Année politique Suisse 2000 : Sozialpolitik / Sozialversicherungen
Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV)
Der Ständerat behandelte in der Frühjahrssession die
Revision der freiwilligen AHV für Auslandschweizerinnen und -schweizer. Dieses im Vergleich zur obligatorischen AHV „Mini-Sozialwerk“ mit nur gerade 54 000 Versicherten ist seit seiner Einführung chronisch defizitär. Der Bundesrat hatte bereits mehrmals vergeblich die Auflösung beantragt, war aber immer am Parlament gescheitert, das die Solidarität mit den Schweizer Kolonien im Ausland höher wertete als finanzielle Überlegungen. Da sich mit dem Inkrafttreten der bilateralen Verträge mit der Europäischen Union auch alle EU-Bürgerinnen und -Bürger diesem Versicherungszweig hätten anschliessen können, drängte sich eine Revision auf. Hinsichtlich der
Einschränkung des Versichertenkreises unterstützte der Ständerat die Vorschläge des Bundesrates. Danach sollten in Zukunft nur noch Personen der freiwilligen Versicherung beitreten können, die während fünf Jahren in der Schweiz versichert waren und nun in einem Land ohne Sozialversicherungsabkommen mit der Schweiz leben. Bezüglich der Höhe des Mindestbeitrags wollte er hingegen weiter gehen als die Landesregierung. Der jährliche Minimalbeitrag sollte auf den dreifachen Mindestbeitrag der obligatorischen Versicherung festgelegt werden (heute 324 Fr.); der Bundesrat hatte lediglich eine Verdoppelung vorgeschlagen
[15]. Weil nicht alle Staaten mit einem Sozialversicherungsabkommen mit der Schweiz (rund 30 Länder plus die Staaten der EU und der EFTA) eine gleichwertige Altersvorsorge anbieten, beschloss der Nationalrat, dass sich alle Personen weiter sollten versichern können, die unmittelbar vor ihrem Beitritt fünf Jahre der obligatorischen AHV unterstellt waren und jetzt in einem Nicht-EU-Staat wohnen. Aus Rücksicht auf viele ältere Schweizer Kolonien insbesondere in Südamerika, die zum Teil in prekären finanziellen Verhältnissen leben, und auf die Mitarbeiter karitativer Organisationen im Ausland, die nur über geringe Einkommen verfügen, begnügte er sich mit der Verdoppelung des Mindestbeitragssatzes. In diesem Punkt stimmte der Ständerat diskussionslos zu. Nachdem er sich aber von der Verwaltung hatte bestätigen lassen, dass der UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte eine Ungleichbehandlung von EU- und Nicht-EU-Bürgern zulässt, beschränkte er den Versichertenkreis auf
Schweizer- und EU-Bürgerinnen und -Bürger, die während mindestens fünf Jahren in der Schweiz der AHV unterstellt waren und nun
in einem Nicht-EU-Staat leben. Hier schloss sich ihm der Nationalrat an
[16].
Im Vorfeld der Beratung der 11. AHV-Revision verabschiedete die SGK des Nationalrates eine parlamentarische Initiative, wonach künftig der vollständige Ertrag aller für die AHV erhobenen
Mehrwertsteuerprozente – also auch jener des 1999 eingeführten „Demographieprozents“ – vollumfänglich dem AHV-Fonds zugute kommen müssen. In seiner Stellungnahme beharrte der Bundesrat darauf, dass weiterhin 17% dieser Einnahmen in die Bundeskasse fliessen sollen. Er begründete dies damit, dass die Höhe des Bundesbeitrages an die AHV (rund 17% deren Gesamtausgaben) ebenfalls durch die demographische Entwicklung beeinflusst werde. Das Plenum des Nationalrates war jedoch anderer Meinung. Mit 124 zu 34 Stimmen bei 15 Enthaltungen gab es, gegen den Willen der FDP und der LP, der parlamentarischen Initiative Folge
[17]. Unter dem Eindruck der beschwörenden Worte des Finanzministers lehnte es der Ständerat (trotz gegenteiligem Antrag seiner Kommission) jedoch mit 23 zu 18 Stimmen ab, auf die Vorlage einzutreten. Der Nationalrat beharrte mit 101 zu 57 Stimmen auf seinem ersten Beschluss. Die kleine Kammer liess sich von diesem klaren Entscheid zwar etwas verunsichern, aber nicht umstimmen: mit Stichentscheid der Präsidentin bestätigte sie ihren Nichteintretensentscheid, weshalb der Vorstoss von der Traktandenliste gestrichen wurde
[18].
