Année politique Suisse 2004 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
 
Gesundheitspolitik
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Allgemeine Fragen
Die Komplementärmedizin soll politisch und rechtlich verankert und der Schulmedizin gleichgestellt werden. Das verlangt eine Volksinitiative, die Ende September lanciert wurde. Bund und Kantone sollen im Rahmen ihrer Zuständigkeiten für die umfassende Berücksichtigung der Komplementärmedizin sorgen. Das Volksbegehren will die alternativen Heilmethoden definitiv in der Grundversicherung nach KVG verankern und den Stellenwert der Komplementärmedizin in der Ausbildung, in Lehre und Forschung verbessern. Hinter dem Begehren stehen Organisationen der ärztlichen und nichtärztlichen Komplementärmedizin, Patientenorganisationen, Wissenschafter, Exponenten von Krankenversicherern und Vertreter der nationalen und kantonalen Politik, so etwa die Nationalräte Günter (sp, BE) und Müller (gp, AG), Nationalrätin Hollenstein (gp, SG), Ständerätin Sommaruga (sp,BE) sowie alt Bundesrat Otto Stich [1].
Über ein Drittel der Schweizer Bevölkerung ist übergewichtig. Dieser alarmierende Befund veranlasste das Bundesamt für Gesundheit (BAG), eine Studie zur Abschätzung der medizinischen und volkswirtschaftlichen Kosten der Fettleibigkeit in Auftrag zu geben. Auch vorsichtig geschätzt, betragen diese rund 2,7 Mia Fr. pro Jahr resp. 370 Fr. pro Einwohner. Darin sind die indirekten Kosten (Leiden der Betroffenen und ihrer Angehöriger) nicht enthalten [2].
Frauen verursachen weniger Gesundheitskosten als bisher angenommen. Zu diesem Schluss kam eine Untersuchung des Gesundheitsobservatoriums Schweiz und des BAG. Zwar beziehen Frauen mehr Leistungen als Männer, doch ist die Differenz zu Lasten der Frauen eine Folge der längeren Lebenserwartung sowie der Kosten für Schwangerschaft und Geburt. Auch werden Ausgaben als Folge der Gewalt gegen Frauen (1998: 134 Mio Fr.) einseitig diesen zugeordnet. Stellt man diese Faktoren in Rechnung, so verursachen Frauen auf ein durchschnittliches Lebensjahr bezogen nur geringfügig höhere Kosten als Männer. Andererseits tragen sie weit mehr als die Männer zur Entlastung des Gesundheitswesens bei, da sie zu Hause bedeutend stärker in der Pflege engagiert sind als die Männer [3].
Laut einer weiteren Studie des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums leidet jeder zweite Einwohner der Schweiz zumindest einmal im Leben an einer psychischen Störung; jeder Zehnte begeht einen Selbstmordversuch. Dennoch gebe es keinen Gesundheitsbereich, der durch ähnlich viele Vorurteile geprägt sei. Nur wenn das allgemeine Wissen über psychische Erkrankungen verbessert werde, könnten Störungen rechtzeitig erkannt und adäquat behandelt werden [4].
Im Vorjahr hatte der Ständerat eine Motion verabschiedet, die den Bundesrat beauftragt, Vorschläge für eine gesetzliche Regelung der indirekten aktiven und der passiven Sterbehilfe zu unterbreiten und Massnahmen zur Förderung der Palliativmedizin zu treffen. Der Nationalrat überwies den Vorstoss mit 72 zu 69 Stimmen ebenfalls. Dagegen sprachen sich die Vertreter der SP und der GP aus, weil sie den Motionstext in seiner offenen Formulierung zu unverbindlich fanden und zudem der Meinung waren, dass die Förderung der Palliativmedizin ein Ziel in sich darstelle und es falsch sei, sie in Verbindung mit der Sterbehilfe zu bringen [5].
