Année politique Suisse 2010 : Bildung, Kultur und Medien
Kultur, Sprache, Kirchen
Das EDI eröffnete das Anhörungsverfahren zur Kulturbotschaft. – Das Bundesgesetz über die Buchpreisbindung ging nach der Detailberatung des Ständerates in die Differenzbereinigung. – Die Verordnung zum Sprachengesetz trat per 1. Juli in Kraft. – Die Schweizerische Bischofskonferenz verstärkte ihr Engagement zur Bekämpfung von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche. – Das Ergebnis der Minarett-Initiative entpuppte sich als Ausgangspunkt einer intensiven politischen Debatte zur Rolle des Islam in der Schweiz.
Kulturpolitik
Im August des Berichtsjahres eröffnete das eidgenössische Departement des Innern das
Anhörungsverfahren zur Kulturbotschaft 2012-2015, welche gemäss dem im Vorjahr verabschiedeten Kulturförderungsgesetz neu die Steuerung der eidgenössischen Kulturförderungsgelder regeln soll. Neben den benötigten finanziellen Mitteln definiert die Botschaft des Bundesrates auch die strategische Ausrichtung der Kulturförderung für die alten und neuen Förderungsbereiche der Kulturinstitutionen des Bundes und umschreibt die Kulturförderung so erstmals als eigenständigen Politikbereich. Schwerpunkte plant der Bundesrat in der Förderung des Zugangs zur Kultur und der Bewahrung und Entwicklung der kulturellen und sprachlichen Vielfalt. Die eidgenössischen Kulturinstitutionen werden sich in der ersten vierjährigen Kreditperiode erstmals gemeinsam mit zwei transversalen Themen auseinandersetzen. Das erste dieser Projekte, „Kultur Digital“, soll die Auswirkungen der fortschreitenden Digitalisierung auf Kulturproduktion, -vermittlung und -rezeption aufzeigen. In diesem Zusammenhang lancierte Pro Helvetia zusammen mit dem Bundesamt für Kultur (BAK) im Herbst das Projekt „GameCulture“, welches unter anderem vorsieht, die Entwicklung „künstlerisch anspruchsvoller“ Videospiele zu unterstützen. Das Projekt „Lebendige Traditionen“ will die kulturellen Traditionen der Schweiz aufrechterhalten und stützt sich dabei auf die im 2008 unterzeichneten UNESCO-Konventionen zur Förderung der kulturellen Vielfalt und Bewahrung des immateriellen Kulturerbes. Zusammen mit der Botschaft sollen dem Parlament insgesamt acht Kreditbeschlüsse in einer Gesamthöhe von 632,7 Mio Fr. unterbreitet werden, was dem bisherigen Kreditvolumen entspricht
[1].
Anhaltende Unstimmigkeiten in der Schweizer Filmförderung, welche im Vorjahr in der Einreichung einer Aufsichtsbeschwerde gegen die Sektion Film des BAK kulminierten, wurden auch von den Evaluatoren der Filmförderungskonzepte des BAK 2006-2010 wahrgenommen. In ihrem
Schlussbericht zur Angemessenheit und Wirksamkeit der selektiven Filmförderung empfahlen sie mit der Trennung von Filmpolitik und Filmförderung radikale Änderungen zur Wiederherstellung des Vertrauens in die Institutionen. Während die Sektion Film des BAK heute sowohl die Strategie der Filmpolitik als auch die Entscheidungsgewalt über die geförderten Filmprojekte innehat, sollte sie sich laut den Empfehlungen der Evaluation in Zukunft nur noch um Ersteres kümmern. Ein neu geschaffenes, verwaltungsunabhängiges Organ würde indes die Entscheidungsmacht über die Vergabe von Förderungsgeldern übernehmen. Unter anderem rät der Schlussbericht den Filmfördernden, zentrale Begriffe sowie Anforderungen an die Gesuchsteller zu konkretisieren. So wird beispielsweise vorgeschlagen, Kriterien zur Auswahl der unterstützten Projekte zu präzisieren und darüber hinaus transparent zu machen, welche dieser Kriterien Vorrang haben. Die eidgenössische Filmkommission (EFiK) verabschiedete den Bericht im Juli und zeigte sich bereit, die im Bericht enthaltenen Empfehlungen einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen
[2].