Ende Oktober reichte die SVP ihre
Volksinitiative „Überschüssige Goldreserven in den AHV-Fonds“ mit 125 372 gültigen Unterschriften ein. Die Initiative verlangt, dass die Erträge aus den 1300 Tonnen Gold, welche die Nationalbank für ihre Geld- und Währungspolitik nicht mehr benötigt, der AHV zugute kommen. Laut SVP stünden bei der Annahme der Initiative der AHV Goldreserven von rund 20 Mia Fr. zur Verfügung; daraus liesse sich ein jährlicher Erlös von 1,5 bis 2 Mia Fr. erzielen
[19]. Der Bundesrat möchte 500 Tonnen Gold für die Solidaritätsstiftung reservieren und die restlichen 800 Tonnen vorerst alternativ für den Schuldenabbau oder für eine Bildungsinitiative einsetzen. Später sollen seiner Auffassung nach mit den Erträgen Härten aus der 11. AHV-Revision abgefedert werden (siehe unten)
[20].
Eine neue Finanzierungsquelle will ein „Komitee sichere AHV“ um Nationalrat Rechsteiner (sp, BS), alt Bundesrat Tschudi und alt SP-Präsident Hubacher mit der Bewirtschaftung des
Reingewinns der Nationalbank und mit der Einführung einer
nationalen Erbschaftssteuer erschliessen, deren Erlös vollumfänglich in den AHV-Fonds fliessen soll
[21]. Die SP zeigte sich zuerst etwas verärgert über das Vorprellen der „Basler Connection“, musste dann aber zugeben, dass damit der Partei die Möglichkeit gegeben wurde, sich gegenüber den Sozialabbauplänen der SVP (siehe oben) als Hüterin des Sozialstaats zu profilieren. Die bereits im Sommer klar gesetzte neue Parteipräsidentin und Ständerätin Brunner (GE) versprach ihre Unterstützung bei der Lancierung einer diesbezüglichen Volksinitiative
[22].
Mit einem stillschweigend überwiesenen Postulat bat die SVP-Fraktion den Bundesrat, Möglichkeiten für eine Frühpensionierung von körperlich
Schwerstarbeit verrichtenden Erwerbstätigen zu prüfen
[23]. Eine Motion Berger (fdp, NE), die verlangte, eine flexible Pensionierung ohne Leistungseinbusse sei nach 44
Beitragsjahren zu ermöglichen, da Personen, die früh in die Erwerbstätigkeit einsteigen, auch häufig jene sind, welche die härteste körperliche Arbeit verrichten, wurde hingegen vom Ständerat selbst in der vom Bundesrat angeregten Postulatsform aufgrund eines Antrags Spoerry (fdp, ZH) mit 19 zu 13 Stimmen abgelehnt. Spoerry argumentierte, der Vorschlag sei sowohl ausbildungs- wie frauenfeindlich. Bundesrätin Dreifuss konnte eine gewisse Sympathie für das Anliegen nicht verhehlen, verwies aber darauf, dass es in der Vernehmlassung zur 11. AHV-Revision mehrheitlich abgelehnt worden war, weshalb der Bundesrat diesen Weg in nächster Zukunft nicht weiter beschreiten möchte
[24].
Am 1. April 2000 trat das neue
Spielbankengesetz in Kraft. Das Gesetz ist für die AHV von Bedeutung, weil der Ertrag aus der Besteuerung der Casinos zweckgebunden der AHV zugute kommt. Nach einer gewissen Anlaufzeit wird mit einem Zufluss in den AHV-Fonds von mindestens 150 Mio Fr. pro Jahr gerechnet
[25].
Die eidgenössischen Räte hiessen die von ihren Geschäftprüfungskommissionen empfohlene Änderung der Anlagevorschriften des AHV-Ausgleichsfonds im dringlichen Verfahren gut. Damit wird es dem Verwaltungsrat des Fonds möglich sein, auch
Anlagen in ausländischen Aktien zu tätigen
[26].
