Année politique Suisse 1993 : Allgemeine Chronik / Landesverteidigung
Militärorganisation
Anfangs September stellte Bundesrat Villiger das
neue Militärgesetz, welches das Gesetz über die Militärorganisation von 1907 ablösen soll, sowie den neuen revidierten Bundesbeschluss über die Armeeorganisation vor. Um die verjüngte, verkleinerte und flexiblere "
Armee 95" termingerecht realisieren zu können, leitete die Regierung dem Parlament jedoch nur die dringlichen und unbestrittenen Eckwerte in zwei befristeten Bundesbeschlüssen über Realisierung und Organisation der Armee zu, nämlich die
Herabsetzung des Wehrpflichtalters auf 42 Jahre, die Verkürzung der Dienstzeit auf 300 Tage, den Zweijahresrythmus für die Wiederholungskurse, den Sollbestand von höchstens 400 000 Mann, die Aufstellung mechanisierter Brigaden und die Auflösung der bisherigen Grenzbrigaden. Die beiden Bundesbeschlüsse wurden von der kleinen Kammer in der Wintersession ohne Gegenstimme angenommen. Alle möglicherweise referendumsträchtigen Punkte — so etwa die Regelung des Ordnungs-, Friedensförderungs- und Assistenzdienstes, die Schaffung einer Ombudsstelle, der Zwang zum "Weitermachen" oder die Weiterführung der ausserdienstlichen Schiesspflicht — wurden auf später verschoben
[20].
Als Vorleistung zum Umbau der "Armee 61" zur "Armee 95" gab das Parlament dem Bundesrat einstimmig die Kompetenz, ab dem 31. Dezember des Berichtsjahres die
frühzeitige Entlassung von 200 000 Angehörigen der Armee im Landsturmalter und deren Übertritt in den Zivilschutzdienst gestaffelt vorzunehmen. Ausgenommen von der vorzeitigen Entlassung bleiben Stabs- und Fachoffiziere
[21].
Den Angehörigen der "Armee 95" soll auch ein
neues Dienstreglement abgegeben werden. Im Oktober gab das EMD seinen 112 Artikel umfassenden Entwurf in eine erste Vernehmlassung. Ziel dieser revidierten Charta ist es, neben den Pflichten auch die Rechte der Wehrmänner zu betonen. Selbständigkeit und Eigenverantwortung werden als unverzichtbare Gegenstücke zu Befehl und Disziplin verstanden
[22].
Im Bestreben, die
Truppeninformation in der "Armee 95" zu verbessern, hiess das EMD die Leitlinien für ein neues Konzept des Truppeninformationsdienstes (TID) gut, welches vorsieht, dass Kommunikationsschulung fester Bestandteil der Kaderausbildung wird. Die Information der Armeeangehörigen wird zur permanenten Führungsaufgabe erklärt, weshalb die Einheitskommandanten bei ihren Informations- und Kommunikationsaufgaben professionell unterstützt werden sollen. Kernstück der Reform des TID ist ein neu aufzustellender Verband mit Spezialisten aus den Ressorts Dokumentation, Information und Kommunikationsschulung, um so vermehrt ziviles Wissen zu nutzen
[23].
Erstmals wurden an verschiedenen Orten in der Schweiz
gemischtgeschlechtliche Rekrutenschulen durchgeführt. In Burgdorf (BE) wurden junge Frauen an der Seite ihrer männlichen Kameraden zu Fahrerinnen für leichte Motorfahrzeuge ausgebildet, in Bülach (ZH) rückten weibliche Übermittlungstruppen ein. Zudem können die MFD-Angehörigen seit dem Berichtsjahr das Tragen einer Waffe beantragen. 50% der diensttuenden Frauen und 90% der Rekrutinnen stellten einen entsprechenden Antrag
[24].
In Locarno-Magadino (TI) wurden
erstmals Frauen zu einer Militärpiloten-RS inklusive Unteroffiziersschule zugelassen. Die Frauen erhielten innerhalb von 18 Wochen die gleiche Fliegerausbildung auf PC-7-Maschinen wie ihre männlichen Kollegen. Nach einer weiteren Ausbildungsphase werden die Frauen vorerst nur Transporthelikopter fliegen, da sie laut Militärgesetz nicht bei Kampfhandlungen eingesetzt werden dürfen
[25].
