Année politique Suisse 1999 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Ausländerpolitik
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Allgemeine Fragen
Das Bundesamt für Ausländerfragen legte Mitte Januar erstmals einen Ausländerbericht vor, der auf Angaben der kantonalen Fremdenpolizeibehörden beruhte. Ziel des Berichtes war, Transparenz zu schaffen sowie die vernetzten Abhängigkeiten und die Grenzen der staatlichen Politik aufzuzeigen. Der Direktor des BFA erklärte dazu, Steuerungsmöglichkeiten und Einschränkungen der Zuwanderung seien zwar rasch formuliert, aufgrund nationaler und internationaler Verpflichtungen, aus humanitären Gründen und wegen vitaler Interessen der schweizerischen Wirtschaft aber nicht oder nur schwer realisierbar. Fragen des Ausländerbereichs gehörten zu den brisantesten Themen schweizerischer Innen- und Aussenpolitik. Vollzugsschwierigkeiten und Missbräuche lösten in weiten Kreisen der Bevölkerung zunehmend Unmut aus und liessen die Emotionen hochgehen. Deshalb seien klare Informationen und rationale Erklärungen gefragt. Vorrangig müsse das Bemühen sein, Fremdenfeindlichkeit gar nicht erst aufkommen zu lassen. Missbräuche des Gastrechts müssten konsequent bekämpft werden, denn kleine (kriminelle) Minderheiten könnten negative Einstellungen gegenüber den überwiegend unbescholtenen und rechtschaffenen Ausländerinnen und Ausländern schlechthin auslösen. Der Bericht listete zunehmende Missbräuche namentlich beim Familiennachzug, bei Schein- und Gefälligkeitsehen (siehe unten), den Identifizierungsverfahren, dem Beschwerdewesen und den Härtefallregelungen auf. Dabei wurde festgestellt, dass die Kantone in der fremdenpolizeilichen Praxis in besonderem Mass Probleme mit Personen aus dem früheren Jugoslawien haben [1].
Mitten in der angespannten Lage im Frühsommer, als der Bundesrat Notrecht im Asylbereich nicht mehr ausschloss (siehe unten), behandelte der Ständerat eine ausschliesslich von FDP-Abgeordneten mitunterzeichnete Motion Merz (fdp, AR), welche die Landesregierung aufforderte, dem Parlament die Ziele, Inhalte und Mittel einer kohärenten, departementsübergreifenden Ausländer- und Asylpolitik zu unterbreiten, die den jüngsten Entwicklungen im In- und Ausland Rechnung trägt. Der Bundesrat wollte den Vorstoss nur in Postulatsform entgegen nehmen, da die Probleme erkannt und teilweise bereits Gegenstand von Berichten und Untersuchungen gewesen seien. Die Ausarbeitung eines weiteren migrationspolitischen Gesamtkonzepts würden nur zu Verzögerungen in dringenderen Fragen führen. Die Ausführungen des Motionärs, dass im Bereich der Zweitasylgesuche, der Kriminalität, der Schlepperorganisationen und der sogenannten „Wirtschaftsflüchtlinge“ gravierende Missbräuche aufgetreten seien, die auch im Interesse der anständigen ausländischen Wohnbevölkerung hart bekämpft werden müssten, vermochte aber seine Kolleginnen und Kollegen mehrheitlich davon zu überzeugen, dass hier ein verbindlicher Auftrag an die Regierung angezeigt sei. Die Motion wurde mit 18 zu 11 Stimmen überwiesen [2]. Der Nationalrat befand, die Vorarbeiten zur Totalrevision des Bundesgesetzes über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (Anag) seien bereits weit fortgeschritten, weshalb es nicht mehr angebracht sei, dem Bundesrat zwingende Vorgaben zu machen, und nahm die Motion nur als Postulat an [3].