Im Nachgang zur
10. AHV-Revision, wo im Gegenzug zum Rentensplitting sowie den Betreuungs- und Erziehungsgutschriften das ordentliche Rentenalter der Frauen von 62 auf 64 Jahre angehoben worden war, hatten einerseits der Schweizerische Kaufmännische Verein (SKV) und die Angestelltenverbände, andererseits die Grüne Partei je eine
Volksinitiative mit dem Ziel eingereicht, diese Erhöhung rückgängig zu machen resp. sowohl Frauen wie Männern das
flexible Rentenalter ab 62 Jahren ohne finanzielle Einbusse zu ermöglichen. Bundesrat und Parlament hatten 1998 sowohl die Initiative „für eine Flexibilisierung der AHV – gegen die Erhöhung des Rentenalters der Frauen“ (SKV und Angestelltenverbände) wie auch jene der Grünen („für ein flexibles Rentenalter ab 62 für Frau und Mann“) ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung empfohlen
[27].
In den Wochen vor der
Volksabstimmung über diese beiden Initiativen, welche am 26. November stattfand, wurde mit den gleichen Argumenten wie schon im Parlament gefochten. Das bürgerliche Komitee gegen die AHV-Initiativen, dem 156 eidgenössische Parlamentarierinnen und Parlamentarier angehörten, warnte vor den „verheerenden
finanziellen Folgen für die Zukunft dieses Sozialwerks“. Die Befürworter erklärten dagegen, die von den Bürgerlichen beschworenen Katastrophenszenarien seien auf dem Hintergrund der Konjunkturflaute der letzten Jahre zu sehen; der wirtschaftliche
Wiederaufschwung habe bereits im Vorjahr zu einem bedeutend besseren Rechnungsabschluss geführt als erwartet, und für das laufende Jahr seien bereits wieder schwarze Zahlen absehbar. Eine flexible Ruhestandsrente ab 62 Jahren entspreche den
Realitäten des Arbeitsmarktes, da heute jede 5. Person über 60 freiwillig oder gezwungenermassen aus dem Erwerbsleben ausscheidet; es sei ein Akt der Solidarität der Einkommensstärkeren und Gesunden mit den Schlechtergestellten und könne finanziell verkraftet werden
[28].
Angesichts der geschlossenen bürgerlichen Opposition erreichten die beiden Initiativen mit 39,5% (SKV) resp. 46,0% (GP) Ja-Stimmen einen
Achtungserfolg. Die Initiative der GP wurde von sämtlichen Kantonen der Romandie und dem Tessin angenommen, bei jener des SKV stellte sich der Kanton Wallis auf die ablehnende Seite der Deutschschweiz. Das relativ knappe Nein der Initiative der GP werteten sowohl die Gewinner als auch die Verlierer als
Signal für eine Flexibilisierung des Rentenalters. Allerdings waren sich die Kontrahenten weiterhin nicht einig über den Weg: die bürgerlichen Parteien verlangten nach wie vor eine kostenneutrale Lösung, das links-grüne Lager eine sozialverträgliche. Der Bundesrat zeigte sich besorgt über den erneut zu Tage getretenen „Röstigraben“ in sozialpolitischen Fragen
[29].
Volksinitiative „für eine Flexibilisierung der AHV – gegen die Erhöhung des Rentenalters der Frauen“
Abstimmung vom 26. November 2000
Beteiligung: 41,7%
Ja: 756 337 (39,5%) / 6 Stände
Nein: 1 159 794 (60,5%) / 14 6/2 Stände
Parolen:
– Ja: SP, EVP, CSP, GP, Lega; SGB, CNG, VSA.
– Nein: FDP, CVP, SVP, LP, SD, EDU, FPS, KVP; Economiesuisse, SGV, SBV.
Die
Vox-Analyse dieses Urnengangs zeigte ein altbekanntes Muster. Eine Mehrheit der Befragten hätte sich zwar gerne
für eine Flexibilisierung des Rentenalters ausgesprochen und die Erhöhung des Rentenalters der Frauen rückgängig gemacht, lehnte die Initiativen jedoch ab, weil die
Kostenfrage ungelöst schien. Unklar blieb auch nach dieser Untersuchung, weshalb die Flexibilisierungsinitiative des Kaufmännischen Vereins mit 39,5% Ja klar schlechter abschnitt als jene der Grünen mit 46% Zustimmung. Es wurde vermutet, dass letztlich der eindeutigere Titel den Ausschlag gegeben hatte, resp. der Vorschlag der Grünen, auch nur eine vorgezogene Teilrente beziehen zu können. Insgesamt nahmen Stimmende aus der
lateinischen Schweiz sowie Bürgerinnen und Bürger mit einer
links-grünen politischen Ausrichtung die Initiativen deutlich an. Deutschschweizer und Bürgerliche, Rechtskonservative sowie Stimmende ohne Parteiaffinität verwarfen sie hingegen. Personen im Rentenalter lehnten sie überdurchschnittlich ab
[30].