Die Im Vorjahr ins Leben gerufene Stiftung für Patientensicherheit stand Ende Jahr bereits wieder knapp vor dem Aus. Der Bund hatte ihr 200 000 Fr. als Startkapital für 2004 zugesprochen, diese Unterstützung allerdings an die Auflage geknüpft, dass die Stiftung mittelfristig selbsttragend sein resp. von den Zuschüssen der involvierten Kreise (Kantone, Interessengruppen) finanziert werden müsse. Es gelang nun dem Sekretariat der Stiftung im ersten Betriebsjahr nicht, die Finanzierung sicherzustellen, da insbesondere die Kantone (mit Ausnahme des Tessin) sich mit verbindlichen Zusagen schwer taten [6].
Die nationalrätliche Rechtskommission war 2000 einstimmig mit einer parlamentarischen Initiative beauftragt worden, ein Entschädigungsgesetz für die Opfer von Zwangssterilisationen auszuarbeiten. Die konkrete Umsetzung – die Kommission schlug eine pauschale Genugtuungszahlung von 5000 Fr. pro Fall vor – war nun aber bedeutend umstrittener. Im Einvernehmen mit dem Bundesrat, der kein Präjudiz für spätere anderweitige Wiedergutmachungen an Opfer behördlicher Fehleinschätzungen (beispielsweise ehemalige Verdingkinder oder Zwangsinternierte in der Psychiatrie) schaffen wollte, sprachen sich SVP und FDP gegen die Entschädigungen aus. Es wurde argumentiert, die Zwangssterilisationen seien im Zeitpunkt ihrer Durchführung als angemessen empfunden worden, weshalb Entschädigungszahlungen eine fragwürdige Vergangenheitsbewältigung ohne genügende verfassungsrechtliche Grundlage darstellen würden. SP, Grüne und CVP vertraten hingegen die Auffassung, derart formaljuristische Argumentationen seien rechtsstaatlich unsensibel, der Staat habe die Pflicht, ein in seinem Namen begangenes Unrecht wieder gutzumachen. Mit 91 zu 84 Stimmen wurden die Anträge des Bundesrates sowie eines Vertreters der SVP auf Nichteintreten abgelehnt. Gehör fand der Bundesrat dann aber im Ständerat, der sich mit 28 zu 8 Stimmen gegen Eintreten aussprach, worauf sich der Nationalrat mit 103 zu 66 anschloss.
Unbestritten war in beiden Kammern hingegen das eigentliche Sterilisationsgesetz. Dieses betrifft vor allem die rund 50 000 geistig behinderten Menschen, die in gemischtgeschlechtlichen Heimen leben, in denen Sexualität kein Tabu mehr ist. Um hier unerwünschte Schwangerschaften zu vermeiden, soll die Sterilisation als ultima Ratio zugelassen werden, allerdings unter strengen Bedingungen: sie ist erst ab 18 Jahren möglich und darf nur im Interesse der betroffenen Person vorgenommen werden [7].
Anfang Dezember verschickte der Bund Jodtabletten an alle Haushalte, die im Umkreis von 20 Kilometern eines Atomkraftwerks liegen. Im Notfall sollen sie bei rund 1,2 Mio Menschen eine Verseuchung der Schilddrüse verhindern. Zehn Jahre zuvor hatten nur Haushalte im Umfeld von fünf Kilometern die Jodtabletten als Hausvorrat erhalten. Die Gemeinden, die im Abstand von fünf bis 20 Kilometer liegen, lagerten den Jodvorrat zentral. Abklärungen hatten seither gezeigt, dass mit diesem System die Tabletten nicht rechtzeitig an die Bevölkerung verteilt werden könnten [8].
