Année politique Suisse 1993 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Volksrechte
Im Berichtsjahr wurde sechs Referenden gegen Beschlüsse der Bundesversammlung eingereicht (davon zwei gegen Beschlüsse aus dem Jahre 1992). Die Opposition kam dreimal von der linken und ebenfalls dreimal von der rechten Seite des politischen Spektrums. In den drei Fällen, wo die Volksabstimmung noch im gleichen Jahr erfolgte, setzte sich jeweils der Parlamentsbeschluss durch. Das Volk stimmte auch allen sieben Entscheidungen der Bundesversammlung zu, die ihm im Rahmen des obligatorischen Referendums vorgelegt worden sind.
Von den
sechs Volksinitiativen, die im Berichtsjahr zur Abstimmung gelangten, vermochte sich nur eine (1. August) durchzusetzen; die fünf übrigen wurden von Volk und Ständen abgelehnt (Tierschutz, Waffenplätze, Kampfflugzeuge, Alkohol- und Tabakwerbung). Da im gleichen Zeitraum sechs neue Initiativen eingereicht worden sind (Jugend ohne Drogen, Abschaffung der Direkten 'Bundessteuer, pro-EWR, gegen illegale Einwanderung, Wohneigentum und Schutz vor Gentechnologie), betrug die Zahl der zu Jahresende hängigen, d.h. eingereichten, dem Volk aber noch nicht zum Entscheid vorgelegten Volksinitiativen unverändert 16. Neu lanciert wurden im Berichtsjahr sieben Initiativen, wovon eine (pro-EWR) noch vor Jahresende eingereicht werden konnte
[50].
In seiner Antwort auf ein Postulat Caccia (cvp, TI) versicherte der Bundesrat, dass er die Weiterführung der politischen Statistik durch das Bundesamt für Statistik für notwendig erachte
[51].
Auf Antrag seiner Staatspolitischen Kommission beschloss der Nationalrat, einer parlamentarischen Initiative Rebeaud (gp, GE), welche sowohl ein Verbot für den Massenversand von Unterschriftenlisten als auch für die
Entlöhnung von Unterschriftensammlern gefordert hatte, keine Folge zu geben. Beide Vorschläge wurden als nicht praktikabel beurteilt
[52].
Im März befasste sich der Nationalrat mit
Massnahmen gegen die vor allem in grossen Kantonen als zu gross empfundene Anzahl von Listen bei den Nationalratswahlen. Da der Bundesrat in Aussicht gestellt hatte, noch im laufenden Jahr seine Vorschläge für eine Teilrevision des Gesetzes über die politischen Rechte vorzulegen, in welcher auch dieses Thema angeschnitten würde, entschied sich der Nationalrat dafür, einer 1991 eingereichten parlamentarischen Initiative Spoerry (fdp, ZH) keine Folge zu geben. Immerhin verabschiedete er eine Motion, welche generell entsprechende Massnahmen verlangt. Da das in der Initiative Spoerry enthaltene Verbot von Listenunterverbindungen sowohl in der vorberatenden Staatspolitischen Kommission als auch im Plenum stark umstritten war, wurde es im Motionstext lediglich unverbindlich als Möglichkeit aufgeführt. Eine weniger umstrittene Motion des Nationalrats verlangte vom Bundesrat die Staffelung der für die Einreichung eines Wahlvorschlags erforderlichen Unterschriftenzahl nach der Kantonsgrösse
[53].