Volksinitiative „für ein flexibles Rentenalter ab 62 für Frau und Mann“
Abstimmung vom 26. November 2000
Beteiligung: 42,0%
Ja: 885 772 (46,0%) / 7 Stände
Nein:1 038 985 (54,0%) 13 6/2 Stände
Parolen:
– Ja: SP, EVP, CSP, GP, Lega; SGB, CNG, VSA.
– Nein: FDP, CVP, SVP, LP, SD, EDU, FPS, KVP; Economiesuisse, SGV, SBV.
Nach mehrmaliger Verschiebung leitete der Bundesrat Anfang Februar dem Parlament seine Botschaft zur 11. AHV-Revision zu. Die Vorlage stützte sich auf das 1998 einer Vernehmlassung unterzogene erste Projekt, auf die Zwischenentscheide des Bundesrates von Ende März 1999 sowie auf eine neue Gesamtschau zur Weiterentwicklung der Sozialversicherungen bis zum Jahr 2025 (siehe oben). Im Zentrum der Revision stehen die finanzielle Konsolidierung sowie die Anpassung an neue gesellschaftliche Realitäten. Durch Sparmassnahmen und Mehreinnahmen soll die AHV/IV-Rechnung um rund 1,2 Mia Fr. pro Jahr entlastet werden. Als Zusatzfinanzierung möchte der Bundesrat die Mehrwertsteuer ab 2003 um 1,5 Prozentpunkte erhöhen (1% für die IV, 0,5% für die AHV). Wenn die Reserven des AHV-Ausgleichsfonds unter die Schwelle von 70% einer Jahresausgabe sinken, soll zur Ergänzung des bereits 1999 eingeführten „Demographieprozents“ ein weiterer halber Prozentpunkt zu Gunsten der AHV erhoben werden. Weitere Mehreinnahmen ergeben sich durch die Heraufsetzung des Beitragssatzes der Selbstständigerwerbenden und durch die Aufhebung des Freibetrags für erwerbstätige Rentnerinnen und Rentner. Einsparungen entfallen auf die Erhöhung des gesetzlichen Rentenalters der Frauen von 64 auf 65 Jahre, die schrittweisen Einschränkung des Anspruchs auf eine Witwenrente sowie auf den von zwei auf drei Jahre verlangsamten Teuerungsausgleich auf den Renten. Die rund 400 Mio Fr., die sich aus den Einsparungen durch das höhere Frauenrentenalter ergeben, werden für die Finanzierung eines sozial verträglich ausgestalteten flexiblen Altersrücktritts verwendet. Bis zuletzt hatte sich Bundesrätin Dreifuss für 600 Mio Fr. eingesetzt. Einige Wochen später vertrat der Bundesrat in seiner Botschaft zur Verwendung der überschüssigen Goldreserven der Nationalbank die Meinung, dass ein Teil davon zur sozialen Abfederung der 11. AHV-Revision im Bereich Rentenalter und Witwenrente eingesetzt werden könnte. Einen entsprechenden Antrag stellte er aber nicht, da es in einem ersten Schritt darum gehe, den legalen Rahmen für die Solidaritätsstiftung zu schaffen.
Die Vorschläge fanden in keinem parteipolitischen oder sozialpartnerschaftlichen Lager Zustimmung.
Arbeitgeber- und
Gewerbeverband lehnten sowohl die Erhöhung des Mehrwertsteuersatzes als auch Zusatzleistungen für tiefere Einkommen beim flexiblen Altersrücktritt ab. Die
FDP erklärte, sie würde der Flexibilisierung nur zustimmen, wenn diese kostenneutral ausgestaltet werde, während sich die
SVP grundsätzlich dagegen stemmte. Gleich wie die FDP verlangte auch die
CVP eine Gesamtschau sämtlicher Sozialversicherungen; nur wenn diese vorliege, sei sie überhaupt bereit, auf die Vorlage einzutreten. Ganz anders reagierte die
SP. Sie sprach von einem schwer wiegenden Sozialabbau, der vor allem die Frauen treffe. Der
SGB bezeichnete die Vorlage als unausgewogen; sie bringe nur den Ärmsten und den Reichsten etwas, den Normalverdienenden aber wenig bis nichts. Der
CNG erachtete die Vorlage als generelle Demontage der AHV und drohte offen mit dem Referendum
[31].