Die hoch spezialisierte Medizin soll gesamtschweizerisch konzentriert und von den Kantonen gemeinsam geplant werden. Die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren unterbreitete den Kantonen Ende Jahr eine entsprechende Vereinbarung zur Ratifikation. Bis im Herbst 2007 will sie die Standorte für bestimmte Bereiche verbindlich festlegen. Diese Koordination geschieht sowohl im Interesse der Wirtschaftlichkeit als auch der Qualität. Mit der „Interkantonalen Vereinbarung über die Koordination und Konzentration der hoch spezialisierten Medizin“ (IVKKM) werden die Kantone ihre Planungshoheit in der Spitzenmedizin an die GDK abtreten. Durch dieses Vorgehen soll eine Bundeslösung abgewendet werden, wie sie eine 2002 vom Ständerat überwiesene Motion verlangt, die nun vom Nationalrat ebenfalls angenommen wurde [9].
Im November startete im Kanton Tessin ein Pilotversuch mit einer elektronischen Patientenkarte. Rund 2500 Freiwillige aus der Region Lugano erhalten die Gelegenheit, die Karte während anderthalb Jahren zu testen. Jeder Karteninhaber entscheidet selbst, welche Informationen auf dem Mikrochip gespeichert werden. Vorgesehen sind administrative Daten, Gesundheitsinformationen für den Notfall sowie Details der Krankengeschichte (Diagnosen, Röntgenaufnahmen, Labordaten etc.). Damit sollen doppelte und allenfalls sogar widersprüchliche Behandlungen und die damit verbundenen Kosten und gesundheitlichen Beeinträchtigungen vermieden werden. Die Krankenkassen erhalten keinen Einblick in die gespeicherten Daten [10].
Zu Spitälern und Pflegeheimen siehe unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung).
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Medizinalpersonen
Auf den 1. Januar trat der TarMed, der erste gesamtschweizerisch einheitliche Arzttarif auch für den KVG-Bereich in Kraft. Eine Bilanz nach den ersten Monaten zeigte, dass sich die Einführung des TarMed im ambulanten krankenversicherungsrechtlichen Bereich problemloser abspielte als ursprünglich befürchtet. Bei den medizinischen Leistungen, die von eidgenössischen Sozialversicherungen erbracht werden (Unfall-, Militär- und Invalidenversicherung) wurde der so genannte Taxpunktwert auf den 1. November von 1 Franken auf 92 Rappen gesenkt [11].
Konsumentenschutzkreise und Preisüberwachung hatten schon seit längerem die Offenlegung der Tarife in den Zahnarztpraxen verlangt. Auf den 1. Juni setzte der Bundesrat die entsprechend abgeänderte Preisbekanntgabeverordnung in Kraft [12].
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Medikamente
Im Mai lancierte ein Verein Pro Gesundheit Schweiz eine Volksinitiative „für einen freien Zugang zu Nahrungsergänzungen“ („Vitamininitiative“). Sie verlangt, dass Nahrungsergänzungen wie hoch dosierte Vitaminpräparate frei hergestellt, eingeführt und verkauft werden dürfen. Heute unterstehen diese dem Heilmittelgesetz. Im Initiativkomitee sitzen weder nationale noch kantonale politische Persönlichkeiten [13].
Mit je einer Standesinitiative beantragten die Kantone Genf und Wallis eine Präzisierung des Heilmittelgesetzes. Dort war im Sinn der Korruptionsbekämpfung die Bestimmung eingeführt worden, dass den Personen und Institutionen, welche Medikamente verschreiben oder abgeben, dafür von den Herstellern keine geldwerten Vorteile angeboten werden dürfen. Dies führte dazu, dass die Pharmaindustrie die bisherige Praxis, Spitälern als Grosskunden Rabatte zu gewähren, ebenfalls aufhob, was zu beträchtlichen Mehrkosten für die Kantone und die Krankenkassen führte. Beide Kammern gaben den Initiativen praktisch diskussionslos Folge [14].