Eine parlamentarische Initiative Hasler (svp, AG) verlangte eine Anpassung des Anag in dem Sinn, dass der Bund die umfassende Verantwortung für illegal eingereiste Personen übernimmt und dabei strafbares Verhalten im weiteren Sinn als Haftgrund heranziehen kann. Zudem sollten vorläufig aufgenommene Personen einer Rayonpflicht unterstellt werden können, damit bei einer Missachtung der Aufenthalts- bzw. Unterkunftszuweisung die Möglichkeit einer Ahndung besteht. Der Initiant machte in seiner Begründung geltend, das Bundesgesetz über die Zwangsmassnahmen im Ausländerbereich stelle nur ein ungenügendes Instrumentarium für den Vollzug zur Verfügung. Die vorberatende Kommission wollte die angesprochenen Probleme nicht leugnen, verwies aber auf die laufende Überarbeitung des Anag und beantragte deshalb Ablehnung des Vorstosses. Das Plenum folgte ihr mit 98 zu 43 Stimmen [4].
Konkrete Forderungen stellte auch der Berner FP-Nationalrat Scherrer. Nach seinen Vorstellungen sollte eine Ehe für nichtig erklärt werden, wenn ein Ehepartner nicht eine Lebensgemeinschaft begründen, sondern die Vorschriften über den ausländerrechtlichen Aufenthalt umgehen will. Der Bundesrat verwies auf bereits bestehende Regelungen im Ausländer- und Bürgerrecht, gestand aber ein, dass es dennoch zu Missbräuchen kommen könne, weshalb er bereit war, die Motion als Postulat entgegen zu nehmen. Der Vorstoss wurde aber von den SP-Nationalrätinnen Maury Pasquier (GE), von Felten (BS) und Thanei (ZH) bekämpft und damit vorderhand der Diskussion entzogen [5]. Gegen ein Postulat Heim (cvp, SO), welches die Einsetzung einer Arbeitsgruppe verlangte, die Vorschläge ausarbeiten sollte, wie der Rechtsmissbrauch bei der Eheschliessung zwecks Erlangen und Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung wirkungsvoll bekämpft werden kann, wurde von Thanei (sp, ZH) und Vermot (sp, BE) opponiert und dessen Behandlung so ebenfalls auf einen späteren Zeitpunkt verschoben [6].
1997, als das Doppeljubiläum „150 Jahre Bundesstaat“ und „50 Jahre UNO-Menschenrechte“ bevorstand, hatte sich der Nationalrat grosszügig gezeigt. 111 Parlamentarierinnen und Parlamentarier unterzeichneten damals eine Motion Fankhauser (sp, BL), die analog zur Praxis in den Nachbarländern Frankreich und Italien eine Amnestie für „Papierlose“ verlangte, deren effektive Zahl im Dunkeln liegt. Fankhauser dachte dabei vor allem an Saisonniers, die nach Ablauf ihrer neunmonatigen Bewilligung nicht in die Heimat zurückkehren, an die „versteckten“ Familienangehörigen von Saisonniers sowie an eine weitere Anzahl von Personen, die aus verschiedenen Gründen ihre Aufenthaltserlaubnis verloren haben. Dieser Vorstoss verstand sich auch als Beitrag zur Bekämpfung der Schwarzarbeit. Der Bundesrat beantragte, die Motion in ein Postulat umzuwandeln, da zwei unterschiedliche Anliegen (Straferlass und aufenthaltsrechtliche Regelung) vermengt würden; letztere könnte nur durch eine Revision des Anag oder durch einen befristeten Bundesbeschluss umgesetzt werden. Der Zürcher SVP-Abgeordnete Fehr wollte auch das Postulat ablehnen, da damit Unrecht zu Recht erklärt würde, unterlag aber mit 66 zu 40 Stimmen; zustimmen mochten dem Postulat neben dem links-grünen Lager nur noch ein Dutzend Mitglieder der CVP, einige welsche Liberale und Freisinnige, sowie – als einziger Deutschschweizer seiner Partei – FDP-Präsident Steinegger (UR) [7].
Zur Ausländerpolitik als Thema der eidgenössischen Wahlen siehe oben, Teil I, 1e, für die Fragen der Einbürgerung und der politischen Rechte Teil I, 1b (Bürgerrecht und Stimmrecht).
