Année politique Suisse 2002 : Bildung, Kultur und Medien / Bildung und Forschung
 
Grundschulen
Eine komplette Übersicht zu den Revisionen der kantonalen Gesetze im Bildungsbereich befindet sich im Teil II, 6a-d.
Die EDK stimmte im Juni dem auf mehrere Jahre angelegten Projekt „Harmonisierung der obligatorischen Schule“ (HarmoS) zu. Durch die Definition von Kompetenzniveaus, die zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht werden müssen, soll HarmoS die schweizerische Schulkoordination entscheidend voranbringen und massgeblich zur Qualitätsentwicklung der Volksschule beitragen. In einem ersten Schritt werden in wissenschaftlichen Projekten mess- und überprüfbare Kompetenzbeschreibungen (Standards) für Sprachen (Erst- und Fremdsprache), Mathematik und Naturwissenschaften entwickelt. In einem zweiten Schritt werden die zu erreichenden Kompetenzniveaus für das Ende des zweiten, sechsten und neunten Schuljahres festgelegt. Die Vorgaben, die in einem weiteren Schritt auf die Bildungsbereiche Geschichte und Politik, Geographie, musische Fächer und Sport ausgedehnt werden, sollen in eine interkantonale Vereinbarung aufgenommen und damit für verbindlich erklärt werden [3].
Da jede zehnte Person in der Schweiz beim Abschluss der obligatorischen Schulpflicht nicht richtig lesen und schreiben kann [4], gab das Bundesamt für Kultur (BAK) eine Untersuchung über Hintergründe und Folgen des als Illetrismus bezeichneten Phänomens in Auftrag. Die Autorinnen der Studie sprachen von einer eigentlichen „Diskriminierungskette“: Menschen mit Leseproblemen würden gerade in einer Informationsgesellschaft noch stärker ausgeschlossen, weil diese immer höhere Anforderungen an das Verständnis von Texten stellt; das Selbstvertrauen der Betroffenen sinke, ihre Berufswahl sei eingeschränkt und die Weiterbildungsmöglichkeiten tendierten gegen null. Dadurch werde auch der gesellschaftliche Zusammenhalt brüchiger, die Entwicklung zu einer Zweiklassengesellschaft beschleunige sich. Letztlich werde die Schweiz dadurch auch wirtschaftlich weniger konkurrenzfähig. Als erste Massnahme regte das BAK eine breite Sensibilisierungskampagne an, um das Tabu, das den Illetrismus nach wie vor umgibt, zu brechen. Eine bessere Erforschung der Ursachen soll die nötigen Gegenmassnahmen erleichtern, darunter die Prävention auf allen Schulstufen, aber auch den Ausbau von Weiterbildungskursen für Erwachsene [5].
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Schulreformen und -modelle
Im Kanton Zürich wollte der abtretende Bildungsdirektor Buschor (cvp) die Volksschule einer grundlegenden Reform unterziehen. Die Schulpflicht sollte zwecks Schaffung einer Basisstufe (Zusammenfassung von zweijährigem Kindergarten sowie 1. und 2. Klasse) um ein Jahr auf zehn Jahre verlängert, das Pilotprojekt mit Englisch- und Computerunterricht ab der 3. Primarklasse auf den ganzen Kanton ausgedehnt und für den vormittäglichen Unterricht verbindliche Blockzeiten eingeführt werden. Vorgeschlagen war auch eine grössere Autonomie der einzelnen Schulen, die Abschaffung der Bezirksschulpflege und ihre Ersetzung durch eine Fachstelle, ein Mitwirkungsrecht der Eltern (verbunden mit Elternpflichten), die spezielle Förderung multikultureller Schulen, ein verstärkter Einbezug sonderpädagogischer Angebote in den normalen Schulbetrieb sowie die Neuregelung der Schulversuche. Obgleich im Kantonsrat mit Ausnahme der SVP und der EVP alle die Vorlage unterstützt hatten, bildete sich