In Ausführung einer 1991 von beiden Kammern angenommenen Standesinitiative des Kantons Jura betreffend Abschaffung des Militärpflichtersatzes für Invalide legte der Bundesrat dem Parlament seinen
Vorschlag für eine entsprechende Gesetzesrevision vor. Anders als der Initiativtext wollte er die Befreiung jedoch nicht generell gewähren, sondern nur grosszügigere Berechnungskriterien einführen. So sollte der Militärpflichtersatz entfallen, wenn die Einkünfte des Behinderten das betreibungsrechtliche Minimum um nicht mehr als 100% übersteigen (bisher 50%). Für die weiterhin ersatzpflichtigen Behinderten wollte der Bundesrat die Abgabe um die Hälfte reduzieren, das Minimum jedoch von 120 auf 150 Fr. anheben
[26].
Die Argumentation des Bundesrates, eine völlige Befreiung der Invaliden würde de facto zur Aufgabe des Militärpflichtersatzes führen, da damit jede Dienstuntauglichkeit im weitesten Sinn als Invalidität qualifiziert werden könnte, stiess bei den Behindertenorganisationen auf Unverständnis. Sie verlangten, dass für die Erlassung des Militärpflichtersatzes nicht eine Einkommenslimite festgesetzt, sondern eine Liste jener Gebrechen erstellt werde, die Anrecht auf Befreiung geben. Schliesslich sei es ja das Militär, welches die Invaliden aufgrund ihrer Behinderung ausgrenze. Stossend sei auch, dass Gruppen wie Parlamentarier, Bahn-, Zoll- und Polizeibeamte, Spital- und Gefängnisverwalter sowie Pfarrer ohne Massgabe ihres Einkommens befreit seien, die Forderung der Behinderten aber mit Verweis auf den Wehr- und Gleichheitsartikel der Verfassung abgeschlagen werde
[27].
Der
Ständerat schlug einen Mittelweg ein. Er lehnte eine generelle Befreiung, wie sie ein Antrag Plattner (sp, BS) verlangte, zwar ebenfalls ab, wählte als Abgrenzungskriterium jedoch zusätzlich den Bezug einer Invalidenrente oder Hilflosenentschädigung, um sicherzustellen, dass inskünftig nur noch leichter Behinderte in gutsituierten Verhältnissen eine Ersatzabgabe leisten müssen. Für Bund und Kantone würde die neue Regelung jährliche Mindereinnahmen von fünf bis zehn Mio Fr. bedeuten
[28].
Linksgerichtete Kreise aus der Romandie — unter ihnen alt Nationalrätin Françoise Pitteloud (sp, VD) und Nationalrat Jean Ziegler (sp, GE) — starteten eine
Volksinitiative für "eine Schweiz ohne Militärpflichtersatz". Das Volksbegehren, welches die Unterstützung der GSoA und der Genfer SP geniesst, visiert nicht nur die Behinderten, sondern alle an, die — aus welchen Gründen auch immer — keinen Militär- oder Ersatzdienst leisten, und versteht sich als Beitrag zu einer Entmilitarisierung der Schweiz
[29].
Der Bundesrat berief den St. Galler CVPStänderat Paul Gemperli zum neuen Präsidenten des Rates für Gesamtverteidigung. Er löste alt Ständerat François Jeanneret (lp, NE) an der Spitze dieses 21köpfigen Beratungsorgans zu Fragen der Sicherheitspolitik ab
[30].
Primär aus gesundheitlichen Gründen reichte Divisionär Walter Keller, Waffenchef und Direktor des Bundesamtes für Mechanisierte und Leichte Truppen, seinen vorzeitigen Rücktritt ein. In der Vergangenheit hatte Keller verschiedentlich seine Skepsis gegenüber dem Truppenabbau im Rahmen von "Armee 95" ausgedrückt. Der Bundesrat bestimmte Divisionär Claude Weber, bisher Kommandant der Mechanisierten Division 1, zu seinem Nachfolger
[31].
Zeitungsmeldungen, wonach die Armee inskünftig die Rekruten in leistungsfähige und -willige A- und weniger begabte bzw. motivierte B-Soldaten einzuteilen gedenke, wurden vom Ausbildungschef der Armee, Jean-Rodolphe Christen, dementiert. Dennoch will die Armee analog zum zivilen Ausbildungsbereich in Zukunft gute Leistungen besser honorieren und Spezialisten vermehrt fördern. Als Beispiel nannte Christen das Pilotprojekte "Gebirgsspezialisten-RS", welches Ende Winter in Andermatt anlief
[32].