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Ausländische Bevölkerung
Die Zahl der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung – internationale Funktionäre, Kurzaufenthalter, Saisonniers und Flüchtlinge nicht mitgerechnet – nahm im Berichtsjahr um 0,2 Prozentpunkte zu. Mit 19,2% der Gesamtbevölkerung blieb der Ausländeranteil weiter stabil. Rund 30% der Zunahme gingen auf den Familiennachzug zurück, gut 20% kamen als neue Arbeitskräfte in die Schweiz. Mit 13 211 Personen war der Zuwachs bei den Bosniern am grössten. Dabei handelt es sich in den meisten Fällen aber nicht um echte Neueinwanderer, sondern um ehemals als Saisonniers eingereiste oder als Kriegsvertriebene aufgenommene Personen, die noch nicht in ihr Land zurückkehren können und nun eine reguläre Aufenthaltsbewilligung erhielten. Die stärkste Abnahme wurde (namentlich infolge von 5510 Einbürgerungen) mit 6913 Personen bei Staatsangehörigen Italiens verzeichnet; mit 29% der ausländischen Wohnbevölkerung bilden sie aber nach wie vor die grösste Ausländergruppe. Von den 1 368 670 am Jahresende anwesenden Personen besassen 75% eine Niederlassungs- und 25% eine Jahresbewilligung. Rund 700 000 Ausländerinnen und Ausländer waren erwerbstätig, 1,4% mehr als im Vorjahr. Dazu kamen 10 054 Saisonniers und 144 780 Grenzgänger. Insgesamt gingen 856 002 Ausländerinnen und Ausländer in der Schweiz einer Arbeit nach, 1,6% mehr als 1998 [8].
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Zulassung
Aus Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse in der Schweiz handelte der Bundesrat beim bilateralen Abkommen mit der EU über den freien Personenverkehr eine Regelung aus, die einen schrittweisen Übergang zur Personenfreizügigkeit vorsieht. Nach dem Inkrafttreten der sieben Abkommen, das heisst nach der Referendumsabstimmung in der Schweiz und der Ratifikation durch die Parlamente der EU-Staaten, schafft die Schweiz während einer ersten Vertragsphase von zwei Jahren die wichtigsten arbeitsmarktlichen Hürden für EU-Angehörige ab (Inländervorrang, Kontrolle der Arbeitsverträge der Zuwanderer). Während der folgenden fünf Jahren gilt weiterhin eine zahlenmässige Beschränkung; die Grenzzonen bleiben ebenfalls noch fünf Jahre bestehen. In der zweiten Phase wird der freie Personenverkehr von der Schweiz versuchsweise eingeführt. Eine einseitig anrufbare Schutzklausel erlaubt ihr aber, bei einer massiven Einwanderung jeweils für zwei Jahre wieder Kontingente festzulegen. Nach zwölf Jahren tritt der freie Personenverkehr endgültig in Kraft – sofern die Schweiz nach der ersten Vertragsperiode von sieben Jahren die Weiterführung bestätigt. Das Bundesgesetz über den Vertrag mit der EU über die Personenfreizügigkeit wurde im Ständerat einstimmig und im Nationalrat mit 117 zu 7 Stimmen bei 19 Enthaltungen angenommen [9]. Das Abkommen bedingt die Übernahme des EU-Koordinationsrechts im Sozialversicherungsbereich (siehe oben, Teil 1, 7c, Einleitung). Aus Sorge, die Aufhebung der Kontrolle der Lohn- und Arbeitsbedingungen der Zuwanderer könnte zu einem Lohndumping durch ausländische Arbeitskräfte führen, wurden flankierende Massnahmen beschlossen, die dies verhindern sollen (siehe oben, Teil I, 7a, Kollektive Arbeitsbeziehungen).
Wie der Nationalrat lehnte auch der Ständerat die Volksinitiative „für eine Regelung der Zuwanderungeinstimmig ab. Die Initiative wurde generell als impraktikabel bezeichnet. Die kleine Kammer war der Ansicht, die verlangte Begrenzung des Ausländeranteils (inklusive Asylbewerber, die seit mehr als einem Jahr in der Schweiz leben) auf 18% der Wohnbevölkerung löse die Probleme in der Flüchtlings- und Ausländerpolitik nicht. Die Asylgesuche und der Familiennachzug liessen sich nur beschränkt beeinflussen. Eine unvorhersehbare Zunahme in diesen Kategorien würde zu einschneidenden Massnahmen im steuerbaren Bereich des Arbeitsmarktes zwingen; dies würde aber den Interessen des Wirtschaftsstandortes Schweiz widersprechen. Zudem sei der Ausländeranteil allein nicht aussagekräftig; auch der Integrationsgrad der ausländischen Bevölkerung müsse berücksichtigt werden. Eine Annahme der Initiative würde im weiteren das Abkommen mit der EU über den freien Personenverkehr in Frage stellen [10].