quer durch die Parteien ein sehr aktives Nein-Komitee, das im Wesentlichen gegen die Einführung der Basisstufe und die Abschaffung der Bezirksschulpflege kämpfte. Die linken Gegner kritisierten zudem, das neue Gesetz richte sich einseitig nach den Forderungen der Wirtschaft. Die Argumente des Nein-Komitees schienen vor allem in den ländlichen Gebieten auf fruchtbaren Boden zu fallen. Während die Stadt Zürich das neue Volksschulgesetz mit 58,6% Ja-Stimmen annahm, wurde es vom Kanton mit 52,2% Nein-Stimmen verworfen. Die Abschaffung der Bezirksschulpflege, die eine Verfassungsänderung nötig machte, weshalb sie dem Volk in einer separaten Vorlage unterbreitet wurde, erhielt hingegen Zustimmung (52,6% Ja), gleich wie die ebenfalls gesondert vorgelegte Neuregelung der Schulversuche (58,7%). Wenige Tage nach der Abstimmung reichten Vertreterinnen und Vertreter der FDP, SP, CVP und der Grünen eine parlamentarische Initiative mit den unbestrittenen Elementen des Volksschulgesetzes ein (Teilautonomie der Schulen, professionelle Schulaufsicht). Da in erster Linie die Basisstufe zur Niederlage in der Abstimmung geführt hatte, verlangt die Initiative einen kantonsweit einheitlich geregelten Kindergarten, wobei der Besuch eines der beiden Jahre obligatorisch sein soll [6].
Neun Kantone vornehmlich aus der Ostschweiz (AG, AI, AR, GL, GR, SG, SH, TG, ZH) sowie Liechtenstein beteiligen sich ab dem Schuljahr 2002/03 an den Schulversuchen zur Grund- und Basisstufe. Die Grundstufe umfasst zwei Kindergartenjahre und das erste Primarschuljahr, die Basisstufe zwei Kindergartenjahre und die ersten zwei Primarschuljahre. Die Grundstufe kann in minimal zwei und maximal vier Jahren durchlaufen werden, die Basisstufe in minimal drei und maximal fünf Jahren – in beiden Stufen je nach Entwicklungsstand des Kindes [7].
Seit Beginn des Schuljahres 2002/03 können im Kanton Bern renitente Schülerinnen und Schüler während maximal zwölf Wochen vom Unterricht ausgeschlossen werden, wobei allein die Eltern verpflichtet sind, während dieser Zeit für eine angemessene Beschäftigung ihrer Kinder zu sorgen. 18 Mütter und Väter reichten gegen den neuen Artikel des Volksschulgesetzes beim Bundesgericht eine staatsrechtliche Beschwerde ein. Sie machten geltend, ein derart langer Ausschluss ohne begleitende Massnahmen der Behörden verstosse gegen den grundrechtlichen Anspruch auf Schulunterricht und erschwere die Reintegration in die Regelklasse. Das Bundesgericht verneinte zwar eine Grundrechtsverletzung, weil die teilweise Einschränkung des Leistungsanspruchs durch ein öffentliches Interesse oder durch den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt erscheinen könne, weshalb es die Beschwerde abwies. Allerdings stimmte es mit den Beschwerdeführern überein, dass ein Schulausschluss aus pädagogischer und jugendpsychologischer Sicht in Fachkreisen umstritten sei und sich die Dauer von zwölf Wochen „im oberen Teil des Vertretbaren“ bewege. Zudem befanden die Richter, bei einem derart langen Ausschluss dürfe auf eine fachliche Begleitung nicht verzichtet werden [8].
In Basel wird ab dem Schuljahr 2003/2004 in allen Volksschulen bis zum 7. Schuljahr in Blockzeiten unterrichtet. Damit wird Basel-Stadt der erste Deutschschweizer Kanton mit einer derart umfassenden Blockzeitenregelung [9]. Im Kanton Basel-Land fand das Prinzip der Blockzeiten ebenfalls Eingang ins neue Bildungsgesetz, doch kann den Gemeinden erlaubt werden, davon Ausnahmen zu machen [10].