Zur Volksinitiative „jugend + musik“ vgl. oben, Teil I, 8a (Grundschulen).
Der Nationalrat beschloss in der Wintersession mit einem deutlichem Mehr von 138 zu 32 Stimmen, im kommenden Jahr erneut einen Beitrag von 520 000 Franken an den
Betrieb des Schweizerischen Alpinen Museums zu entrichten. Eine Kommissionsminderheit Loepfe (cvp, AI) hatte analog dem Bundesrat die Kürzung des Beitrages auf 231 000 Franken verlangt, was den für 2008 und 2009 gesprochenen Beiträgen entsprochen hätte. Dies hätte laut der Mehrheit den Erhalt des Museums jedoch gefährdet. Mit einer knappen Mehrheit von 18 zu 14 Stimmen sprach sich auch der Ständerat für den Antrag des Nationalrates aus. Dass das Geschäft bereits zum dritten Mal in der Budgetdebatte beraten wurde, machte jedoch deutlich, dass eine vom Bund getätigte finanzielle Unterstützung von Drittmuseen umstritten ist
[3].
Die kleine Kammer beschäftigte sich im Berichtsjahr als Zweitrat mit dem Entwurf zum
Bundesgesetz über die Buchpreisbindung, welcher für den Buchverkauf während einer Mindestdauer von 18 Monaten eine obligatorische Preisanbindung an einen von Verleger oder Importeur festgelegten Fixpreis vorsieht. Im Sinne der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerates (WAK), welche argumentierte, dass sich das Gesetz zwar auf den Strukturpolitik-, jedoch nicht auf den Kulturförderungsartikel stützen könne, strich der Ständerat den Verweis zur Kulturpolitik aus der Präambel. Weiter wurde einem Antrag Frick (cvp, SZ) zugestimmt, welcher entgegen der vorberatenden Kommission dafür eintrat, auf aus dem Ausland zugestellte Bücher und auf den in der Schweiz getätigten Internethandel keine Preisregulierung vorzusehen. Die Befürworter dieses Zusatzes äusserten Bedenken zur Praktikabilität einer Preisregulierung des Internethandels und waren der Ansicht, dass dies gegen das Freihandelsabkommen verstossen würde. Ein Antrag Sommaruga (sp, BE), welcher sich gegen diese Ausnahmeregelung stellte, da dies eine Wettbewerbsbenachteiligung für den Schweizer Buchmarkt darstelle, unterlag mit 16 zu 23 Stimmen. Die Kantonskammer schuf eine weitere Differenz zum Nationalrat – in diesem Fall auf Anraten ihrer Kommission: Da es in den Augen der Mehrheit dem Preisüberwacher überlassen sei, den Buchpreis zu regulieren, sprach sich der Rat bei importierten Büchern gegen die Festlegung einer fixen Preisbandbreite von 100 bis 120 Prozent des ursprünglichen Verkaufspreises aus. In letzterem Punkt schloss sich der Nationalrat, welcher das Geschäft zur Differenzbereinigung in der Wintersession behandelte, denn auch dem Ständerat an. Er blieb aber bei seiner Version der Präambel, mit der Begründung, dass das Buch nicht nur Wirtschafts-, sondern auch Kulturgut sei. Was die Ausnahmeregelungen von der Preisregulierung betraf, sprach er sich erneut für eine abweichende Lösung aus. Er folgte mit 106 zu 73 Stimmen dem Antrag einer Kommissionsminderheit Hassler (bdp, GR), welche sich für die Streichung des betreffenden Zusatzes und somit für eine vollständige Preisregulierung aussprach. Dieses Anliegen wurde insbesondere von den Grünen, der SP und von einem Grossteil der CVP unterstützt
[4].
Eine Motion der WAK, welche vom Bundesrat einen
Bericht inklusive Antrag zur Förderung von Schweizer Buchautorinnen und Buchautoren fordert und welcher der Ständerat im Vorjahr bereits zugestimmt hatte, wurde in der Herbstsession auch vom Nationalrat begrüsst und somit an den Bundesrat überwiesen. Der Nationalrat folgte dabei dem Antrag seiner Kommission, welche zwar von dem im September publizierten Verwaltungsbericht zur selektiven Förderung in der schweizerischen Buch- und Literaturpolitik Kenntnis nahm, den darin enthaltenen Massnahmenkatalog jedoch als zu wenig ausführlich erachtete
[5].