Bundesrat Koller unterstützte diese Argumente voll und ganz. Er war deshalb bereit, eine Motion der staatspolitischen Kommission entgegen zu nehmen, welche die wichtigsten Grundsätze der künftigen Ausländerpolitik auflistet. Die Begrenzung der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung soll nach wie vor ein Ziel sein, allerdings unter Beachtung der völkerrechtlichen Verpflichtungen, der wirtschaftlichen Bedürfnisse und der humanitären Tradition. Das Saisonnierstatut ist gemäss Ständerat durch eine Kurzaufenthaltsbewilligung zu ersetzen, und die Rekrutierung von Arbeitskräften soll nicht mehr nach dem rassismusverdächtigen Drei-Kreise-Modell, sondern nach einem dualen System (EU/Efta-Staaten gegen den „Rest der Welt“) erfolgen. Zudem soll die Integration der ansässigen Bevölkerung verstärkt und gegen Missbräuche konsequenter vorgegangen werden. Die Motion wurde mit 31 zu 5 Stimmen überwiesen. Lediglich als Postulat angenommen – und zwar mit 20 zu 9 Stimmen – wurde eine Motion Reimann (svp, AG), welche in vielen Teilen mit der Kommissionsmotion identisch war, generell aber eine weitere Verschärfung verlangte; so sollte etwa der Familiennachzug auf ein völkerrechtlich zulässiges Minimum beschränkt werden. Ständerat Aeby (sp, FR) hatte eine weitere Motion eingereicht, welche die Missbräuche auch auf Arbeitgeberseite (Schwarzarbeit) bekämpfen wollte und die erleichterte Einbürgerungen von jungen Ausländerinnen und Ausländern der zweiten und dritten Generation forderte. Angesichts des Widerstandes im Rat zog er seine Motion zurück [11]. Der Nationalrat befand, so kurz vor dem Abschluss der Vorarbeiten zur Totalrevision des Anag sei es nicht mehr angezeigt, dem Bundesrat einen verbindlichen Auftrag zu erteilen, weshalb er die ständerätliche Motion nur in Postulatsform überwies [12].
Dem Wunsch des Ständerates nach einem dualen Zulassungsmodell hatte der Bundesrat bereits im Vorjahr mit der Ausländerregelung 1998/1999 entsprochen. Für das Jahr 1999/2000 übernahm er diese praktisch identisch. Die Höchstzahl der Saisonbewilligungen wurde erneut auf 88 000 festgesetzt, jene für erstmalige Jahresbewilligungen auf 17 000 und jene für Kurzaufenthalterbewilligungen auf 18 000 [13].
1998 hatte der Nationalrat eine parlamentarische Initiative Goll (sp, ZH) angenommen, welche eine zivilstandsunabhängige Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung für Migrantinnen verlangte, die sich von ihrem gewalttätigen Ehemann trennen, sei dieser nun Schweizer oder Ausländer mit längerdauerndem Aufenthaltsrecht. Die staatspolitische Kommission des Rates arbeitete daraufhin eine Änderung des Anag aus, welche etwas weniger weit geht als der ursprüngliche Vorschlag. Demnach muss die Fremdenpolizei nur in Härtefällen (gemeinsame, in der Schweiz lebende Kinder, Misshandlungen in der Ehe) die Aufenthaltserlaubnis verlängern. Der Bundesrat wehrte sich – mit Hinweis auf die anstehende Totalrevision des Anag – gegen diese Praxisänderung und meinte, es sei weder nötig noch sinnvoll, die Stellung der Migrantinnen sofort zu verbessern. Schützenhilfe erhielt er von den rechtsbürgerlichen Parteien, die vor Missbräuchen durch Scheinehen warnten. Aber auch die CVP, die sich in der Kommission noch für die Gesetzesrevision ausgesprochen hatte, wurde vom schroffen Nein des dafür zuständigen, CVP-besetzten EJPD offenbar umgestimmt, weshalb sie nun mehrheitlich den Nichteintretensantrag des Bundesrates unterstützte. SP-Sprecherin Fankhauser (BL) meinte dagegen, das Problem dulde keinen Aufschub mehr, insbesondere da der Inhalt der Anag-Revision vorderhand noch „in den Sternen des demokratischen Himmels“ stehe. Diese Einsicht setzte sich im Rat denn auch durch. Mit 90 zu 57 Stimmen wurde der Kommissionsvorschlag angenommen [14].
