Année politique Suisse 2009 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Flüchtlingspolitik
Nach einer sprunghaften Zunahme im Vorjahr, ging die Zahl der Asylgesuche im Jahr 2009 um 3,6% (-601 Gesuche) zurück. Insgesamt stellten im Berichtsjahr 16 005 Menschen ein Asylbegehren in der Schweiz. Mit 1786 Anträgen war Nigeria das wichtigste Herkunftsland  Bund und NZZ, 15.1.10. Vgl. SPJ 2008, S. 230..
Der Bundesrat will der neuen amerikanischen Regierung bei der Bewältigung des Guantánamo-Problems helfen und sprach sich im Dezember für die Aufnahme eines usbekischen Guantánamo-Häftlings aus. Während die meisten Kantone die Aufnahme von ehemaligen Gefangenen skeptisch beurteilten, erklärte sich Genf offiziell bereit, den Mann aufzunehmen. Hinter dem Beschluss der Landesregierung standen nicht nur völkerrechtliche, sondern auch handfeste wirtschaftliche Interessen. Sie hoffte, so das Verhältnis zur USA verbessern zu können; dies ist wichtig um die Probleme im Zusammenhang mit der Grossbank UBS zu bewältigen  TA, 23.1.09; BüZ, 3.2.09; BaZ und SGT, 17.12.09. Zum Rechtsstreit der UBS mit den US-Steuerbehörden siehe oben, Teil I, 4b (Banken, Börsen und Versicherungen)..
Im Vorfeld des Entscheids beschäftigte die Frage, ob die Schweiz freigelassene Guantánamo-Häftlinge aufnehmen soll, auch das Parlament. Die Aussenpolitische Kommission lehnte dabei mit 15 zu 2 Stimmen bei 2 Enthaltungen einen Antrag ab, der dem Bundesrat nahelegen wollte, auf die Aufnahme von Insassen des Gefangenenlagers zu verzichten. Der Ständerat diskutierte die Angelegenheit in der Frühjahrssession. Den Anstoss gab eine Interpellation von Seydoux (cvp, JU), mit welcher der Bundesrat aufgefordert wurde, den amerikanischen Behörden bei der Bewältigung des Guantánamo-Problems möglichst rasch zu helfen. Der Vorstoss löste in der kleinen Kammer eine Kontroverse aus: Während sich ein Teil der Ständeräte mit den freigelassenen Insassen solidarisierte, vertraten andere die Ansicht, die USA solle das Problem, dass sie sich eingebrockt habe, selbst lösen  AB SR, 2009, S. 7 ff.; NZZ, 19.2. und 3.3.09..
Auf Empfehlung der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM) setzte Bundesrätin Widmer-Schlumpf im Berichtsjahr eine Expertengruppe ein, welche prüfen musste, ob die Schweiz wieder Gruppen von Flüchtlingen aus Staaten der ersten Zuflucht aufnehmen solle. Obwohl sich die Arbeitsgruppe aus Vertretern des Bundesamts für Migration, der EKM, des EDA sowie von Städten und Kantonen für die Aufnahme von sog. Kontingentsflüchtlingen aussprach, entschied sich Widmer-Schlumpf im Dezember dagegen. Sie begründete ihre Haltung mit den ohnehin schon hohen Asylbewerberzahlen, der gegenwärtigen Lage auf dem Arbeitsmarkt und den Kosten für die Integration. Das UNHCR und die Schweizerische Flüchtlingshilfe bedauerten diesen Entscheid der Justizministerin  NLZ, 23.1.09; NZZ, 10.3. und 21.12.09; TA, 19.12.09..
top
 
print
Gesetzgebung
Im Januar schickte der Bundesrat Vorschläge zur Änderung des Asyl- und Ausländergesetzes in die Vernehmlassung. Die geplanten Bestimmungen zielen darauf ab, Asylgesuche effizienter zu erledigen und die Asylgründe weiter einzuschränken. Gemäss dem Entwurf bildet Wehrdienstverweigerung kein Asylgrund mehr. Personen die nur dies geltend machen, werden weggewiesen oder – wenn ihnen im Herkunftsstaat eine „unmenschliche“ Behandlung droht – vorläufig aufgenommen. Politische Aktionen in der Schweiz, z.B. Teilnahme an Demonstrationen, die zur Begründung der Flüchtlingseigenschaft dienen, sollen künftig sanktioniert werden. Ferner würde die Möglichkeit, auf einer schweizerischen Vertretung im Ausland ein Gesuch zu stellen, aufgehoben. Eine weitere Änderung ist im Ausländergesetz vorgesehen. Laut den Vorschlägen des Bundesrats müssten Personen, die aus der Schweiz weggewiesen werden und geltend machen, ihre Wegweisung sei aus persönlichen Gründen nicht zumutbar, dies zweifelsfrei beweisen können. Nach geltendem Recht genügt es, wenn ein abgewiesener Asylbewerber die Unzumutbarkeit glaubhaft macht  BBl, 2009, S. 573; Presse vom 15.1.09..
Die Eidgenössische Kommission für Migrationsfragen, die Hilfsorganisationen, der Schweizerische Gewerkschaftsbund, die Landeskirchen sowie SP und Grüne kritisierten die geplanten Asylrechtsverschärfungen und bedauerten, dass die Schweizer Asylpolitik zunehmend ihren humanitären Charakter verliere. Gemäss dem UNHCR wird durch die Absicht, Wehrdienstverweigerung nicht mehr als Asylgrund anzuerkennen, die Flüchtlingskonvention tangiert. Bei der FDP und der SVP wurden die Vorschläge dagegen begrüsst; einzig die Aufhebung der Möglichkeit, auf einer schweizerischen Vertretung im Ausland ein Gesuch zu stellen, wurde auch von ihnen abgelehnt  Bund, 22.1. und 16.4.09; NZZ, 10.3., 27.3. und 16.4.09..
