Année politique Suisse 2008 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Volksrechte
Im Berichtsjahr kam es zu 2 mit einem fakultativen Referendum verlangten Volksabstimmungen (Unternehmenssteuerreform und Betäubungsmittelgesetz). Das Volk stimmte dem Parlamentsbeschluss beide Male zu. Ausserdem lehnten Volk und Stände 6 Volksinitiativen ab und stimmten einer, der insgesamt sechzehnten, zu.
Im Jahr 2008 wurden 8 Volksinitiativen eingereicht (2007: 4). Das Volk entschied über 7 Volksbegehren; eines – die Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten, welche an Kindern begangen wurden – fand Zustimmung. Drei Volksinitiativen wurden zurückgezogen; zwei davon aus dem Gesundheitsbereich, nachdem das Parlament befriedigende Gegenvorschläge beschlossen hatte. Die so genannte Waldinitiative wurde zurückgezogen, weil der Bundesrat auf eine angekündigte und mit dieser Volksinitiative präventiv bekämpfte Reform des Forstgesetzes verzichtet hatte. Damit sank Ende 2008 der Bestand der eingereichten, aber dem Volk noch nicht zum Entscheid vorgelegten Initiativen auf 13 (2007: 15). Neu lanciert wurden im Jahr 2008 4 Volksinitiativen (2007: 11).
Insgesamt kam es somit zu
10 Volksabstimmungen (7 Volksinitiativen, 1 obligatorisches und 2 fakultative Referenden). Bei acht von diesen zehn Entscheiden folgten die Stimmberechtigten dem Antrag von Regierung und Parlament (2007: zwei von zwei). Bei einer Volksinitiative (Unverjährbarkeit pornografischer Straftaten) und dem obligatorischen Referendum (Verfassungsartikel über die Gesundheitspolitik) entschied das Volk anders als die Behörden
[30].
Zum Jugend- und Ausländerstimmrecht siehe oben, Teil I, 1b (Bürgerrecht und Stimmrecht).
Die AUNS lancierte im Februar ihre im Vorjahr angekündigte Volksinitiative «Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (
Staatsverträge vors Volk!)». Diese verlangt, dass über bisher dem fakultativen Referendum untertstellte aussenpolitische Entscheidungen obligatorisch von Volk und Ständen abgestimmt werden soll. Neu sollen zudem auch internationale Verträge dem obligatorischen Referendum unterstellt sein, wenn sie neue einmalige Ausgaben von mehr als 1 Mia Fr. oder neue jährlich wiederkehrende Ausgaben von mehr als 100 Mio Fr. nach sich ziehen
[31].
Der Nationalrat hielt sich an den Antrag seiner SPK und beschloss mit 123 zu 60 Stimmen, der parlamentarischen Initiative der SVP-Fraktion für die Einführung des
Finanzreferendums keine Folge zu geben. Das Hauptargument der Gegner war, dass beim Bund – im Gegensatz zu den Kantonen, die ja alle das Finanzreferendum kennen – fast alle grossen Ausgabeposten auf Gesetzen beruhen, und diese ja bereits dem fakultativen Referendum unterstellt sind. Gleich anschliessend an diesen Entscheid beschloss der Nationalrat mit 120 zu 61 Stimmen, auch einer parlamentarischen Initiative der Grünen für die Einführung des fakultativen Referendums bei
Rüstungsausgaben keine Folge zu geben. Die SP, welche den SVP-Vorstoss bekämpft hatte, stimmte in diesem Fall für die Ausweitung der Volksrechte, die SVP dagegen
[32].
Nachdem sich in einer Vernehmlassung fast niemand für die konkrete Umsetzung der 2003 in die Verfassung aufgenommenen
allgemeinen Volksinitiative ausgesprochen hatte, beantragte die SPK des Nationalrats die Streichung dieser Verfassungsbestimmung. Der auch vom Bundesrat unterstützte Antrag hat die Rechtsform einer parlamentarischen Initiative und muss, da es sich um eine Verfassungsänderung handelt, sowohl vom Parlament als auch von Volk und Ständen genehmigt werden. Der Nationalrat stimmte dem Verzicht auf die allgemeinen Volksinitiative bei einer Gegenstimme (Lustenberger, cvp, LU) zu; der Ständerat bei einer Enthaltung
[33].
Die SPK des Nationalrates möchte, dass
Volksinitiativen, die ganz oder teilweise im Gegensatz zu Völker- oder Menschenrechtsbestimmungen stehen und sich deshalb nicht textgetreu umsetzen lassen, nicht mehr dem Volk zum Entscheid vorgelegt werden. Mit einer parlamentarischen Initiative beantragte sie deshalb, die Prüfungskriterien für die Gültigkeit von Volksinitiativen zu erweitern und auch das Bundesgericht in die Entscheidfindung einzubeziehen. Die SPK des Ständerats sprach sich gegen diesen Vorstoss aus
[34].