Nationalrätin Bühlmann (gp, LU) machte mit einer Motion und einer Interpellation auf das Problem des Menschenhandels aufmerksam, welches sich vor allem im Milieu der sogenannten „Cabarettänzerinnen“ stellt. Da die Opfer aus Angst vor Wegweisung und Repressalien in ihrem Heimatland oftmals von einer Strafanzeige absehen, verlangte Bühlmann, beim geringsten Verdacht auf Menschenhandel sei die Aufenthaltsbewilligung automatisch um drei Monate zu verlängern. Der Bundesrat erklärte, es gebe bereits in der geltenden Gesetzgebung genügend Instrumente, um die Betroffenen angemessen zu schützen. Auf seinen Antrag wurde der Vorstoss nur in Postulatsform überwiesen [15].
Am 1. Januar 2000 werden zusammen mit dem revidierten Scheidungsrecht auch neue Vorschriften über die Ehe- und Partnerschaftsvermittlung in Kraft treten. Der Bundesrat nutzte die Gelegenheit, um strengere Vorschriften für die Vermittlung von Frauen aus Osteuropa und der Dritten Welt einzuführen. Er unterstellt die berufsmässige Ehe- und Partnerschaftsvermittlung zwischen Personen in der Schweiz und im Ausland einer Bewilligungspflicht. Damit will er den in den letzten Jahren immer öfters beobachteten unlauteren Machenschaften in diesem Bereich dezidierter entgegen treten [16].
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Gesellschaftliche Integration
Im Dezember legte die Eidgenössische Ausländerkommission (EKA) dem Bundesrat ihren Integrationsbericht vor. Sie kam zum Schluss, die Gefahr von Konflikten zwischen Ausländern und Schweizern habe in den letzten Jahren zugenommen. Die indifferente Haltung von Behörden, Parteien und einflussreichen Gesellschaftskreisen bezüglich der Integration habe auf beiden Seiten Verunsicherung, Orientierungsschwierigkeiten, aber auch Resignation geschaffen. Es sei „eine Art Vakuum“ in dieser staatspolitisch wichtigen Frage entstanden. Die Schweiz sei de facto ein Einwanderungsland; weil sie es aber nie habe sein wollen und nach wie vor der Wille zu einer grundlegenden Neuorientierung fehle, lebten selbst langjährig anwesende Ausländerinnen und Ausländern noch immer in einem integrationshemmenden Provisorium. Die EKA listete einen weitreichenden Katalog von Massnahmen auf. Dazu gehören eine rasche Neuauflage der erleichterten Einbürgerung, mehr Sprachunterricht, die gezielte Förderung des Miteinanders vor allem in der Freizeit und der Ausbau der Kommunikation, wozu nicht zuletzt die von den Ausländern mit einem Fünftel der Gebühren mitfinanzierte SRG verpflichtet sei. Vor allem aber brauche es die strikte Trennung der Integrationsfrage von der Asylproblematik – und dazu überzeugende Signale aller Kreise für die Integration [17].
Mit 121 zu 27 Stimmen überwies der Nationalrat eine im Vorjahr vom Ständerat einstimmig angenommene Motion Simmen (cvp, SO), welche den Bundesrat beauftragt, die Expertenkommission für die Totalrevision des Anag anzuweisen, die rechtlichen Möglichkeiten des Bundes zur Förderung der Sprachschulung für in der Schweiz dauerhaft zugelassene Ausländer zu schaffen [18].