Am 1. September veröffentlichte der Bundesrat die Botschaft für eine Teilrevision des aus dem Jahre 1976 stammenden Gesetzes über die politischen Rechte. Die Regierung stützte sich bei dieser Reform weitgehend auf Vorschläge, welche das Parlament in den letzten Jahren als Motionen oder Postulate überwiesen hatte. Grundlegende Änderungen werden jedoch keine angestrebt. Es ist insbesondere vorgesehen, gewissen Vollzugsschwierigkeiten zu begegnen, welche bei den Nationalratswahlen vor allem in den grossen Kantonen Bern und Zürich infolge der wachsenden Zahl von Listen und Kandidierenden aufgetreten waren. Engpässe wurden dabei bei der effizienten Ermittlung der Resultate ausgemacht. Probleme ergaben sich aber auch wegen der Verpflichtung der Behörden, sämtliche Listen zu drukken und zu verteilen. Der Bundesrat schlug deshalb vor, die Einreichung von sogenannten Juxlisten, welche zum vorneherein keine Wahlchancen haben, zu erschweren. Dazu soll die für die Anmeldung einer Liste erforderliche Zahl der Unterzeichner nach Kantonen abgestuft und für die grössten sechs von heute 50 auf maximal 200 erhöht werden. Zudem sollen die Verantwortlichen für Listen, welche nur eine sehr geringe Stimmenzahl erzielt haben, an den Druckkosten beteiligt werden. Unterlistenverbindungen möchte der Bundesrat in Zukunft verbieten, obwohl die Reaktion auf diesen Vorschlag in der Vernehmlassung mehrheitlich negativ ausgefallen war.
Um auf unnötige Wahlgänge zu verzichten, sollen in Kantonen mit nur einem Mandat die Nationalratswahlen auch still durchgeführt werden können. Die briefliche Stimmabgabe soll, wie sie in vielen Kantonen bereits praktiziert wird, voraussetzungslos möglich werden. Weil die grosse Flut von Listen und Kandidaturen es der Bundeskanzlei immer schwieriger machen, das Ergebnis der Nationalratswahlen vom zweitletzten Oktobersonntag bis zum Beginn der ordentlichen Wintersession Anfangs Dezember zu erwahren, möchte der Bundesrat zudem die Legislatureröffnungssession auf den Januar verschieben.
Auch im Bereich der direktdemokratischen Instrumente werden einige Änderungen vorgeschlagen. So sollen Volksinitiativen schneller behandelt werden. Während bisher dem Bundesrat und dem Parlament bei ausformulierten Begehren vier Jahre bis zum Beschluss über die Empfehlung zustanden, sollen sie neu spätestens drei Jahre nach ihrer Einreichung zur Volksabstimmung kommen. Bei Referenden schlägt der Bundesrat eine Verlängerung der Frist für das Sammeln von Unterschriften von 90 auf 100 Tage vor, will aber die Möglichkeit einer nachträglichen Beglaubigung der Unterschriften abschaffen.
Auf andere, ebenfalls vom Parlament angeregte Neuerungen, wie zum Beispiel die Offenlegungspflicht für die Finanzierung von Wahlkampagnen, die Entrichtung von Beiträgen an die Parteien für Kampagnekosten oder die Reglemetierung von Meinungsumfragen im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen, verzichtete der Bundesrat in seiner Botschaft
[54].
Die Staatspolitische Kommission des
Nationalrats beantragte dem Plenum, die unbestrittenen Punkte der Vorlage bereits in der Dezembersession zu behandeln, um sie noch auf die nächsten Nationalratswahlen in Kraft treten zu lassen. Der Rat beschloss jedoch auf Antrag von Spoerry (fdp, ZH) und Iten (cvp, NW) und gegen den Widerstand der Linken und der Grünen, sich nicht auf die formalen Änderungen zu beschränken, sondern auch die umstrittenen Massnahmen gegen Juxlisten und Unterlistenverbindungen in die Beratung zu ziehen. In der Detailberatung folgte der Rat den Vorschlägen des Bundesrates sowohl für eine Erhöhung der Unterschriftenzahl für die Einreichung von Wahllisten in den grossen Kantonen als auch für die Druckkostenbeteiligung für erfolglose Listen. An dem von SP und GP bekämpften
Verbot von Unter-Unterlistenlistenverbindung hielt der Rat fest. Hingegen beschloss er auf Antrag seiner Kommission und gegen den Widerstand der AP, dass Unterlistenverbindungen für Gruppen gleichen Namens, die sich in bezug auf Geschlecht, Region oder Alter abgrenzen, weiterhin erlaubt sein sollen. Das revidierte Gesetz wurde gegen den Widerstand der SP, der GP und den Fraktionen LdU/EVP und SD/Lega zuhanden des Ständerats verabschiedet
[55].
Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats veröffentlichte ihren Bericht zur parlamentarischen Initiative Zwingli (fdp, SG) für ein
Verbot von rückwirkenden Bestimmungen in Volksinitiativen. Die Kommissionsmehrheit beantragte, durch eine Revision von Art. 121 BV derartige Bestimmungen zu verbieten, da diese rechtsgültige Entscheide annullierten und damit die Rechtssicherheit gefährdeten. Eine praktisch gleich starke Minderheit sprach sich für die Beibehaltung der bisherigen liberalen Praxis aus. Ein Grund, weshalb Volksinitiativen in letzter Zeit oft mit Rückwirkungsklauseln versehen waren, bestand darin, dass sich nach Ansicht der Initianten die Behandlung ihres Begehrens ungebührlich verzögert hat. In der Kommission war der Antrag unbestritten, dass die maximale Behandlungsfrist für Volksinitiativen nicht mehr bis zum Abschluss der parlamentarischen Behandlung, sondern bis zur Volksabstimmung vier Jahre betragen soll. Der Bundesrat stellte sich in seiner Stellungnahme in bezug auf die Rückwirkung hinter den Nichteintretensantrag der Minderheit und schlug zudem vor, die Behandlungsfristen nicht auf Verfassungsstufe sondern im Rahmen der Revision des Gesetzes über die politischen Rechte zu regeln (s. oben)
[56].
Im
Nationalrat plädierten die Fraktionen der SP, der Grünen, von LdU/EVP und der SD/Lega sowie auch Bundeskanzler Couchepin im Namen des Bundesrates für Nichteintreten, blieben aber mit 95:69 Stimmen in der Minderheit. In der Detailberatung stimmte der Rat dem Verbot der Rückwirkungsklauseln zu. In bezug auf die maximale Behandlungsfrist für Initiativen beschränkte er sich darauf, in die Verfassung nur das Prinzip aufzunehmen, die Bestimmung dieser Frist jedoch dem Ausführungsgesetz zu überlassen
[57].
Die
Staatspolitische Kommission des Ständerats beschloss mit 6 zu 3 Stimmen, dem Plenum Nichteintreten auf das vom Nationalrat beschlossenen Verbot der Rückwirkung zu beantragen. Ein gewisser Handlungsbedarf ist allerdings auch für die Kommission gegeben, unter anderem auch bei der Behandlung von Initiativen, welche völkerrechtliche Verpflichtungen tangieren. Sie reichte deshalb eine Motion für eine umfassende Regelung der Gültigkeit von Volksinitiativen ein
[58].
Aus den Reihen der nationalrätlichen Gegner eines Verbots von rückwirkenden Bestimmungen wurde der Vorschlag gemacht, dass Geschäftsverkehrsgesetz dahingehend zu ändern, dass die Bundesversammlung auch Verwaltungsakte von ausserordentlicher Tragweite wieder in der Form eines referendumsfähigen allgemeinverbindlichen Bundesbeschlusses verabschieden kann, wie dies bis 1962 möglich war. Die Fronten im Nationalrat waren dieselben wie in der Frage des Verbots rückwirkender Bestimmungen: die bürgerliche Mehrheit lehnte die mit einer parlamentarischen Initiative Rechsteiner (sp, SG) angestrebte Erweiterung der direktdemokratischen Rechte ab
[59].
Der Nationalrat lehnte auf Antrag einer Mehrheit seiner Staatspolitischen Kommission auch die beiden parlamentarischen Initiativen Rychen und Seiler (beide svp, BE) für eine
Erhöhung der Unterschriftenzahl bei Referenden resp. Volksinitiativen ab. Hauptargument für die Initianten, die auch von den Mehrheiten der Fraktionen der FDP, der CVP und der SVP unterstützt wurden, war die Tatsache, dass seit der Einführung dieser Instrumente der geforderte Anteil der Unterzeichnenden am Total der Stimmberechtigten von 4,6% auf 1,1% (Referendum) resp. von 7,7 % auf 2,2% (Initiative) abgesunken ist
[60].
Im
Kanton Bern hiess das Volk in einer Variantenabstimmung zur neuen Kantonsverfassung die
Einführung des Konstruktiven Referendums gut. In Zukunft werden damit Referendumskomitees nicht bloss eine Volksabstimmung über einen Parlamentsbeschluss verlangen, sondern diesem auch einen konkreten Gegenvorschlag gegenüberstellen können
[61].
