Année politique Suisse 1999 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Parlament
Das Büro des Nationalrats beantragte mit einer parlamentarischen Initiative die Anpassung der seit 1990 unveränderten
Fraktionsbeiträge an die seither eingetretene Teuerung. Konkret soll der Grundbeitrag von 58 000 auf 60 000 Fr. und der Beitrag je Mitglied von 10 500 auf 11 000 Fr. erhöht werden. Insgesamt würden damit dem Bund pro Jahr rund 140 000 Fr. Mehrausgaben entstehen. Das Büro erachtete zudem eine Anpassung der Entschädigungen der Parlamentsmitglieder an die Teuerung für angebracht, möchte aber den Antrag erst einreichen, wenn im Jahr 2001 die Haushaltsanierung erfolgreich abgeschlossen ist. Der Nationalrat stimmte dem Antrag diskussionslos und bei nur fünf Gegenstimmen, der Ständerat einstimmig zu. In der Schlussabstimmung wurde die Erhöhung im Nationalrat mit 152 gegen 10 Stimmen aus dem Lager der SVP und der FP und in der kleinen Kammer ohne Gegenstimme gutgeheissen
[32].
Die am 18. April gutgeheissene neue
Bundesverfassung brachte einige Neuerungen für den Parlamentsbetrieb, welche nun auf gesetzlicher Ebene nachvollzogen werden mussten. So galt es beispielsweise zu konkretisieren, wer Wahlorgan für die Angestellten der neu auch administrativ dem Parlament unterstellten Dienste der Bundesversammlung ist, oder es musste auf Gesetzesebene der neuen Verfassungsbestimmung Rechnung getragen werden, dass Volksinitiativen nicht nur ganz, sondern auch teilweise für ungültig erklärt werden können. Die SPK-NR unterbreitete dem Plenum eine entsprechende Revision des Geschäftsverkehrsgesetzes sowie einen Bundesbeschluss über die
Parlamentsdienste in der Form einer parlamentarischen Initiative. Der Bundesrat war in seiner Stellungnahme damit weitgehend einverstanden. Er verlangte jedoch, dass die Bedingungen, unter welchen die nun dem Parlament unterstellten Parlamentsdienste Dienststellen der Bundesverwaltung für die Erfüllung ihres Auftrags beiziehen können, bereits auf Gesetzes- und nicht erst auf Verordnungsstufe geregelt werden. Konkret forderte er, dass für die Erbringung der Dienstleistung und die Herausgabe von dazugehörenden Akten die Einwilligung des entsprechenden Departementes resp. des Bundesrates erforderlich ist
[33].
Diesem Vorschlag der Regierung wurde im Parlament von allen Parteien heftig opponiert. Der Nationalrat beschloss, dass im Konfliktfall nicht der Bundesrat oder der Departementsvorsteher entscheidet, sondern die aus den Präsidenten und Vizepräsidenten beider Räte sowie zwei weiteren Parlamentariern gebildete Verwaltungsdelegation. Bei der Frage der administrativen Organisation der Finanzkommissionen und der Finanzdelegation, deren gemeinsames Sekretariat bisher dem Bundesrat unterstellt war, kam es zu einer Auseinandersetzung zwischen zwei parlamentarischen Kommissionen. Die Staatspolitische Kommission hatte beantragt, dass das Sekretariat dieser Gremien vollständig von der Eidg. Finanzkontrolle zu trennen und in die Parlamentsdienste einzuordnen ist. Im Namen der Finanzkommission opponierte Weyeneth (svp, BE) diesem Vorschlag, weil er zu wenig durchdacht sei und sich auf die Kontrollarbeit kontraproduktiv auswirken werde, da wegen des Fehlens eines eigenständigen Rechnungshofs eine enge Zusammenarbeit zwischen der Finanzkontrolle und den parlamentarischen Gremien erforderlich sei. Mit diesen Argumenten konnte sich Weyeneth deutlich (109:27) durchsetzen.
Der
Ständerat schloss sich beim Streit mit dem Bundesrat über die Entscheidkompetenzen beim Beizug von Verwaltungsstellen und der Herausgabe von Dokumenten grundsätzlich der grossen Kammer an. Bei der Wahl des Generalsekretärs der Bundesversammlung schuf er eine kleine Differenz, indem er die Koordinationskonferenz zur Wahlbehörde machte. In der Frage des Sekretariats der Finanzkommission war unbestritten, dass dieses entsprechend den Vorschriften der neuen Verfassung aus dem Bereich des Bundesrats herausgelöst werden muss. Der Rat beschloss, dass sein Sekretär von der Verwaltungsdelegation der Bundesversammlung zu wählen sei. In der Differenzbereinigung stimmte der Nationalrat bei den Wahlkompetenzen für den Sekretär der Finanzkommission und der Finanzdelegation einem Kompromiss zu: Wahlgremium ist die Verwaltungsdelegation, ihr Entscheid muss aber durch die Finanzdelegation bestätigt werden. Im weiteren hielt der Nationalrat zweimal an seinem Entscheid fest, dass der Generalsekretär der Parlamentsdienste vom Plenum zu wählen ist, musste dann allerdings den Beschluss der Einigungskommission akzeptieren, dass, wie vom Ständerat als Kompromiss beschlossen, die Koordinationskonferenz Wahlbehörde ist, deren Entscheid aber von der Vereinigten Bundesversammlung zu bestätigen ist
[34].