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Fortpflanzungsmedizin
Jene Kreise, welche das Stammzellenforschungsgesetz als ersten Schritt hin zum „gläsernen Menschen“ und zur Eugenik bekämpft hatten (siehe unten), sahen sich in ihren Befürchtungen bestätigt, als der Bundesrat nur wenige Tage nach Annahme des Gesetzes in der Volksabstimmung bekannt gab, er beabsichtige, dem Parlament ein Gesetz zur Präimplantationsdiagnostik (PID) vorzulegen. Diese würde die gentechnische Untersuchung eines künstlich erzeugten Embryos erlauben, bevor er der Mutter eingepflanzt wird. So könnte man genetische Defekte frühzeitig erkennen und verhindern, dass ein derart geschädigter Embryo übertragen würde. Gemäss geltendem Gesetz über die Fortpflanzungsmedizin ist die Präimplantationsdiagnostik verboten. Das Parlament hatte bisher Vorstösse zur Regelung der PID stets abgelehnt [15].
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Transplantationsmedizin
Als Zweitrat befasste sich die kleine Kammer in der Sommersession mit dem Transplantationsgesetz. Ein Rückweisungsantrag Schmid (cvp, AI), der fand, das Gesetz baue eine unnötige Bürokratie auf und greife mit der Bestimmung, dass der Bund Transplantationszentren bestimmen kann, ungebührlich in die Kompetenz der Kantone ein, wurde mit 27 zu 10 Stimmen abgelehnt. In den zentralen Punkten der erweiterten Zustimmungslösung, der Todesdefinition, der Xenotransplantation und des Inländervorrangs folgte der Ständerat der grossen Kammer. Im Zweckartikel gab er dem Gesetz aber eine neue Richtung, indem er es nicht auf die Bekämpfung von Missbräuchen beschränkte, insbesondere die Vermeidung von Organhandel, sondern festschrieb, dass ein Ziel des Gesetzes auch die Förderung der Verfügbarkeit von Transplantaten sei. Die vom Nationalrat eingefügte Verpflichtung für den Bundesrat, ein zentrales Lebendspenderregister zu führen, um die gesundheitliche Nachsorge der Spender sicherzustellen, lehnte er ab, da er nicht eine weitere Bundesstelle schaffen wollte. Mit 22 zu 16 Stimmen und gegen den Willen von Bundesrat Couchepin, welcher die Auffassung vertrat, ein offizielles und deshalb vom Einzelnen nicht veränderbares Dokument sei nicht der richtige Ort dafür, beschloss er, dem Bundesrat die Kompetenz zu erteilen, einen Organspendervermerk im Fahrausweis vorzusehen. Ein Antrag Pfisterer (fdp, AG), bei der Zuteilung der Organe im Sinn der Reziprozität Personen zu bevorzugen, die einen Spenderausweis haben, wurde mit 23 zu 8 Stimmen abgelehnt, da damit die Freiwilligkeit der Spende eingeschränkt würde. Einstimmig wurde ein Minderheitsantrag angenommen, der für die Organzuteilung eine spezielle Rekursmöglichkeit schafft [16].
In der Herbstsession konnten die Differenzen bereinigt werden. In der Ausdehnung des Zweckartikels schloss sich der Nationalrat der kleinen Kammer an. Einen Organspendervermerk im Fahrausweis lehnte er hingegen als wesensfremd ab, worauf der Ständerat einer Formulierung zustimmte, wonach der Vermerk „auf einem geeigneten Dokument oder Datenträger“ angebracht werden kann, beispielsweise auf der geplanten Versichertenkarte. Auch in der Frage des Lebendspenderregisters setzte sich ein Kompromissvorschlag durch. Bei den Voraussetzungen, unter denen Kliniken die Erlaubnis erhalten, Transplantationen durchzuführen, wurden die Qualitätssicherungssysteme durch den Zusatz ergänzt, dass diese auch die Nachverfolgung des Gesundheitszustands der Spender sicherstellen müssen. Bei der vorerst von ihr bekämpften Bestimmung, wonach die Kontrollbehörde bei vermutetem Missbrauch zur Erfüllung ihrer Aufgaben auch Grundstücke, Betriebe, Räume und Fahrzeuge betreten, also Hausdurchsuchungen durchführen kann, schloss sich die kleine Kammer der grossen an. Das Gesetz wurde im Ständerat einstimmig und im Nationalrat mit 145 zu 10 Stimmen gutgeheissen. Die grüne Fraktion enthielt sich der Stimme, weil sie der Auffassung war, die erstmals in einem Gesetz verankerte Todesdefinition sei zu wenig vertieft diskutiert worden [17].
