Année politique Suisse 1994 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Regierung
Die dreifache Niederlage des Bundesrates - und des Parlaments - in der Volksabstimmung vom 12. Juni intensivierte die v.a. nach der gescheiterten EWR-Politik aufgekommene Diskussion darüber, inwiefern der Bundesrat noch das Vertrauen einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger geniesse. Die Vox-Befragung nach der Volksabstimmung vom Juni zeigte, dass das
Misstrauen in den Bundesrat heute vor allem bei der älteren Landbevölkerung - und dort insbesondere bei den Bauern - am stärksten verbreitet ist
[1]. Auch der Bundesrat selbst befasste sich mit diesem Thema und nahm sich vor, mit einer besseren Informationspolitik, klareren inhaltlichen Schwerpunkten und einer engeren politischen Einbindung aller Bundesratsparteien Glaubwürdigkeit und Vertrauen zurückzugewinnen
[2].
Die letztjährige, recht turbulent verlaufene Ersatzwahl für den Bundesrat hatte zur Einreichung von verschiedenen parlamentarischen Vorstössen bezüglich des Wahlverfahrens geführt
[3].
Der Bundesrat veröffentlichte seine Stellungnahme zum Vorschlag der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats, die Verfassungsbestimmung, wonach
nicht zwei Mitglieder der Landesregierung aus dem
selben Kanton stammen dürfen, ersatzlos zu streichen. Er sprach sich gegen diese Neuerung aus. Dabei stützte er sich vor allem auf eine Vernehmlassung, welche ergeben hatte, dass sich von den nicht deutschsprachigen Kantonen nur gerade Genf dafür ausgesprochen hatte. Die Nationalratskommission zog aus der Vernehmlassung gegenteilige Schlüsse. Da eine deutliche Mehrheit der Kantone die Neuerung begrüsst hatte, beschloss sie, dem Plenum die Streichung der Kantonsklausel zu beantragen
[4].
Auf keine Gegenliebe stiess bei der Vereinigten Bundesversammlung die Forderung der Grünen Robert (BE), dass analog zu Sachabstimmungen auch die
Wahlen mit
offener Stimmabgabe durchgeführt werden können. Keine Zustimmung fand aber auch der Vorschlag Guinands (lp, VD) für eine Einschränkung der Wahlmöglichkeiten in dem Sinne, dass nur eine Woche im voraus angemeldete Kandidierende wählbar sein sollen
[5].
Der Nationalrat lehnte auf Antrag seiner Staatspolitischen Kommission ebenfalls die beiden parlamentarischen Initiativen Hämmerle (sp, GR) und Robert (gp, BE) für eine
Volkswahl des Bundesrates - mit Quoten für Geschlechter und Sprachgebiete - mit deutlichem Mehr ab. Die Kommission begründete ihren Antrag einerseits mit den technischen Problemen, die bei der Erfüllung der Quoten auftreten würden. Zusätzlich formulierte sie aber auch Bedenken hinsichtlich der Auswirkungen einer Volkswahl auf die politische Kultur. Sie befürchtete insbesondere, dass damit die Personalisierung der Politik und der Trend zu populistischen Propagandakampagnen noch verstärkt würden
[6].
Keinen Erfolg hatte auch die parlamentarische Initiative von Bär (gp, BE) für eine verfassungsmässig garantierte
"angemessene" Vertretung beider Geschlechter in der Landesregierung. Eine knappe Mehrheit der vorberatenden Kommission schlug dem Nationalrat vor, dem Vorstoss keine Folge zu geben. Gegen die Stimmen der SP, der GP und Teilen der LdU/EVP-Fraktion und der CVP schloss sich das Plenum mit 93:53 Stimmen diesem Antrag an
[7].
Am 7. Dezember wählte die Vereinigte Bundesversammlung
Kaspar Villiger mit 186 Stimmen (bei einem Mehr von 101) zum
Bundespräsidenten für 1995. Zum Vizepräsidenten wurde mit 170 Stimmen Jean-Pascal Delamuraz gewählt
[8].
Der
Ständerat befasste sich als erster mit den Vorschlägen des Bundesrats für die "Regierungsreform 93". Die vorberatende Kommission unterstützte das Projekt grundsätzlich, beantragte jedoch beim Kernpunkt der Vorlage, der Schaffung von zusätzlichen
Staatssekretärposten, zwei wichtige Änderungen: Deren Zahl soll
von maximal 21 auf 10 reduziert und ihre Wahl durch die Bundesversammlung bestätigt werden. Den ersten Antrag begründete sie mit dem Risiko eines Referendums infolge der entstehenden Kosten, den zweiten mit dem politischen Gewicht, das Staatssekretäre haben müssen, um den Bundesrat im Parlament und in aussenpolitischen Verhandlungen spürbar entlasten zu können. Im Plenum unterlag Zimmerli (svp, BE) mit seiner grundsätzlichen Opposition gegen die Schaffung von zusätzlichen Staatssekretärposten. Seiner Ansicht nach würde damit die Fortsetzung der Reform in Richtung eines zweistufigen Regierungskabinetts und zuungunsten der von ihm vorgezogenen Heraufsetzung der Zahl der Bundesräte präjudiziert. Die Zahl der Staatssekretäre wurde auf zehn begrenzt und mit Zweidrittelsmehrheit gegen den Widerstand des Bundesrates auch die Wahlbestätigung durch die Bundesversammlung eingeführt. Gegen den Willen des Bundesrats verbot die kleine Kammer im weiteren die Stimmenthaltung bei Abstimmungen in Bundesratssitzungen; diese Regel besteht auch in Kantonsregierungen und Richterkollegien. Die Neuerung, dass der Bundesrat über die Organisation der Departemente selbst entscheiden kann, blieb unbestritten. In der Gesamtabstimmung nahm der Rat die Reform mit 21 zu 3 Stimmen an
[9].