Im schweizerischen politischen System mit seiner Mischung aus direktdemokratischen und föderalistischen Elementen besteht die
Möglichkeit, dass bei Volksabstimmungen Volks- und Ständemehr differieren. Um dieses Risiko zu verringern, und um zudem den Machtzuwachs zu korrigieren, der sich im Laufe der Zeit zugunsten von kleinen Kantonen mit geringem Bevölkerungswachstum ergeben hat, schlug Leni Robert (gp, BE) mit einer parlamentarischen Initiative vor, dass ein Volksmehr nur durch ein qualifiziertes Ständemehr von 15,5 Kantonen zu Fall gebracht werden kann. Die Mehrheit der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats lehnte diesen Vorstoss ab, da er dem in der Bundesverfassung von 1848 garantierten föderalistischen Prinzip widerspreche. Zudem besteht nach Meinung der Kommission auch kein Handlungsbedarf, sind doch bisher derartige divergierende Mehrheiten erst sechsmal vorgekommen (zuletzt 1983 beim Energieartikel). Der Nationalrat beschloss mit 99:52 Stimmen, der Initiative keine Folge zu geben
[62].
Der Nationalrat übernahm auch die Argumentation seiner Staatsrechtlichen Kommission, wonach es sich bei der Bestimmung von Art. 75 BV, dass für den Nationalrat nur Personen "weltlichen Standes", d.h.
keine Geistlichen wählbar sind, um ein sinnentleertes Relikt aus dem letzten Jahrhundert handle. Er stimmte oppositionslos dem Antrag zu, der im Vorjahr eingereichten parlamentarischen Initiative Sieber (evp, ZH) Folge zu geben und damit die Kommission zu beauftragen, eine Vorlage zur Streichung dieses Passus auszuarbeiten
[63].
[50] Gesch.ber. 1993, S. 7 ff.; wf, Initiativen + Referenden, Zürich 1994. Zu den einzelnen Volksabstimmungen, Initiativen und Referenden siehe die Tabelle im Anhang (
anhang_1993.pdf) sowie die entsprechenden Sachkapitel.
[51] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 919 f.
[52] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 531 ff. Vgl. SPJ 1992, S. 42.
[53] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 537 ff.; Presse vom 20.3.93. Vgl. SPJ 1992, S. 42 f.
[54] BBl, 1993, III, S. 445 ff.; Presse vom 2.9.93. Vgl. SPJ 1990, S. 46 und 1991, S. 48. Zum Verzicht auf Publikationsvorschriften für Meinungsumfragen vgl. auch die Interpellation Büttiker (fdp, SO) in Amtl. Bull. StR, 1993, S. 418 ff. sowie LNN, 11.12.93. Zur brieflichen Stimmabgabe siehe auch TA, 10.11.93; NZZ, 18.11.93.
[55] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 2323 ff. und 2467 ff.; Bund, 13.12. und 14.12.93.
[56] BBl, 1993, Il, S. 204 ff. und 222 ff.; Presse vom 8.4.93; Bund, 27.4.93. Vgl. SPJ 1992, S. 41 f. Siehe auch Lit. Graf und Wili.
[57] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 793 ff. und 818 ff.; Presse vom 29.4.93.
[59] BBl, 1993, II, S. 204 ff. und 222 ff.; Amtl. Bull. NR, 1993, S. 821 ff. Vgl. SPJ 1992, S. 42.
[60] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1293 ff. und 1342 ff.; BZ, 17.6.93; Presse vom 18.6.93. Vgl. SPJ 1992, S. 42.
[61] Vgl. dazu unten, Teil II, 1a. Siehe auch SPJ 1992, S. 41 sowie Lit. Bolz und Longchamp.
[62] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1918 ff. Bereits 1975 war ein ähnlicher Vorstoss Jaeger (Idu, SG) im NR gescheitert (SPJ 1975, S. 23). Vgl. auch BaZ, 24.6.93.
[63] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 526 ff.; NQ, 20.3.93. Vgl. SPJ 1992, S. 43 und NZZ, 16.3.93 sowie unten, Teil I, 8b (Kirchen).
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