Im Frühjahr nahm die
Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit
des Nationalrates die Beratung dieser Vorlage auf. Sie verlangte vom BSV eine Reihe von
Zusatzberichten zu den gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aspekten der Revision sowie zur Koordination mit der 1. BVG-Revision (siehe unten). Mehr wissen wollte sie insbesondere über die finanzielle Entwicklung der AHV, die Situation der Frauen, die wirtschaftliche Bedeutung der Witwen- und Witwerrente sowie die Lage der über 60-Jährigen auf dem Arbeitsmarkt. Auskunft verlangte sie auch darüber, ob das Leistungsprofil des BVG dem Verfassungsauftrag (Fortsetzung der gewohnten Lebenshaltung) noch entspricht
[32]. Beim Ausbau der Finanzierung über
Mehrwertsteuerprozente folgte die SGK grundsätzlich dem Bundesrat, lehnte es aber ab, gleichzeitig mit dieser Vorlage auch die Finanzierung der IV zu regeln. Sie bekräftigte zudem ihren Willen, die Einnahmen aus den für die AHV bestimmten Mehrwertsteuerprozenten vollumfänglich dieser zukommen zu lassen (siehe oben)
[33]. Den Vorschlag, den Beitragssatz der Selbstständigerwerbenden von 7,8 auf 8,1% zu erhöhen und den Freibetrag für Rentner aufzuheben, hiess sie trotz Opposition aus Gewerbekreisen gut. Andere Weichenstellungen als der Bundesrat nahm sie dagegen bei den
Witwenrenten vor, welche sie weniger stark abbauen wollte. Nach dem Modell der Kommission soll eine Witwe einen unbefristeten Rentenanspruch haben, wenn sie über 45 Jahre alt ist, bevor das jüngste Kind das 18. Altersjahr vollendet hat; der Bundesrat hatte die Altersgrenze bei 50 Jahren angesetzt. Für die laufenden Renten beschloss die SGK die volle Besitzstandsgarantie; der Bundesrat hatte lediglich eine Schonfrist von drei Jahren vorgesehen. Damit niemand durch die Maschen fällt, sollen nach dem Vorschlag der Kommission Witwen und Witwer in prekären finanziellen Verhältnissen Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben – unabhängig davon, ob sie eine Verwitwetenrente beziehen oder nicht. Aus Rücksicht auf die anstehende Volksabstimmung über die beiden Rentenalterinitiativen (siehe oben) beschloss die SGK, die Frage des flexiblen Rentenalters erst im kommenden Jahr zu behandeln
[34].
Um die notwendigen wissenschaftlichen Grundlagen für die Arbeiten an der 12. AHV-Revision zu erhalten, beantragte der Bundesrat dem Parlament die Mittel für ein
mehrjähriges Forschungsprogramm zur
längerfristigen Sicherung der Altersvorsorge. Prioritär behandelt werden darin die Flexibilisierung des Altersrücktritts, die Partizipation insbesondere der Frauen und der älteren Arbeitnehmenden am Arbeitsmarkt sowie der längerfristige Finanzierungsbedarf der AHV und mögliche Finanzierungsquellen. Geringere Priorität räumte der Bundesrat Fragen nach der Absicherung nicht-traditioneller Erwerbs- und Familienbiographien, der Bedeutung der Aus- und Weiterbildung für die Beschäftigungschancen älterer Arbeitnehmer sowie nach in- und ausländischen Erfahrungen mit vorzeitiger Teilpensionierung ein. Nicht weiter verfolgen wollte er das Thema der Langzeitpflege, das nur punktuell mit der Alterssicherung als solcher in Beziehung steht, und zu dem heute die Daten weitgehend fehlen
[35].