Um zu unterstreichen, dass für ihn damit die Bemühungen um eine
Regierungsreform
nicht abgeschlossen sind, entsprach der Ständerat anschliessend dem Wunsch des Bundesrats nicht, zwei 1991 überwiesene Motionen der FDP-Fraktion und von Kühne (cvp, SG) für eine Regierungsreform als erfüllt abzuschreiben. Gleichzeitig verlängerte er die Frist für die Bearbeitung der überwiesenen parlamentarischen Initiative Rhinow (fdp, BL), um gegebenenfalls die Reformarbeiten in eigener Regie weiterführen zu können
[10].
Anlässlich der Beratungen der Staatspolitischen
Kommission des Nationalrats drohte Steinemann (fp, SG) mit einem Referendum gegen die Einführung von zusätzlichen Staatssekretären. Um auf jeden Fall die Verlagerung der Organisationskompetenz vom Parlament auf den Bundesrat unbeschädigt über die Runden zu bringen, schlug die SP-Fraktion deshalb eine
Aufteilung der Vorlage vor. Die Spitzen der drei anderen Regierungsparteien schlossen sich dieser Forderung an. Die Kommission verweigerte allerdings den Gehorsam und beschloss, das Paket dem Plenum als Ganzes vorzulegen. Sie lehnte auch den Antrag auf den Verzicht auf die zusätzlichen Staatssekretärposten deutlich ab und folgte in der Frage ihrer parlamentarischen Bestätigung dem Ständerat
[11].
Kantone, Parteien und Verbände beklagten sich in letzter Zeit oft über die grosse Anzahl von Vorlagen, zu denen sie im Rahmen des
Vernehmlassungsverfahrens Stellung nehmen sollen. Immer häufiger mussten sie den Bundesrat um eine Fristverlängerung ersuchen. Der Nationalrat überwies nun diskussionslos ein Postulat Leuba (lp, VD), welches eine Praxisänderung anregt. Eine Vernehmlassung soll - wie in der entsprechenden Verordnung eigentlich vorgesehen - nur noch bei Fragen von erheblicher politischer Bedeutung durchgeführt werden. Die daraus resultierende Reduktion der Zahl der Vernehmlassungen sollten es der Bundesverwaltung erlauben, die strikte Einhaltung der vorgesehenen Dauer von drei Monaten zu verlangen
[12].
[1]
TA, 15.6.94;
NZZ, 18.6.94 (Studie von C. Longchamp); Presse vom 22.6.94; B. Wernli / P. Sciarini / J. Barranco,
Analyse der eidgenössischen Abstimmungen vom 12.Juni 1994, VOX Nr. 53, Adliswil/Bern 1994.1
[2]
Bund, 22.6.94; Presse vom 30.6.94.2
[3] Vgl.
SPJ 1993, S. 33 ff.3
[4]
BBl, 1994, III, S. 1370 ff.;
NZZ, 20.1.94;
BaZ, 26.3. und 14.6.94 (Vernehmlassung);
NZZ, 2.7.94. Vgl.
SPJ 1993, S. 35.4
[5]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1992 ff. resp. 1994 f.5
[6]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1850 ff.6
[7]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1853 ff. Vgl. auch
Bund, 3.3.94;
TA, 8.3.94. Zu der im Vorjahr lancierten Quoteninitiative, für welche die Sammelfrist noch nicht abgelaufen ist, siehe
WoZ, 6.5.94;
Bund, 8.10. und 11.11.94;
DAZ, 22.12.94.7
[8]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 2571; Presse vom 7.12. und 8.12.94. Vgl. auch die Interviews mit Villiger in
LZ und
NZZ, 31.12.94.8
[9]
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 143 ff.; Presse vom 10.3.94. Vgl.
SPJ 1993, S. 35 f.9
[10]
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 180 f. Vgl.
SPJ 1991, S. 35.10
[11]
BaZ, 28.9.94 (SP);
SGT, 12.11.94 (Regierungsparteien);
SoZ, 18.12.94 und
NZZ, 27.8.94 (Kommission).11
[12]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 603 f. Vgl. dazu auch
Bund, 25.1.94.12
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