Année politique Suisse 1995 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Parlament
Am 4. Dezember trat das am 22. Oktober neu gewählte Parlament zu seiner konstituierenden Sitzung zusammen. Die Wahlen und die neue Zusammensetzung des Parlaments werden ausführlich unten, Teil I, 1e (Eidgenössische Wahlen) dargestellt. Mit der Eröffnung der 45. Legislatur wurde auch von der bisherigen Sitzordnung im Nationalrat Abstand genommen. Die Abgeordneten sitzen neu nicht mehr nach Sprachgruppen, sondern ausschliesslich nach Parteizugehörigkeit beieinander [36].
top
 
print
Parlamentsreform
Mit der Einführung der ständigen Kommissionen im Rahmen der Parlamentsreform 1991 war auch festgelegt worden, dass pro Fraktion zum voraus eine beschränkte Anzahl Stellvertreter zu benennen sind. Diese Regelung wurde nun als zu starr kritisiert. Auf Antrag seines Büros beschloss der Nationalrat, diese Vorschrift in seinem Geschäftsreglement wieder aufzuheben und den Fraktionen zu erlauben, bei der Verhinderung eines ihrer Kommissionsmitglieder den Stellvertreter frei zu bestimmen [37].
top
 
print
Immunität
Die im Vorjahr vom Ständerat in Ausführung einer parlamentarischen Initiative Rüesch (fdp, SG) beschlossene präzisierende Einschränkung des Immunitätsprivilegs für Aktivitäten ausserhalb des Parlaments (relative Immunität) fand im Nationalrat keine Zustimmung. Nach dessen Ansicht, die anschliessend auch vom Ständerat übernommen wurde, besteht diesbezüglich zur Zeit kein Regelungsbedarf [38].
Einmal mehr hatte sich das Parlament mit einem Begehren eines Untersuchungsrichters um die Aufhebung der Immunität von Nationalrat Jean Ziegler (sp, GE) zu befassen. Eine Tessiner Finanzfirma hatte Ziegler eingeklagt, sie im Rahmen einer Fernsehsendung kreditschädigend und verleumderisch angegriffen zu haben. Die Kommissionen beider Räte vermochten einen Zusammenhang zwischen Zieglers Abgeordnetentätigkeit und seinen Äusserungen im Fernsehen auszumachen und sprachen sich deshalb für die Ablehnung des Gesuchs aus. Diskussionslos folgten beide Kammern diesem Antrag [39].
top
 
print
Infrastrukturen
Die im Zusammenhang mit der Einführung des elektronischen Abstimmungssystems aufgetauchten Fragen wurden bereinigt. Der Nationalrat stimmte dem Antrag seines Büros zu, dass Namenslisten weiterhin nicht für sämtliche Abstimmungen ausgedruckt werden sollen. Im weiteren hiess er die neue Sanktionsmöglichkeit des Verweises bei ungebührlichem Verhalten gut [40].
top
 
print
Instrumente
In Ausführung einer im Vorjahr als Postulat überwiesenen Motion Dettling (fdp, SZ) machte das Büro des Nationalrats den Vorschlag, dass das Parlament Berichte des Bundesrates (z.B. zur Aussenpolitik) nicht nur zurückweisen oder zur Kenntnis nehmen kann, sondern sie auch explizit qualifizieren darf. Die von der Kommission vorgelegte parlamentarische Initiative für eine Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes sieht vor, dass die Räte die Auswahl haben zwischen blosser Kenntnisnahme sowie Kenntnisnahme "im zustimmenden" oder "im ablehnenden" Sinne. Da diese Beurteilungen keine Rechtsfolge haben, würde sich eine allfällige Differenzbereinigung zwischen den beiden Kammern erübrigen. Der Bundesrat begrüsste in seiner Stellungnahme diese Möglichkeit einer differenzierten Meinungsäusserung des Parlaments. Dieses akzeptierte die Neuerung [41].
Nationalrat Herczog (sp, ZH) verlangte mit einer Motion, dass zukünftig anstelle der Fragestunde auch eine Debatte zu einem wichtigen Problem im In- oder Ausland stattfinden kann, falls dies das Ratsbüro beschliesst oder es mindestens 40 Ratsmitglieder wünschen. Sein Vorstoss wurde als Postulat überwiesen. Das mit der Abklärung beauftragte Ratsbüro kam zum Schluss, dass sich eine Reglementsänderung nicht aufdränge, da bereits heute mit einer dringlichen Interpellation (über deren Dringlichkeit das Ratsbüro entscheidet) eine Debatte zu einem politischen Problem kurzfristig auf die Traktandenliste gesetzt werden kann. Das Plenum schloss sich dieser Meinung an [42]. Ein weiterer Vorstoss Herczogs zur Vitalisierung der Ratsdebatten forderte die Einführung der Möglichkeit, während den Referaten Zwischenfragen zu stellen. Diese Motion wurde ebenfalls in ein Postulat umgewandelt [43].
Die Dauer der Plenumsberatungen ist im Ständerat zwar nur etwa halb so lang wie im Nationalrat, sie hat seit 1979 aber relativ stärker zugenommen; namentlich die Zahl der persönlichen Vorstösse hat sich deutlich erhöht. Die Staatspolitische Kommission der kleinen Kammer schlug deshalb mit einer parlamentarischen Initiative vor, in Zukunft die Begründung und Beantwortung von persönlichen Vorstössen analog zum Nationalrat im schriftlichen Verfahren durchzuführen. Die Durchführung einer Diskussion über einen Vorstoss soll freilich jederzeit möglich bleiben und nicht wie im Nationalrat der Zustimmung des Plenums bedürfen. Der Ständerat hiess die Reform oppositionslos gut [44].
top
 