Der schwere
Handgranatenunfall vom Juli 1992 in einer RS in Luzern, bei dem zwei Korporale das Leben verloren, ist auf menschliches Versagen zurückzuführen. Der militärische Untersuchungsrichter schloss in seinem Schlussbericht technische Defekte aus. Direkt nach dem Unfall hatte der Ausbildungschef der Armee den Einsatz der beiden beteiligten Granaten EUHG 85 (Übungsmunition) und HG 85 (Kriegsmunition) gestoppt und die EUHG 85 erst nach einem Zwischenbericht, welcher einen technischen Defekt mit hoher Wahrscheinlichkeit ausschloss, wieder freigegeben. Die HG 85 wird aber auch nach Vorliegen des Schlussberichts in der Ausbildung nicht mehr verwendet
[33].
Im März ereigneten sich erneut zwei Unfälle mit einer EUHG 85, einer davon mit tödlichem Ausgang für einen WK-Soldaten. Der andere Unfall geschah während eines Theoriekurses für Berufsmilitär. Einer der Teilnehmer manipulierte eine EUHG 85 in der Meinung, es handle sich um ein inaktives Ausstellungsmodell. Der Ausbildungschef der Armee verbot daraufhin die Verwendung der EUHG 85 für die theoretische Ausbildung. Von einem generellen Moratorium für den Einsatz dieser Granate, wie dies die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrates diskutiert hatte, wollte er allerdings absehen. Die Kommission für militärische Landesverteidigung stützte den Entscheid des Ausbildungschefs. Auch die Sicherheitspolitische Kommission der grossen Kammer schloss sich schliesslich dieser Sicht der Dinge an
[34].
Nach einjährigem Bestehen konnte das "
RS-Sorgentelefon" eine erste Bilanz ziehen. Rund 150 Rekruten oder Angehörige ersuchten in diesem Zeitraum um Hilfe und Auskunft. Bei den geschilderten Problemen stand offenbar der Zwang zum "Weitermachen" im Vordergrund. Das Sorgentelefon soll bis zur Errichtung einer Ombudsstelle weitergeführt werden
[35].
Die
Soldatenkomitees (SK), die während rund 20 Jahren den "direkten Widerstand in der Armee" gefördert hatten, lösten sich mangels Perspektive in ihrer bisherigen Form auf. Die ersten SK wurden zu Beginn der siebziger Jahre gegründet. Ihre Aktivisten trugen "Missstände" in der Armee an die Öffentlichkeit und organisierten Aktionen zum Beispiel für die Fünftagewoche, für mehr Ausgang und gegen den Zwang zum "Weitermachen". Sehr aktiv waren die SK auch zu Beginn der achtziger Jahre. Als zentrales Anliegen wurde nun die Abschaffung des Wachdienstes mit Kampfmunition bezeichnet. Mitte der achtziger Jahre wurde es ruhiger um die SK; schliesslich überlebten nur die Organisationen in Basel, Bern und Zürich
[36].
[20] BBl, 1993, IV, S. 1 ff.; Amtl. Bull. StR, 1993, S. 1107 ff.; Presse vom 9.9. und 17.12.93.
[21] BBl, 1993, I, S. 749 ff. und 1048 ff.; Amtl. Bull. StR, 1993, S. 69 f. und 233; Amtl. Bull. NR, 1993, S. 469 ff. und 640.
[22] Presse yom 12.10.93.
[24] NZZ, 2.3.93; CdT, 5.3.93; Presse vom 12.3.93; TA, 15.4.93. Ab 1994 sollen auch gemischte Unteroffiziersschulen eingeführt werden (Bund, 13.5.93).
[25] TA, 15.4.93; NQ, 19.5.93; Presse vom 24.9.93.
[26] BBl, 1993, II, S. 730 ff. Siehe auch SPJ 1991, S. 102 und 256 sowie 1992, S. 95.
[28] Amtl. Bull. StR, 1993, S. 775 ff.
[29] BBl, 1993, I, S. 1594.
[31] NQ, 7.2.93; Bund, 15.6.93.
[32] Presse vom 10.4. und 5.5.93; NZZ, 13.4.93.
[34] Presse vom 23.3.-27.3.93. SPK-NR: Amtl. Bull. NR, S. 2509 f.
[35] Bund, 23.4.93. Siehe auch SPJ 1992, S. 95. Im April bekam das "RS-Sorgentelefon" zivile Konkurrenz, als kirchliche Kreise, Jugendorganisationen und Beratungsstellen für Militärverweigerer ein eigenes Kontakttelefon einrichteten (Bund, 9.7.93).
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