Mit der neuen Bundesverfassung wurde auch für beide Räte die neue Funktion eines
zweiten Vizepräsidenten eingeführt. In ihren Reglementen hielten die Kammern nun fest, dass der erste Vizepräsident das Präsidium vor allem bei repräsentativen Pflichten (gegenüber dem Plenum, der Regierung etc.) entlasten und im Bedarfsfall ersetzen soll, während der zweite Vize diese Hilfsfunktion bei den organisatorischen Aufgaben hat
[35].
Diejenigen Teile einer Motion Stamm (fdp, AG), welche eine wirksamere und raschere
Umsetzung von überwiesenen Motionen und Postulaten verlangten, wurden vom Nationalrat in Postulatsform akzeptiert. Abgelehnt wurde hingegen die Forderung, dass derartige Vorstösse analog zu den parlamentarischen Initiativen von einer Parlamentskommission vorgeprüft werden
[36]. Zur parlamentarischen Initiative für eine Verbesserung der Vollzugstauglichkeit der Bundespolitik siehe unten, Teil I, 1d (Beziehung zwischen Bund und Kantonen).
Die Anfang 1998 auf Verlangen der SP-Fraktion einberufene
Sondersession des Parlaments zum Thema Unternehmenszusammenschlüsse veranlasste Nationalrat Schlüer (svp, ZH) zur Forderung, dass die Voraussetzungen für die Einberufung von Sondersessionen verschärft werden. Das jetzige Quorum von 50 Nationalräten erlaube es einer einzelnen Fraktion, allein aus wahlkampftaktischen Gründen Sondersessionen einzuberufen. Sein Vorschlag, dieses Quorum auf 100 zu erhöhen, wurde jedoch auf Antrag der Staatspolitischen Kommission diskussionslos mit 73:28 Stimmen abgelehnt
[37]. Auf Antrag der Tessiner Ratsmitglieder beschloss das Parlament, die
Frühjahrssession des Jahres 2001 im Kanton Tessin durchzuführen
[38].
1995 war der Ständerat mit seinen Bestrebungen für eine
engere Fassung der gesetzlichen Bestimmungen über den Schutz von Parlamentariern und von diesen gewählten Magistratspersonen vor der Strafverfolgung am Veto des Nationalrats gescheitert. Nun unternahm seine Kommission für Rechtsfragen einen neuen Anlauf. Mit einer parlamentarischen Initiative beantragte sie eine restriktivere Bestimmung, indem festgehalten werden soll, dass diese relative Immunität (d.h. das Erfordernis einer Zustimmung des Parlaments zu einer Strafverfolgung) nur dann gewährt wird, wenn die inkriminierte Handlung in „unmittelbarem“ Zusammenhang mit der amtlichen Tätigkeit steht. Da allerdings dieser Zusammenhang nicht objektiv definiert werden kann, wird weiterhin das Parlament darüber zu entscheiden haben, ob ein solcher gegeben sei
[39]. Gemäss den Ausführungen des Kommissionspräsidenten Zimmerli (svp, BE) anlässlich der Eintretensdebatte wäre ein solcher unmittelbarer Zusammenhang gegeben, wenn die inkriminierte Person sich bei ihren Äusserungen auf Informationen stützt, die sie im Zusammenhang mit ihrer parlamentarischen Tätigkeit erworben hat. Der Ständerat stimmte dieser neuen Regelung zu. Gegen den Kommissionsantrag hatten sich zwei Opponenten mit gegensätzlicher Stossrichtung gestellt: Carlo Schmid (cvp, AI) beantragte Nichteintreten, da eine möglichst weitgefasste relative Immunität für die Meinungsfreiheit der Parlamentarier, die eine andere Rolle als die übrigen Bürger zu erfüllen hätten und deren Äusserungen auch viel kritischer wahrgenommen würden, von grosser Wichtigkeit sei. Im Gegensatz zu ihm plädierte der Freisinnige Marty (TI) für die Abschaffung der relativen Immunität, da dieses Privileg für die Ausübung des Amtes für die meisten Parlamentarier ohnehin nicht relevant sei, da gegen sie nie Strafanzeigen eingereicht würden. Der Nichteintretensantrag Schmid wurde vom Rat mit 28:15 Stimmen abgelehnt. Der Antrag der von Marty vertretenen Minderheit, die Immunität nur noch für Handlungen, die sich direkt auf die amtliche Tätigkeit von Parlamentariern beziehen (also z.B. Reden im Parlament und dessen Ausschüssen) zu gewähren, wurde relativ knapp abgelehnt
[40].