Am 1. Juni stimmte das Volk über die von rechtsbürgerlichen Kreisen eingereichte
Volksinitiative „
Volkssouveränität statt Behördenpropaganda“ ab. Das Begehren verlangte zur Hauptsache, dass sich die Landesregierung in Zukunft, abgesehen von einer kurzen Verlautbarung, nicht mehr im Vorfeld von Volksabstimmungen äussern darf. Die Kampagne war sehr lau. Ein aus Vertretern aller grossen Parteien ausser der SVP gebildetes Komitee trat als Gegner in Erscheinung. Für die Initiative setzten sich nur die SVP und die kleinen Rechtsaussenparteien EDU, SD und Lega ein. Dabei trat die SVP kaum in den Vordergrund und verwendete ihre Propagandamittel in erster Linie zugunsten der gleichzeitig zum Entscheid vorgelegten Einbürgerungsinitiative
[35].
VI „Volkssouveränität statt Behördenpropaganda“
Abstimmung vom 1. Juni 2008
Beteiligung: 45,2%
Ja: 538 928 (24,8%) / 0 Stand
Nein: 1 634 196 (75,2%) / 20 6/2 Stände
Parolen:
– Ja: SVP (2)*, EDU (1)*, SD, Lega, FPS.
– Nein: FDP, CVP, SP, GP, GLP, EVP, LP, CSP, PdA; Economiesuisse, SGV, SGB, Travail.Suisse.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen
Die Initiative wurde
deutlich, mit mit 1 634 196 Nein gegen 538 928 Ja (75%) abgelehnt, kein einziger Kanton stimmte zu. Sogar der notorisch behördenkritische Kanton Schwyz verwarf sie mit 59% Nein-Stimmen. Überdurchschnittlich stark war die Ablehnung in den städtischen Agglomerationen und in der Westschweiz. In der französischsprachigen Schweiz sprachen sich weniger als 20% für das Volksbegehren aus. Mit der Ablehnung der Volksinitiative trat der im Vorjahr vom Parlament beschlossene
indirekte Gegenvorschlag in Kraft
[36].
Auf Antrag seiner SPK gab der Ständerat einer parlamentarischen Initiative Bonhôte (sp, NE) für die Festlegung einer
Obergrenze für die Werbeausgaben für die eidgenössischen Wahlen keine Folge. Unterstützung fand das Anliegen nur bei der Linken
[37].
In der Frühjahrssession lehnte der Nationalrat ein Postulat Waber (edu, BE) ab, das die Einführung
des Wahlsystems „Doppelter Pukelsheim“ ohne Mindestquorum verlangt hatte. Bei dieser zuerst im Kanton Zürich und anschliessend auch in einigen weiteren Kantonen eingeführten Methode wird für die Mandatszuteilung der im gesamten Wahlgebiet erzielte Stimmenanteil berücksichtigt. In einem zweiten Schritt werden die von einer Partei erhaltenen Sitze dann auf die Wahlkreise verteilt. Mit dieser Methode sinkt das „natürliche Quorum“, d.h. der für ein Vollmandat für eine Partei erforderliche Stimmenanteil auf einen sehr niedrigen Wert. Es würde für die Wahlen in den Nationalrat mit seinen 200 Sitzen knapp 0,5% betragen; Wabers EDU hätte mit diesem System 2007 mindestens zwei Sitze statt nur einen erhalten
[38].
[30] Siehe dazu auch Andreas Gross, „Konjunkturen der direkten Demokratie“, in
NZZ, 31.12.08.
[31]
BBl, 2008, S. 1485 ff. Siehe
SPJ 2007, S. 42.
[32]
AB NR, 2008, S. 453 ff. (Finanzreferendum) und 457 ff. (Rüstungsreferendum);
NZZ, 22.5.08. Zum Finanzreferendum siehe auch
SPJ 2007, S. 40.
[33]
BBl, 2008, S. 2891 ff. und 2907 f. (BR);
AB NR, 2008, S. 1333 ff. und 1976;
AB SR, 2008, S. 838 f. und 1059;
BBl, 2009, S. 13 ff. Lustenberger begründete seine Opposition damit, dass er als damaliges SPK-Kommissionsmitglied an der Entstehung dieses Instruments beteiligt gewesen war und von ihm immer noch überzeugt sei (
AZ, 26.9.08). Siehe
SPJ 2007, S. 40 ff.
[34]
NZZ, 23.8., 16.11. und 22.11.08. Siehe dazu auch
Lit. Keller.
[35]
TA, 2.4.08;
NZZ, 10.4.08; Presse vom 15.4.-31.5.08. Siehe
SPJ 2007, S. 42.
[36]
BBl, 2008, S. 6161 ff.; Presse vom 2.6.08. Gegenvorschlag:
BBl, 2008, S. 6153 f. Siehe
SPJ 2007, S. 42.
[37]
AB SR, 2008, S. 185 ff.
[38]
AB NR, 2008, S. 470.
Copyright 2014 by Année politique suisse