Da der Bundesbeschluss über die Kontrolle von Transplantaten Ende 2005 ausläuft, das neue Gesetz und das Ausführungsrecht aber nicht auf Anfang 2006 in Kraft treten können, beantragte der Bundesrat dem Parlament, den geltenden Bundesbeschluss maximal um fünf Jahre (d.h. bis Ende 2010) zu verlängern [18].
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Forschung am Menschen
Wie bereits nach den Schlussabstimmungen in der Wintersession des Vorjahres angekündigt, wurde Mitte Januar von zwei Seiten erfolgreich das Referendum gegen das neue Stammzellenforschungsgesetz (StFG) ergriffen. Pro-Leben-Organisationen vertraten die Auffassung, das Gesetz widerspreche fundamentalen ethischen Werten und verletze die jedem Lebewesen in der Verfassung garantierten Grundrechte des Lebensschutzes und der Menschenwürde. Gentechnik-kritische Kreise orteten ebenfalls Widersprüche mit der Verfassung und anderen bereits bestehenden Gesetzen und verlangten, sich auf alternative Methoden wie die Forschung an adulten Stammzellen zu konzentrieren. Die Befürworter einer gesetzlichen Regelung machten in der Abstimmungskampagne geltend, die Schweiz würde durch ein Verbot bei dieser zukunftsträchtigen medizinischen Forschung international in Rückstand geraten. Es gelte abzuwägen zwischen der Möglichkeit neuartiger Therapien, die Leiden mindern könnten, und dem Schutz des Embryos. Die Forschung beschränke sich zudem auf die bei einer assistierten Fortpflanzung als überzählig anfallenden Embryonen, die sowieso keine Überlebenschance hätten. Ausser den Grünen, der EVP und der EDU unterstützten alle Parteien das Gesetz. Dieses wurde in der Volksabstimmung vom 28. November mit über 66% Ja deutlich angenommen [19].
Stammzellenforschungsgesetz
Abstimmung vom 28. November 2004

Beteiligung: 37,0%
Ja: 1 156 706 (66,4%)
Nein: 585 530 (33,6%)
Parolen:
Ja: CVP, FDP, SP (*3), SVP, LP, Lega; Economiesuisse, SAGV, SGV, SBV; SEK
Nein: GP, EVP, EDU; SBK
Stimmenthaltung: PdA, CSP; SGB, Travail suisse

* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die Vox-Analyse dieses Urnengangs zeigte, dass das Abstimmungsverhalten von der Weltanschauung, insbesondere der Religiosität recht stark beeinflusst wurde, wobei die Konfessionszugehörigkeit nur eine sekundäre Rolle spielte. Hingegen war kein Konflikt zwischen Links und Rechts festzustellen. Am negativsten eingestellt waren CVP-nahe Stimmende, am positivsten die Anhänger der FDP; die Sympathisanten von SP und SVP verhielten sich sehr ähnlich und positionierten sich in der Mitte zwischen CVP und FDP. Nicht von Bedeutung waren Geschlecht, Einkommen und Siedlungsform [20].