Die Vertreter der bürgerlichen Parteien im
Nationalrat, die mehrmals lautstark besseres Grundlagenmaterial zur Vorbereitung wichtiger sozialpolitischer Entscheide verlangt hatten, wehrten sich, weil „die AHV-relevanten Zahlen seit den IDA-FiSo-Berichten bekannt sind“ (Bangerter, fdp, BE) gegen die im Hinblick auf das Forschungsprogramm vom Bundesrat im Budget 2001 beantragten
Kredite für das BFS und das BSV. Bundesrat Villiger anerkannte, dass mit IDA-FiSo 1 und 2 einiges gemacht worden sei, verwies aber darauf, dass es hier nicht nur um die Finanzierung der AHV gehe, sondern um weitere Erkenntnisse vor allem in Bezug auf den Umgang mit einer alternden Gesellschaft. Beim BFS setzte sich ein Antrag der Präsidentin der nationalrätlichen SGK Dormann (cvp, LU) vorderhand durch, den vom Bundesrat verlangten Kredit nicht zu kürzen. Sie verwies darauf, dass die SGK zu Beginn ihrer Beratung der 11. AHV-Revision einstimmig eine Motion verabschiedet habe, die den Bundesrat beauftragen will, eine Versichertenstatistik aufzubauen, die mittel- und langfristig Auskunft über die soziale Absicherung der Bevölkerung bzw. über die Bedarfslage und die sozialen Risiken in der Schweiz gibt. Nach wie vor fehlten
statistische Grundlagen zur Altersvorsorge der aktiven Bevölkerung nach Branche, Alter, Familienform und Lebenssituation, ebenso flächendeckende Angaben zur Einkommenssituation der Rentnerinnen und Rentner. Das Parlament könne nicht immer wieder die Bereitstellung von Datenmaterial verlangen, wenn es nicht bereit sei, dem BFS die dafür notwendigen Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Ihr Antrag setzte sich mit 100 zu 71 Stimmen gegen den Kürzungsantrag der Finanzkommission durch. Hingegen obsiegte die Kommissionsmehrheit mit ihrem Kürzungsantrag beim Kredit des BSV für Dienstleistungen Dritter im Bereich der Forschung mit 99 zu 68 Stimmen
[36].
Im
Ständerat fand dann ein Entscheid mit umgekehrten Vorzeichen statt. Weil Bundesrat Villiger nun die Ansicht vertrat, das BFS könne auch mit einem auf mehrere Jahre verteilten Kredit seine Aufgaben – wenn wohl auch verzögert – wahrnehmen, stimmte die kleine Kammer der Kürzung zu. Beim BSV beschloss sie aber, dem ursprünglichen Antrag des Bundesrates zu folgen, da es nicht nur um Forschungen zur AHV, sondern auch zur IV, wo die starke Zunahme der Rentner einen Erklärungsbedarf ausweise, sowie zur Krankenversicherung gehe
[37]. Beim Kredit des BFS stimmte der Nationalrat stillschweigend dem Ständerat zu, bei jenem des BSV mit 88 zu 58 Stimmen
[38].
[15]
AB SR, 2000, S. 95 ff. Siehe
SPJ 1999, S. 269 f. Da ihn die Defizite der Auslandschweizer-AHV, die auch mit der Änderung bestehen bleiben, beunruhigten, verabschiedete der SR ein Postulat seiner SGK, das anregt, mittelfristig die Einführung einer selbständigen Versicherung (allenfalls mit einem angemessenen Solidaritätsbeitrag) zu prüfen (
a.a.O., S. 101). 15
[16]
AB NR, 2000, S. 630 ff., 832 und 852;
AB SR, 2000, S. 385 und 477;
CHSS, 2000, S. 324 f. 16
[17]
AB NR, 2000, S. 872 ff. Der Anteil des Bundes am „Demographieprozent“ hatte schon bei dessen Beratung Anlass zu Diskussionen gegeben (
SPJ 1998, S. 260). 17
[18]
AB SR, 2000, S. 761 ff. und 892 ff.;
AB NR, 2000, S. 1414 ff. 18
[19]
BBl, 2000, S. 5912 f. 19
[20]
BBl, 2000, S. 3979 ff. Zum Nationalbankgold und der Solidaritätsstiftung siehe auch oben, Teil I, 1a (Grundfragen). 20