Die Kantone Uri, Ob- und Nidwalden sowie Schwyz entschieden, vom Schuljahr 2005/06 an ab der 3. Klasse Englisch als erste Fremdsprache unterrichten zu lassen [11]. An den Tessiner Schulen wird Englisch künftig obligatorisch; Priorität im Fremdsprachenunterricht behalten aber Französisch und Deutsch [12]. Die Ostschweizer Kantone beschlossen, Frühenglisch koordiniert einzuführen, liessen den Zeitpunkt aber noch offen; die Nordwestschweizer Kantone bleiben bei Französisch als erster Fremdsprache, wollen den Beginn des Fremdsprachenunterrichts aber ebenfalls vorziehen. Übereinstimmend betonten die regionalen Erziehungsdirektorenkonferenzen der Deutschschweiz, es sei dringender, die Konsequenzen aus der PISA-Studie im Bereich der Muttersprache zu ziehen als Ressourcen in den frühen Fremdsprachenunterricht zu investieren [13].
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Lehrerschaft und Lehrerbildung
Erstmals in der Schweiz wurde im Kanton Basel-Stadt eine umfassende Analyse der Arbeitsbedingungen, Belastungen und Befindlichkeiten der Lehrerschaft durchgeführt. Erfasst wurden alle Lehrpersonen von den Kindergärten bis zu den Gymnasien sowie KV und Berufsschulen. Positiv fiel auf, dass der Beruf an sich vor allem hinsichtlich Verantwortung, Anforderungsvielfalt und Tätigkeitsspielraum durchaus geschätzt wird. Als Defizite im Berufsalltag wurden die fehlende Kultur der Offenheit und Toleranz, geringe Mitsprachemöglichkeiten und das eher niedrige Niveau der Löhne genannt. Zu schaffen machte der Lehrerschaft aber vor allem die zunehmende Belastung. 71% der Lehrkräfte erachteten das Verhalten schwieriger Schülerinnen und Schüler als stark bis sehr stark belastend. Es folgten die Heterogenität der Klasse (55%), Verpflichtungen ausserhalb des Unterrichts (54%) und administrative Pflichten (53%). Auf die zunehmende Belastung zurückgeführt wurde, dass sich bei fast einem Drittel der Lehrkräfte Merkmale des Burnout-Syndroms – emotionale Erschöpfung (29,6%), reaktives Abschirmen (27,4%) und verminderte Zuwendungsbereitschaft gegenüber Schülern (21,6%) zeigten. Als Verbesserungen wünschten sich die befragten Lehrpersonen eine zeitliche Entlastung für Aufgaben ausserhalb des Unterrichts (85%), mehr Geld für die Schule (81%), eine Reduktion der Pflichtstundenzahl und vermehrte Unterstützung (je 76%), ein besseres Image der Schule (68%) und eine Verkleinerung der Klassengrössen (62%) [14].
Eine vom Dachverband der Schweizer Lehrerinnen und Lehrer (LCH) in Auftrag gegebene Studie über die Zufriedenheit von Deutschschweizer Lehrpersonen kam zu einem ähnlichen Befund. Wichtigstes Resultat war, dass die Attraktivität des Pädagogenberufs weiter abnimmt. Nur noch etwa zwei Drittel aller Lehrer (71%) würden sich noch einmal für diesen Beruf entscheiden. Das sind 4% weniger als bei einer 1990 durchgeführten Umfrage. Besonders ausgeprägt ist der Schulfrust bei Lehrkräften mit Vollpensum, bei männlichen Pädagogen und bei Lehrern an der Oberstufe (7. bis 9. Schuljahr). Wie die Studie zeigte, macht den Lehrern vor allem das veränderte soziale Umfeld zu schaffen. Die Zunahme von erzieherischen Aufgaben erschwert den Unterricht und schafft Stress. Der wachsende Reformdruck bringt zusätzliche Unruhe in die Klassen und absorbiert Energien, die beim eigentlichen Kerngeschäft fehlen. Auf die Motivation drücken zudem das schlechte Image des Lehrerberufs, fehlende Aufstiegschancen und stagnierende Löhne [15].