Im Rahmen der Vernehmlassung zur Revision des Asylgesetzes wurde auch angeregt, das Nichteintretensverfahren durch ein materielles Schnellverfahren zu ersetzen. Aufgrund dieses Vorschlags beauftragte Bundesrätin Widmer-Schlumpf eine Expertenkommission aus Vertretern von Bund, Kantonen und Hilfswerken mit der Prüfung eines Systemwechsels im Asylwesen. Gestützt auf die Empfehlungen der Experten unterbreitete der Bundesrat im Dezember den interessierten Kreisen eine entsprechende Ergänzung zur Konsultation. Mit den geplanten Bestimmungen würde die Zahl der Gründe, auf ein Gesuch nicht einzutreten, stark reduziert. Es ist vorgesehen, ein Asylbegehren nur noch dann nicht materiell zu behandeln, wenn der Gesuchsteller z.B. ausschliesslich medizinische oder wirtschaftliche Gründe vorbringt oder wenn er in ein sicheres Drittland weggewiesen werden kann, namentlich weil gemäss Dublin-Abkommen ein EU-Staat zuständig ist. Die Nichtabgabe von Papieren soll demgegenüber nicht mehr zu einem Nichteintretensentscheid führen. Diese, mit der letzten Asylgesetzesrevision eingeführte, Praxis hat sich nämlich nicht bewährt, da jeweils mit umständlichen Recherchen abgeklärt werden muss, warum der Asylsuchende keine Papiere vorweisen kann  BBl, 2009, S. 9150; NZZ, 26.8. und 18.12.09; WoZ, 27.8.09; SZ, 17.12.09. Vgl. SPJ 2006, S. 215 f..
Im Zusammenhang mit den Anpassungen des Asylverfahrens wird auch das Bundesamt für Migration reorganisiert. Alle Instanzen, die mit dem Asylwesen zu tun haben, sollen wieder in einer Abteilung zusammengefasst werden  SZ, 17.12.09; Blick und NLZ, 18.12.09..
Im November verabschiedete der Bundesrat die Botschaft zur Übernahme der EU-Richtlinie über gemeinsame Normen und Verfahren zur Rückführung illegal anwesender Drittstaatsangehöriger. Als Schengen-Mitglied ist die Schweiz zum Nachvollzug dieser Bestimmungen verpflichtet und muss das Asyl- und Ausländerrecht entsprechend anpassen. Mit den neuen Vorschriften will die EU Gesetze und Verfahren für die Rückführung illegal anwesender Ausländer aus Drittstaaten vereinheitlichen. Um das schweizerische Recht mit der Richtlinie in Einklang zu bringen, muss insbesondere die maximale Gesamtdauer von Vorbereitungs-, Ausschaffungs- und Durchsetzungshaft von 24 auf 18 Monate verkürzt werden. Eine weitere Anpassung ist bei der Wegweisung illegal anwesender Personen erforderlich, da laut den neuen Vorschriften immer eine formelle Wegweisungsverfügung zu erlassen ist  BBl, 2009, S. 4179 (Vernehmlassung) und 8881 ff. (Botschaft); Medienmitteilung des EJPD, 28.01.09; NZZ, 19.11.09..
top
 
print
Vollzug
Im März setzte der Bundesrat Burkina Faso, Kosovo und Serbien auf die Liste der verfolgungssicheren Staaten. Sofern nicht besondere Hinweise auf eine Gefährdung vorliegen, tritt das Bundesamt für Migration auf Asylgesuche von Personen aus diesen Staaten nicht mehr ein  NLZ und NZZ, 20.3.09..
Der Ständerat verwarf in der Frühjahrssession mit 22 zu 12 Stimmen eine Motion seiner Aussenpolitischen Kommission, mit der die Rückführung von tamilischen Asylsuchenden bis auf weiteres gestoppt werden sollte. Im Nationalrat wurde eine gleichlautende Motion in der Sommersession mit 94 zu 70 Stimmen ebenfalls abgelehnt  AB SR, 2009, S. 313 f.; AB NR, 2009, S. 928 ff..
Im Januar trat ein neues Rückübernahmeabkommen mit Rumänien in Kraft. Seither können nicht nur Bürgerinnen und Bürger aus Rumänien mit illegalem Aufenthalt in der Schweiz, sondern auch Drittstaatsangehörige, die Rumänien lediglich als Transitland benutzt haben, zurückgeführt werden. Weitere Übereinkommen zur Rückübernahme von illegal anwesenden Personen wurden im Berichtsjahr mit Finnland, Russland und der Tschechischen Republik ausgehandelt. Ausserdem unterzeichneten die Schweiz und Bosnien-Herzegowina im April eine Absichtserklärung für eine verstärkte Zusammenarbeit im Migrationsbereich. Die beiden Länder wollen unter anderem die Kooperation auf den Gebieten der Rückübernahme von Personen, der Steuerung von Migrationsbewegungen sowie der Rückkehrhilfe verbessern  NZZ, 2.4. und 15.4.09; Medienmitteilungen des EJPD, 16.1. (Rumänien), 31.3. (Finnland), 17.9. (Tschechische Republik) und 24.9.09 (Russland). Vgl. SPJ 2008, S. 231..