[21] Presse vom 10.4. und 12.4.00. 21
[23]
AB NR, 2000, S. 1197. 23
[24]
AB SR, 2000, S. 522 ff. Auch die SP und die Gewerkschaften favorisieren ein Modell, das sich an den Beitragsjahren orientiert, da damit die je nach Branche unterschiedlichen Abnützungserscheinungen der Arbeitnehmer mitberücksichtigt werden könnten (
SoZ, 27.8.00;
LT, 28.8.00; Presse vom 29.8.00). Siehe oben, Teil I, 7a (Arbeitswelt). 24
[25]
CHSS, 2000, S. 45. Siehe dazu oben, Teil I, 4a (Strukturpolitik). 25
[26]
BBl, 2000, S. 3971 ff.;
AB NR, 2000, S. 871 f. und 1207;
AB SR, 2000, S. 194 (Motion GPK), 522 und 720; Presse vom 6.6.00. Siehe
SPJ 1999, S. 270. 26
[27]
SPJ 1998, S. 258. 27
[28] Presse vom 16.5. und 26.9.-25.11.00. Nach Ansicht von BR Dreifuss waren in diesem Zahlenstreit die Annahmen der Gegner zu pessimistisch, weil sie die Sparanstrengungen der 11. AHV-Revision nicht berücksichtigten, jene der Befürworter jedoch insofern zu optimistisch, als sie auf der momentanen konjunkturellen Erholung basierten sowie auf Sparmassnahmen, die das Parlament noch gar nicht beschlossen habe (Presse vom 18.10.00). 28
[29]
BBl, 2001, S. 1141 ff.; Presse vom 27.11.00. 29
[30] Sidler, Andreas et al.,
Analyse der eidg. Abstimmung vom 26. November 2000, VOX Nr. 72, Zürich 2001. 30
[31]
BBl, 2000, S.1865 ff. (11. AHV-Revision) und 3979 ff. (Goldreserven);
CHSS, 2000, S. 5 ff.; Presse vom 3.2.00. Siehe
SPJ 1999, S. 270 f. 31
[32]
NZZ, 11.4.00. Die Zusatzberichte finden sich auf der Homepage des BSV: www.bsv.admin.ch. 32
[33] Presse vom 20.5.00. FDP-Parteipräsident Steinegger sprach sich für eine generelle Erhöhung des Rentenalters auf 66 oder 67 Jahre aus anstatt einer Anhebung der Mehrwertsteuer (Presse vom 18.7.00). Er nahm damit Überlegungen der beiden freisinnigen Bundesräte Villiger und Couchepin auf, die bereits im Vorjahr ein Pensionsalter „65 plus“ zur Diskussion gestellt hatten (
SGT, 19.7.00). Die welschen Freisinnigen distanzierten sich von den Aussagen Steineggers, die sie als für ihre Wählerschaft verunsichernd bezeichneten (
LT, 20.7.00). 33
[34]
Bund, 6.5.00; Presse vom 8.9., 27.10., 9.11. und 11.11.00. Gegen einen Abbau bei den Witwenrenten wehrten sich nach der SP auch die Frauenorganisationen der bürgerlichen Parteien FDP und CVP, die fanden, eine gänzliche Abkehr vom Versorgerprinzip beim Aufbau der Altersvorsorge sei nicht reif, solange es nicht bessere Strukturen für die Erwerbstätigkeit von Müttern (insbesondere ausserhäusliche Kinderbetreuung) gebe (
Bund, 6.5.00). NR Egerszegi (fdp, AG) regte an, die Witwer- und Witwenrenten analog zu den EL nur noch finanzschwachen Personen und nicht mehr nach dem Gieskannenprinzip auszurichten (
AZ, 18.8.00). 34
[35] Presse vom 13.4. und 5.12.00. Für mehr Details zum Forschungsprogramm siehe
CHSS, 2000, S. 316 f. sowie die Homepage des BSV: www.bsv.admin.ch. Da die Eckdaten des Forschungsprogramms und dessen Ausrichtung auf den Zeithorizont 2025 in der Herbstsession bereits bekannt waren, wurde eine Motion der SVP-Fraktion, die ein Konzept zur Sicherung der Altersvorsorge über das Jahr 2010 hinaus verlangte, nur als Postulat überwiesen (
AB NR, 2000, S. 1192). 35
[36]
AB NR, 2000, S. 1256 ff. Motion SGK: Geschäft 00.3421. 36
[37]
AB SR, 2000, S
. 829 f. 37
[38]
AB NR, 2000, S. 1407 ff. 38
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