Die von der EDK im Vorjahr eingesetzte „Task Force Lehrerberufsstand“, die Masnahmen zur Attraktivitätssteigerung des Lehrerberufs erarbeiten sollte, stellte im Sommer ihre Vorschläge in Form von neun Thesen vor. Viele Betroffene meinten allerdings, die Thesen seien ein ziemlich nebulöses Konstrukt mit vielen geschwollenen Begriffen („Gesellschaftsarbeiterin“, „Menschenbildnerin“, „Agentin der sozialen Integration“, „Kulturwirt“). Nur eine einzige These des Papiers war der eigentlichen Kernkompetenz des Lernens und Lehrens gewidmet. Sie enthielt zumindest eine klare Forderung: Der Allrounder, der von allem ein bisschen kann, gehört der Vergangenheit an. Lehrer sollen künftig Fachleute mit individuellem Profil sein. Das sei die beste Garantie, dass der Pädagogenberuf nicht mehr in eine Sackgasse führe und ausgebrannte Lehrer noch umsteigen könnten [16].
Einstimmig überwies der Ständerat eine Empfehlung seiner WBK, die den Bundesrat ersucht, das Schweizerische Institut für Berufspädagogik in das System der schweizerischen Hochschulen zu integrieren [17].
 
[3] Presse vom 21.6.02. Der NR überwies ein Postulat Widmer (sp, LU) für eine systematische Evaluation der schulischen Grundkompetenzen (AB NR, 2002, S. 461).
[4] Die Zahlen beruhen auf einer Studie, welche die OECD in den 90er Jahren durchgeführt hat; mit ihren Werten befand sich die Schweiz im europäischen Mittelfeld.
[5] Lit. Vanhooydonck / Grossenbacher; Presse vom 11.6.02. Die EDK beschloss, nichts zu überstürzen bezüglich der in der PISA-Studie zutage getretenen Leseschwäche der Schweizer Schülerinnen und Schüler; sie will entsprechende Massnahmen erst 2003 nach fundierten Abklärungen vorstellen (Presse vom 8.3.02). Zu einer Expertentagung über die PISA-Studie siehe BaZ, 16.8.02; BZ, 17.8.02.
[6] NZZ und TA, 19.1., 27.3., 29.5., 21.6., 7.9., 25.11., 26.11. und 3.12.02. Eine Nachbefragung der Stimmenden zeigte, dass das Volksschulgesetz vor allem daran gescheitert ist, dass es gleichentags mit der Asylinitiative der SVP zur Abstimmung gelangte. Diese mobilisierte besonders konservative und ältere Stimmberechtigte (TA, 19.12.02). Eine Motion Gutzwiller (fdp, ZH) für eine generelle Einschulung im 6. Altersjahr wurde in der Postulatsform verabschiedet (AB NR, 2002, S. 301 ff.).
[7] AZ, 5.3.02; NZZ, 8.6.02.
[8] Bund, 22.1.,13.11. und 21.12.02. Andere Kantone prüfen ebenfalls einen Schulausschluss auf Zeit, allerdings in weit geringerem Umfang oder mit begleitenden Massnahmen. AG: AZ, 16.12. und 17.12.02; BS: BaZ, 14.2. und 4.12.02; TI: CdT, 9.1. und 26.11.02. Im Kanton Zürich sah das abgelehnte Volksschulgesetz einen Ausschluss von maximal vier Wochen vor. Zu ersten Erfahrungen des Kantons St. Gallen mit seinen „Besonderen Unterrichts- und Betreuungsstätten“ siehe SGT, 13.12.02. Vgl. SPJ 2001, S. 218 f.
[9] Presse vom 4.12.02.
[10] BaZ, 19.4., 7.9., 23.9. und 30.11.02.
[11] NLZ, 14.2., 24.5. und 29.9.02; Bund, 26.9.02.
[12] CdT, 23.4., 29.5., 29.8. und 17.10.02.
[13] Bund und TA, 30.10.02; LT, 1.11.02. Die Erziehungsdirektorenkonferenz der Romandie und des Tessins verlangten in der Vernehmlassung zum neuen Sprachengesetz, dass dieses eine Landessprache als erste Fremdsprache vorschreiben soll (siehe unten, Teil I, 8b,Sprachenpolitik).
[14] NZZ, 31.1.02.
[15] Presse vom 5.11.02.
[16] TA, 30.8.02. Siehe SPJ 2001, S. 219 f.
[17] AB SR, 2002, S. 529 f.