach (fdp, ZH).
[16] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1985; Presse vom 12.8.91. NR Zisyadis (pda, VD) reichte eine parl. Initiative für eine automatische Information aller zum Bezug von EL berechtigter Personen ein (Verhandl. B.vers., 1991, Vl, S. 33 f.).
[17] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1530 ff., 1540 und 2529 f.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 1035 ff. und 1103. Siehe auch SPJ 1990, S. 2211 f. Der für 1991 gewährte Teuerungsausgleich betrug 6,25% und wurde in zwei Raten im April und August ausbezahlt (NZZ, 12.1.91; Presse vom 28.2.91). Auf den 1.1.92 erhöhte der BR die Renten um 12,5% (Presse vom 22.8.91).