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Gentechnologie im Humanbereich
Der Nationalrat beriet als erster das Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen (GUMG). Mit dem neuen Gesetz werden die Voraussetzungen für genetische Untersuchungen im Medizinal-, Arbeits-, Versicherungs- und Haftpflichtbereich festgelegt sowie die Erstellung von DNA-Profilen geregelt, sofern diese nicht schon im DNA-Profil-Gesetz erfasst sind. Ausgenommen bleibt der ganze Forschungsbereich; er soll in einem separaten Gesetz geregelt werden. Bundesrat Blocher steckte das Spannungsfeld der Diskussionen ab, indem er meinte, die genetische Diagnostik sei für die Kranken mit Hoffnung, für die Wirtschaft mit Visionen und für die Gesellschaft mit Ängsten verbunden. Eintreten wurde ohne Gegenantrag beschlossen. In der Detailberatung gaben vor allem zwei Punkte zu reden, nämlich pränatale Tests und das Einsichtsrecht der Versicherer in frühere genetische Untersuchungen. Bei den Untersuchungen am Ungeborenen setzte sich die gegenüber der Version des Bundesrates restriktivere Formulierung der Kommission durch, welche die genetischen Untersuchungen strikt auf den medizinischen Bereich einschränkte und Begriffe wie „Lebensplanung“ ausmerzte, welche eine eugenische Note enthalten könnten; pränatale Tests sind lediglich zugelassen, um beim ungeborenen Kind mögliche Anomalien zu diagnostizieren. Neben der allgemeinen Information, wie sie der Bundesrat postuliert hatte, soll den Eltern auch eine psychosoziale Beratung angeboten werden. Ein Antrag Wäfler (edu, ZH) für ein völliges Verbot derartiger Tests wurde mit 134 zu 12 Stimmen deutlich verworfen.
In der Frage des Einsichtsrechts von Privatversicherungen vor Abschluss eines Versicherungsvertrags hatte der Bundesrat vorgeschlagen, Nachforschungen zuzulassen, falls die Versicherungssumme einen gewissen Betrag übersteigt (400 000 Fr. für eine Lebensversicherung, 40 000 Fr. pro Jahr bei Invalidität). Er begründete dies damit, dass es zu verhindern gelte, dass sich Personen im Wissen um ihr hohes Risiko zu günstigen Prämien einen teuren Versicherungsschutz auf Kosten des Kollektivs verschaffen. Die Kommission schlug demgegenüber ein striktes Nachforschungsverbot vor, weil Genanalysen zu einem mächtigen Instrument der Versicherer werden und zum „gläsernen Menschen“ führen könnten. Eine Minderheit Noser (fdp, ZH) unterstützte grundsätzlich die Fassung des Bundesrates, wollte die Hürden für Nachforschungen aber tiefer halten (250 000 resp. 25 000 Fr.). Schliesslich setzte sich der Bundesrat mit 94 zu 82 Stimmen gegen den Antrag Noser und mit 97 zu 59 gegen die Kommission durch [21].
Der Ständerat schloss sich in allen wesentlichen Punkten der grossen Kammer an. Ein Antrag Fetz (sp, BS) für ein völliges Nachforschungsverbot für Privatversicherungen wurde mit 32 zu 9 Stimmen abgelehnt. Eine Differenz schuf die kleine Kammer bei den Informationsstellen für pränatale Untersuchungen. Er befand, die psychosoziale Beratungspflicht würde die kantonalen Stellen für Schwangerschaftsberatung überfordern und zu zusätzlichen Kosten für die Kantone führen; die medizinische Information durch die Ärzteschaft sei ausreichend. Diese Differenz konnte erst in der dritten Runde durch eine Kompromissformulierung des Ständerates ausgeräumt werden, wonach die zuständigen Stellen informieren und „in allgemeiner Weise“ eine Beratung über pränatale Untersuchungen anbieten. Das neue Gesetz wurde in der Schlussabstimmung im Nationalrat mit 169 zu 9 Stimmen und im Ständerat einstimmig angenommen [22].
 
[1] BBl, 2004, S. 4984 ff.; Presse vom 27.7.04; NZZ, 24.9.04.
[2] Presse vom 3.9.04. Siehe auch die Antwort des BR auf eine Interpellation im NR (AB NR, 2004, Beilagen III, S. 264 ff.). Vgl. SPJ 2002, S. 192.