Seit Jahren wird vor allem in der Deutschschweiz immer wieder gefordert, getrennte Schulklassen für deutsch- und fremdsprachige Kinder einzuführen, da viele Schweizer Eltern befürchten, ihre Kinder würden bei einer hohen Ausländerpräsenz im Unterricht zu wenig gefördert. Mit einer Interpellation Bühlmann (gp, LU) darauf angesprochen, lehnte der Bundesrat alle Massnahmen, die auf eine Diskriminierung einer Kategorie von Schülern hinauslaufen, ganz entschieden ab. Eine schulische Benachteiligung aufgrund der Herkunft, der Rasse oder der Sprache würde dem verfassungsmässigen Grundsatz der Rechtsgleichheit und dem Diskriminierungsverbot sowie dem internationalen Übereinkommen über die Rechte der Kinder und der Rassismusstrafnorm widersprechen. Nach Ansicht des Bundesrates schliesst dies vorübergehende Massnahmen nicht aus (befristeter Einführungs- und Stützunterricht bzw. vorläufiger Besuch einer Vorbereitungs- und Übergangsklasse). Dabei dürfe aber niemals vergessen werden, dass die Schule nicht nur einen Ausbildungsauftrag habe, sondern auch einen Beitrag zur Integration von Kindern unterschiedlicher sozialer, kultureller und geographischer Herkunft leisten müsse [19].
Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) sprach sich ebenfalls ganz vehement gegen eine längerdauernde schulische Trennung von einheimischen und ausländischen Kindern aus, da diese diskriminierend sei, die Ghettobildung fördere und zu einer Apartheid-Gesellschaft führe. Getrennter Schulunterricht würde die Integration der ausländischen Kinder erschweren und damit längerfristig auch das friedliche Zusammenleben von Schweizern und Ausländern gefährden. Die EKR betonte, sie nehme die Besorgnis vieler Eltern ernst, die Bildungschancen ihrer Kinder würden in Schulklassen mit hohem Ausländeranteil beeinträchtigt. Doch gehe es nicht an, deswegen eine willkürlich definierte Gruppe von Schulkindern zu benachteiligen; anzustreben seien vielmehr Verbesserungen für alle. Dazu kann nach EKR auch ein pädagogisch begründeter und befristet getrennter Unterricht gehören, so etwa die Integrationsklassen, in denen ausländische Kinder intensiven Unterricht in der Landessprache erhalten, um dann nach spätestens einem Jahr in die Regelklasse zu wechseln [20].
Die Erziehungsdirektorenkonferenz der Ostschweizer Kantone, auf deren Gebiet die Forderung nach getrennten Klassen besonders häufig gestellt wird, will ebenfalls keine Separierung von deutsch- und fremdsprachigen Schulkindern. Durch eine dauerhafte Trennung würden die Integrationsprobleme auf die Zeit nach der Volksschule verschoben. Hingegen sei die vorübergehende Differenzierung im Deutschunterricht ein effektiv gangbarer Weg zur Vorbereitung der schulischen Integration [21]. Sie hielt sich dabei an die bereits mehrfach von der gesamtschweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) vorgebrachte Empfehlung, wonach alle in der Schweiz lebenden fremdsprachigen Kinder in die Regelschule einzugliedern und jegliche Diskriminierungen zu vermeiden seien. Die Integration müsse aber immer auch das Recht des Kindes respektieren, gleichzeitig die Sprache und Kultur des Heimatlandes zu pflegen. Aus diesem Grund gibt es seit mehreren Jahren in verschiedenen Kantonen Lehrkräfte für heimatliche Sprache und Kultur (sogenannte „HSK-Lehrer“). Dahinter steht der Gedanke, dass durch das Bewusstwerden der eigenen Wurzeln die Identitätsfindung unterstützt und damit die Integration erst möglich wird. Diese Schulung versteht sich je nachdem auch als Beitrag zur Rückkehrhilfe. So wurden in mehreren Kantonen und Gemeinden der Schweiz vorläufig aufgenommene kosovarische Kinder in separaten Schulklassen auf Albanisch unterrichtet, gleichzeitig aber auch mit den Grundzügen der im Umfeld gesprochenen Landesprache vertraut gemacht. Damit soll vermieden werden, dass sie bei ihrer Rückkehr in die Heimat noch durch zusätzliche schulische Defizite belastet werden; bei einem dauerndem Aufenthalt in der Schweiz würde diese differenzierte Schulung den Übergang in eine Regelklasse erleichtern [22].