Einem einstimmigen Antrag seiner Rechtskommission folgend,
beschloss der Nationalrat diskussionslos, auf diesen Entscheid des Ständerats
nicht einzutreten. Kommissionssprecher de Dardel (sp, GE) begründete diese Ablehnung einerseits damit, dass diese neuen Bestimmungen noch mehr Interpretationsprobleme schaffen würden als die bisherigen. Andererseits war aus seiner Begründung auch deutlich die Verärgerung über die Haltung der kleinen Kammer im Fall der Immunitätsgewährung für Nationalrat Keller (sd, BL) herauszuhören (siehe dazu gleich anschliessend)
[41].
Auf Antrag seiner Kommission lehnte der Ständerat den Entscheid des Nationalrats aus dem Vorjahr ab, die Immunität von
Nationalrat Keller (sd, BL) im Fall einer Strafverfolgung wegen Verstosses gegen das Anti-Rassismusgesetz aufzuheben. Die Kommission verurteilte zwar die Äusserungen Kellers, begründete ihren ablehnenden Antrag jedoch damit, dass bei dem hier vorliegenden Fall der relativen Immunität (Keller hatte sein Communiqué als Nationalrat und Parteipräsident gezeichnet) ein gewisser Ermessensspielraum bestehe. Insbesondere könne die Immunität gewährt bleiben, wenn ungenügende Anhaltspunkte für eine Verurteilung vorliegen. Dies war nach Ansicht der Kommission der Fall: Keller habe unmittelbar nach seiner Tat klargestellt, dass sich der Boykottaufruf nicht gegen Juden im allgemeinen richte, sondern gezielt als Gegenmassnahme gegen diejenigen amerikanischen jüdischen Firmen, welche zu einem Boykott der Schweiz aufrufen, gedacht sei. Für den Berner Zimmerli (svp) war diese Argumentation nicht stichhaltig. Da es sich nicht um einen unbedeutenden Fall von Ehrverletzung handle, sondern um die Auslegung eines neuen und unter Menschenrechtsaspekten sehr wichtigen Gesetzes, könne nicht das Parlament in einem summarischen Vorverfahren über die Strafwürdigkeit urteilen. Sein Antrag, die Immunität von Nationalrat Keller aufzuheben, unterlag mit 27:15 Stimmen. Der Nationalrat bestätigte hingegen mit dem praktisch gleichen Stimmenverhältnis wie im Dezember 1998 (96:55) seinen Aufhebungsentscheid. In der Differenzbereinigung hielt die kleine Kammer mit 25:11 Stimmen an ihrem ursprünglichen Entscheid fest, womit das Geschäft aus den Traktanden gestrichen und die Immunität von Keller nicht aufgehoben wurde
[42].
[32]
BBl, 1999, S. 4959 ff.;
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1089 f. und 2297;
Amtl. Bull. StR, 1999, S. 873 f. und 990. Der BR hatte dagegen keine Einwände (
BBl, 1999, S. 7759 f.).32
[33]
BBl, 1999, S. 4809 ff. und 5979 ff. (BR). Weitere aufgrund der neuen Verfassung notwendig gewordene Gesetzesrevisionen werden, soweit es sich um rein technische oder redaktionelle Anpassungen handelt, hier nicht dargestellt (vgl. dazu die entsprechende Botschaft des BR in
BBl, 1999, S. 7922 ff.).33
[34]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1090 ff., 1835 ff., 1859, 2051 f. und 2298 f.;
Amtl. Bull. StR, 1999, S. 612 ff., 845 ff., 890, 946 und 991;
BBl, 1999, S. 8668 ff.34
[35]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1820 f., 2005 f. und 2297 f.;
Amtl. Bull. StR, 1999, S. 868 f., 873 und 990;
BBl, 1999, S. 9613 ff. (NR) und 9620 ff. (StR).35
[36]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2190 f. Die SPK der beiden Räte befassen sich im Rahmen der Vorarbeiten zu einer Totalrevision des Geschäftsverkehrsgesetzes ohnehin mit den Anliegen des Motionärs.36
[37]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 190 f. Zur damaligen Sondersession siehe
SPJ 1998, S. 120.37
[38]
Amtl. Bull. StR, 1999, S. 484 ff.;
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1272 f.;
TA, 9.6.99;
CdT, 10.6.99;
AZ, 11.6.99. Zur letzten auswärtigen Session, die 1993 in Genf stattfand, siehe
SPJ 1993, S. 39 f.38
[39]
BBl, 2000, S. 646 ff. (Bericht);
BBl, 1999, S. 9880 ff. (Zustimmung des BR);
SGT, 11.5.99. Vgl.
SPJ 1995, S. 37.39
[40]
Amtl. Bull. StR, 1999, S. 808 ff.; Presse vom 29.9.99.40
[41]
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2589.41
[42]
Amtl. Bull. StR, 1999, S. 5 ff. und 560 ff.;
Amtl. Bull. NR, 1999, S. 639 ff.; Presse vom 2.3.99. Vgl.
SPJ 1998, S. 47 f.42
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