[3] Lit. Camenzind / Meier; Zusammenfassung in CHSS, 2004, S. 238-242. Zu den Ausführungen des BR bezüglich der 2001 vom Bund eingerichteten Fachstelle „Gender Health“ siehe AB NR, 2004, S. 1030.
[4] Presse vom 9.3.04.
[5] AB NR, 2004, S. 266 ff.; TA, 13.2.04. Vgl. SPJ 2003, S. 204 f. Im Spätsommer kündigte der Direktor des BJ die Einsetzung einer Arbeitsgruppe zu diesen Fragen an (TA, 20.9.04).
[6] NZZ, 27.4. und 21.10.05. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in AB NR, 2004, S. 1547 und Beilagen V, S. 293 ff.
[7] AB NR, 2004, S. 244 ff., 2108 ff. und 2186; AB SR, 2004, S. 262 ff. und 945; BBl, 2004, S. 7265 ff. Siehe SPJ 2000, S. 196 f.
[8] BaZ, 30.10.04.
[9] AB NR, 2004, S.17 ff.; TA, 27.4.04; Presse vom 2.12.04; NZZ, 18.12.04. Siehe SPJ 2002, S. 196.
[10] NZZ, 30.9.04; TA, 3.11.04; Presse vom 9.11.04. Für die Einführung einer gesamtschweizerischen primär administrativen Versichertenkarte siehe unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung). Im NR wurde eine Motion Noser (fdp, ZH) zur Förderung der elektronischen Mittel im Gesundheitswesen bekämpft und deshalb noch nicht behandelt (AB NR, 2004, S. 1740).
[11] CHSS, S. 42-44; NZZ, 18.4., 19.6., 20.8., 21.8., 28.10. und 7.11.04. Zur datenschutzrechtlich heiklen Erhebung zusätzlicher Patientendaten mit dem neuen Tarifsystem siehe Presse vom 26.6.04 (Bericht des eidg. Datenschutzbeauftragten); NZZ, 27.7.04. Vgl. SPJ 2003, S. 209 f. Für die Weiterführung des „Ärztestopps“ vgl. unten, Teil I, 7c, Krankenversicherung. Zu einem neuen Bundesgesetz über die universitären Medizinalberufe siehe unten, Teil I, 8a (Hochschulen).
[12] Presse vom 22.1.04.
[13] BBl, 2004, S. 2056 ff.; TA, 10.4. und 6.5.04.
[14] AB SR, 2004, S. 308; AB NR, 2004, S. 1738 ff.
[15] NZZ, 28.1.04; Presse vom 1.12.04. Siehe SPJ 2002, S. 201.
[16] AB SR, 2004, S. 176 ff. und 199 ff.
[17] AB NR, 2004, S. 1338 ff., 1522 ff. und 1759; AB SR, 2004, S. 517 ff., 560 und 649; BBl, 2004, S. 5453 ff. Gegen das Gesetz wurde aus Kreisen der EDU und der „Lebensrecht-Bewegung“ das Referendum ergriffen (NZZ, 1.12.04). Siehe SPJ 2003, S. 210 f.
[18] BBl, 2004, S. 6685 ff.
[19] BBl, 2004, S. 2429 ff. und 2005, S. 951 ff.; AS, 2005, S. 947 ff.; Presse vom 16.1. und 29.9.-29.11.04, insbesondere NZZ, 7.10. (Interview BR Couchepin) und 8.11.04 (Vergleich mit dem Ausland). Siehe SPJ 2003, S. 211 ff.
[20] Hirter, Hans / Linder, Wolf Analyse der eidg. Abstimmungen vom 28. November 2004, VOX Nr. 85, gfs.bern und Institut für Politikwissenschaft, Universität Bern, Bern 2004.
[21] AB NR, 2004, S. 303 ff. und 449 ff.
[22] AB SR, 2004, S. 380 ff., 563 ff. und 650; AB NR, 2004, S. 1248 ff., 1616 und 1760; BBl, 2004, S. 5483 ff.