Als erste Stadt in der Schweiz gab sich Bern ein Leitbild zur Integrationspolitik. Die Experten, die an den Vorarbeiten beteiligt waren, empfahlen in erster Linie eine bessere Durchmischung der ausländischen und der schweizerischen Bevölkerung auf allen Stufen des öffentlichen Lebens (Arbeitsmarkt, Wohnquartiere, öffentliche Institutionen). Das Leitbild zählt 42 konkrete Massnahmen in den Bereichen Sprache und Bildung, Arbeit, Wohnen, Gesundheit, Gleichstellung, Information und Kommunikation, Selbstorganisation, Einbürgerung, politische Mitwirkung sowie übergeordnetes Recht und Zusammenarbeit auf [23].
Nur gerade drei Wochen später trat die Stadt Zürich mit einem Integrationsbericht an die Öffentlichkeit. Ihre „Massnahmen für ein gutes Zusammenleben in unserer Stadt“ betreffen die Bereiche Spracherwerb, Schule, Arbeit, Zusammenleben im Quartier und Sicherheit. Geplant sind zudem eine Sensibilisierungskampagne und ein Fonds für Integrationsideen. Den Neuzuzügern sollen vermehrt Sprach- und Integrationskurse angeboten werden, wobei Zürich beim Bund ein Obligatorium beantragen will [24]. Zwei Tage danach stellte Basel-Stadt ein ähnliches Integrationsleitbild vor [25].
Ein besonderes Problem stellt sich bezüglich der ersten grossen Einwanderungswelle der 50er und 60er Jahre; als junge, kräftige, aber meist unqualifizierte Männer und Frauen übernahmen diese – vorwiegend aus Italien stammenden – Immigranten damals die körperlich harten und schlecht bezahlten Arbeiten, welche die Schweizer mieden. Heute sind diese Personen im Pensionsalter, haben häufig gesundheitliche Probleme und beziehen deutlich tiefere Renten als die Schweizer, da sie nicht nur geringere Einkommen hatten, sondern häufig auch Beitragslücken aufweisen. Ursprünglich hatte man damit gerechnet, dass diese Menschen im Alter in ihre Heimat zurückkehren würden. Nun zeigte sich, dass gewisse Eigenheiten des schweizerischen Sozialversicherungssystems diese Rückkehr mehr behindern denn ermutigen. Der Anspruch auf Ergänzungsleistungen (EL) beispielsweise erlischt mit der Ausreise und kann bei einer späteren neuerlichen Einreise nicht wieder aktiviert werden. Der Direktor des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV), Otto Piller, regte deshalb an, dass eine einmalige zehnjährige Wohnsitzdauer generell für den Bezug von EL ausreichen sollte. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der obligatorischen Krankengrundversicherung. Bei einer definitiven Ausreise fällt deren Schutz dahin; der Beitritt zu einer ausländischen Kasse ist aber nicht in jedem Fall ohne weiteres möglich. Hier wird das bilaterale Abkommen mit der EU über den freien Personenverkehr eine Erleichterung bringen, da es allen Betroffenen ermöglichen wird, auch im Ausland bei einer schweizerischen Kasse versichert zu bleiben. In seinem Wunsch nach mehr Solidarität mit diesen Menschen erinnerte der BSV-Direktor daran, dass die Lage der AHV ohne die ausländischen Versicherten um einiges schwieriger wäre, als sie ohnehin ist. Heute sind die ausländischen Arbeitskräfte Netto-Zahler: sie kommen für einen Viertel der Beiträge auf, beziehen aber aufgrund ihrer Altersstruktur nur 13% der Leistungen. Erst in rund 20 Jahren werden sich Beitragszahlung und Leistungsbezug annähern [26].