print
Verwaltungskontrolle
Das Parlament nahm Kenntnis vom neuen Leitbild für die Arbeit und Organisation der Geschäftsprüfungskommissionen beider Räte [45].
Der Bundesrat äusserte sich zum Vorschlag, wonach Ermittlungen einer PUK absoluten Vorrang vor anderen Untersuchungen haben sollen und letztere nur mit dem Einverständnis der PUK eröffnet werden dürfen. Er war grundsätzlich damit einverstanden, beantragte aber, dass dies nur für disziplinar- und administrativrechtliche, aus Gründen der Gewaltenteilung und des Föderalismus aber nicht für strafrechtliche Verfahren gelten soll [46]. Der Nationalrat liess sich davon nicht überzeugen und übernahm die Anträge seiner Kommission. Er hielt zwar explizit fest, dass die Einsetzung einer PUK die Durchführung von zivil- und administrativrechtlichen Verfahren und strafrechtlichen Voruntersuchungen nicht verhindert. Aber, falls die Ermittlungen PUK-relevante Bereiche betreffen, ist deren Aufnahme von der Zustimmung der PUK abhängig. Laufende Verfahren müssen bis zum Abschluss der PUK-Arbeiten unterbrochen werden [47].
Der Ständerat folgte weitgehend der Version der grossen Kammer. Im Gegensatz zu dieser entschied er jedoch, dass eine PUK nach Abschluss ihrer Arbeit zwar unter bestimmten Umständen die Wiederaufnahme einer disziplinarischen oder administrativen, nicht aber einer strafrechtlichen Untersuchung untersagen kann. Für die Befürworter einer umfassenden Ermächtigung wäre diese Zusicherung des Schutzes vor weiteren Verfahren ein gutes Mittel gewesen, um die Aufklärungsarbeit einer PUK zu erleichtern. Nachdem der Nationalrat in dieser Frage nachgegeben hatte, konnten die neuen Bestimmungen in der Herbstsession verabschiedet werden [48].
Die Staatspolitische Kommission des Nationalrats legte eine parlamentarische Initiative für eine verbesserte Rechtsstellung der von Ermittlungen einer PUK Betroffenen vor. Im Geschäftsverkehrsgesetz soll insbesondere festgehalten werden, dass Auskunftspersonen einen Anwalt beiziehen dürfen und auf ihr Aussageverweigerungsrecht aufmerksam gemacht werden müssen [49]. Der Bundesrat erklärte sich zwar mit der Stossrichtung des Vorschlags grundsätzlich einverstanden, hatte aber doch einige Bedenken. So hielt er fest, dass eine PUK-Untersuchung immer auf eine politische und nicht eine juristische Abklärung von Missständen ausgerichtet sein müsse. Dem Schutz der Rechte der Betroffenen komme deshalb eine geringere Bedeutung zu als bei einem Justizverfahren. So sei z.B. Bundesbeamten, die zur Erfüllung ihrer Dienstpflichten befragt würden, kein Recht auf Aussageverweigerung zuzugestehen [50]. Die Staatspolitische Kommission nahm daraufhin einige Präzisierungen vor, welche insbesondere festhalten, dass der Rechtsschutz von Betroffenen den Handlungsspielraum einer PUK nicht wesentlich einengen und den Zweck einer Untersuchung nicht beeinträchtigen dürfe. So soll die PUK über den Beizug eines Anwalts entscheiden können. Diese Präzisierung fand im Nationalrat Zustimmung; abgelehnt wurde hingegen die vorgeschlagene Einschränkung der Verteidigungsrechte namentlich in bezug auf Akteneinsicht [51].
 
[36] Sonntags-Blick, 12.11.95; Bund, 18.11.95. Vgl. auch Lib., 20.12.95.36
[37] BBl, 1995, IV, S. 1649 ff.; Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1997 ff., 2142 f. und 2291; AS, 1995, S. 4358 f. Zu den ständigen Kommissionen siehe auch Ww, 22.6.95.37
[38] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1237 f.; Amtl. Bull. StR, 1995, S. 982 f. Vgl. SPJ 1994, S. 39.38
[39] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1572 ff.; Amtl. Bull. StR, 1995, S. 983 ff.; 24 Heures, 16.5.95. Vgl. SPJ 1991, S. 44 f.39
[40] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 302 ff., 330 und 348; AS, 1995, S. 530 f. Vgl. SPJ 1994, S. 39 f. sowie BBl, 1995, II, S. 642 ff.40
[41] BBl, 1995, II, S. 651 ff. und 655 (BR); Amtl. Bull. NR, 1995, S. 301 f. und 1689 f.; Amtl. Bull. StR, 1995, S. 618 f. und 796; BBl, 1995, III, S. 513 f. Postulat: Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1187 f.41
[42] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 946 f.; BBl, 1995, IV, S. 1651 f. (Ratsbüro); Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1997 ff.42
[43] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 946. Für weitere vom Büro des NR abgeklärte interne Fragen siehe Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2014 ff. und 2196.43
[44] BBl, 1995, III, S. 1461 ff. sowie 1467 (Zustimmung des BR); Amtl. Bull. StR, 1995, S. 890 f. und 1062; AS, 1995, S. 4360 f.44
[45] Amtl. Bull. StR, 1995, S. 649 ff.; Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1536 ff. Vgl. SPJ 1992, S. 39.45
[46] BBl, 1995, II, S. 1358 ff. Vgl. SPJ 1994, S. 40 f.46
[47] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1238 ff.47
[48] Amtl. Bull. StR, 1995, S. 886 ff. und 1062; Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1997 und 2290 f.; BBl, 1995, IV, S. 449 f.48
[49] BBl, 1995, I, S. 1120 ff.49
[50] BBl, 1995, III, S. 367 ff.50
[51] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2117 ff.51