 
[1] Presse vom 13.1.99.1
[2] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 422 ff.2
[3] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2116 ff.3
[4] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 451 ff.4
[5] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1309 f.5
[6] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2672. Die Arbeitsgruppe, welche die Totalrevision des Anag vorbereitet, schlug vor, das Eingehen oder die Förderung einer Scheinehe als neuen Tatbestand für den Entzug einer Aufenthaltsbewilligung zu definieren (BaZ, 18.11.99).6
[7] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 680 ff. Diese Personenkategorie, welche nicht zu verwechseln ist mit den „Papierlosen“ im neuen Asylrecht (siehe unten), war auch Gegenstand eines überwiesenen Postulats Brunner (sp, GE) zum Krankenversicherungsobligatorium (Amtl. Bull. StR, 1999, S. 801 f.).7
[8] Presse vom 12.2.00. Eine Analyse der Wohnbevölkerung der Stadt Zürich zeigte, dass der Ausländeranteil 1900 bereits gleich hoch war wie 1999 (knapp 29%). 1910 betrug die ausländische Bevölkerung sogar 33,5%, der höchste je in Zürich registrierte Prozentsatz; allerdings war die ethnische Zusammensetzung wesentlich anders, da rund 70% der Ausländer Deutsche waren (NZZ, 7.9.99). Die SVP der Stadt Zürich verlangte mit einer Volksinitiative eine Ergänzung der Gemeindeordnung mit dem Satz: „Zürich ist keine Einwanderungsstadt“. Der Stadtrat (Exekutive) erachtete die Initiative nur als bedingt gültig, weil gemäss Bundesverfassung der Bund für die Einreise, den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländern sowie für die Asylgewährung zuständig ist (NZZ, 1.10. und 5.10.99).8
[9] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 645 ff., 654 ff. und 657 ff.; Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1580 ff. und 1598 ff.; BBl, 1999, S. 7027 ff. Siehe Peter Gasser, „Freier Personenverkehr Schweiz-EU“, in Die Volkswirtschaft, 2000, Nr. 2, S. 43-45.9
[10] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 188 ff. Siehe SPJ 1998, S. 279.10
[11] Amtl. Bull. StR, 1999, S. 197 ff.11
[12] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2116.12
[13] Presse vom 16.6. und 21.10.99. Zum 3-Kreise-Modell siehe SPJ 1998, S. 279.13
[14] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 964 ff. Vgl. SPJ 1998, S. 281.14
[15] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 673 ff. SPJ 1998, S. 293.15
[16] NZZ, 19.6. und 11.11.99.16
[17] Presse vom 28.3.00. In der Fragestunde der Wintersession erklärte BR Metzler, für 2000 seien noch keine Gelder für die 1998 ins teilrevidierte Anag aufgenommenen Integrationsmassnahmen des Bundes vorgesehen. Die dafür notwendige Verordnung will der BR auf den 1.10.00 in Kraft setzen (Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2480). Vgl. SPJ 1998, S. 280. Zu einer Petition des Verbandes der kantonalen und kommunalen Integrationsorganisationen, die ein eigentliches, im EDI anzusiedelndes Bundesamt für Integration verlangte, siehe Presse vom 5.2.99.17
[18] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1224 f.18
[19] Amtl. Bull. NR, 1999, S. 1339 ff. Die deutliche Stellungnahme des BR änderte nichts an der Tatsache, dass die Städte Luzern und Rorschach (SG) in der Primarschule entsprechend dem Stand der Deutschkenntnisse getrennte Schulklassen einführten (TA, 5.6.99; SGT, 9.6.99; NLZ, 8.7.99). Der Regierungsrat des Kantons Bern lehnte getrennte Klassen in jedem Fall ab; auch der Grosse Rat verwarf ein entsprechendes Ansinnen eines Vertreters der SD mit 99 zu 62 Stimmen (Bund, 26.5. und 1.7.99).19
[20] Presse vom 24.8.99.20
[21] NZZ, 10.3.99. Der Kanton Zürich hat zur Integration ausländischer Kinder bereits 1996 ein spezielles Programm gestartet, das auf flexible Varianten der inneren Differenzierung setzt, die sich durch Unterricht in Niveaugruppen und eine höhere Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Stufen auszeichnet (NZZ, 21.8.99).21
[22] BaZ, 31.5.99. Mit einem Postulat verlangte die SP-Fraktion, der Bund solle die Kantone bei der Einschulung von Flüchtlingskindern durch die Schaffung mobiler pädagogischer Teams unterstützen. Der BR verwies auf die Kompetenzen der Kantone in diesem Bereich und beantragte erfolgreich Ablehnung des Vorstosses (Amtl. Bull. NR, 1999, S. 2194 f.). Siehe dazu auch eine Interpellation Weber (sp, AG): ibid., S. 2220.22
[23] BaZ und Bund, 18.8.99.23
[24] NZZ und TA, 9.9.99.24
[25] BaZ, 11.9.99.25
[26] Presse vom 30.9.99; NZZ, 1.10.99.26