In der Sommersession überwies der Ständerat mit knapper Mehrheit ein Postulat Savary (sp, VD) an den Bundesrat, welches diesen beauftragt, einen
Bericht über die Situation des illegalen Herunterladens von Musik zu erstellen. Im Rahmen dieses Berichts soll der Bundesrat auch prüfen, welche möglichen gesetzlichen Anpassungen zur Bekämpfung dieser Problematik in Frage kommen
[6].
Sprachen
Als der Genfer Nationalrat Hodgers (gp), welcher sich im Berichtsjahr zur Verbesserung seiner Deutschkenntnisse für ein Jahr in Bern niederliess, aufgrund der dort gemachten Erfahrungen in der NZZ am Sonntag äusserte, der Gebrauch der
Deutschschweizer Mundart sei belastend für den nationalen Zusammenhalt, sorgte dies insbesondere in der französischsprachigen Bevölkerung für ausgedehnte Debatten. In einer andauernden Flut von Leserbriefen fanden sich einerseits Stimmen, die von Deutschschweizern den vermehrten Gebrauch des Hochdeutschen forderten; andere waren jedoch im Sinne des Erhalts der Mundart eher der Ansicht, dass Schweizerdeutsch an Schulen in der Romandie gelehrt werden sollte. Ein ähnliches Problem sieht auch der Journalist und Ex-Chefredaktor der „Liberté“, José Ribeaud, welcher das Schweizerdeutsch in seinem neuen Buch als „arme de discrimination et d’exclusion“ darstellte; und das nicht nur gegenüber der lateinischen Schweiz, sondern auch gegenüber Zuzüglern aus dem Ausland. Die plurilinguale Schweiz sei „une chimère“, ein Hirngespinst. Hodgers reichte im Berichtsjahr gleich neun parlamentarische Vorstösse ein, davon neben einer Anfrage drei parlamentarische Initiativen, drei Postulate und zwei Motionen, welche mit einem breiten Massnahmenkatalog Einsatz und Verbreitung der Dialektsprache regeln sowie grundsätzlich die Mehrsprachigkeit und den Austausch über die Sprachgrenzen hinaus fördern wollen. Bereits abgelehnt wurde ein Postulat zur Förderung der Kooperation kleiner deutsch- und westschweizer Betriebe durch die Schaffung von neuen Handelskammern. Ebenfalls abgelehnt wurde eine Motion, welche den Fragenkatalog zum Sprachgebrauch wieder in den Mikrozensus der Schweizer Bevölkerung aufnehmen wollte, da nur so eine ausreichende statistische Grundlage zur sprachlichen Entwicklung in der Schweiz bestehe. Der Bundesrat führte in seiner ablehnenden Antwort aus, dass dafür neu alle fünf Jahre eine vertiefte Erhebung zum Thema „Sprache, Religion und Kultur“ stattfinden solle. Zum ersten Mal durchgeführt werde diese im Jahre 2014. Die Behandlung der verbleibenden Vorstösse, darunter auch eine parlamentarische Initiative, welche dem Erlernen einer zweiten Landessprache gegenüber dem Englischen Vorrang geben will, steht noch aus
[7].
In der Sommersession beschloss der Ständerat entgegen dem Antrag des Bundesrates, eine Motion Maissen (cvp, GR) anzunehmen, welche vom Bundesrat fordert, einen
neuen
schweizerischen Fernsehkanal zu realisieren, der bereits ausgestrahlte Sendungen durch Synchronisierung oder den Gebrauch von Untertiteln der jeweils anderssprachigen Bevölkerung zur Verfügung stellt. Der Nationalrat stand dem Geschäft im Sinne der Stärkung der gegenseitigen Verständigung und des nationalen Zusammenhalts ebenfalls positiv gegenüber, teilte aber die Bedenken des Bundesrates, ob die finanzielle Situation der SRG die Schaffung eines zusätzlichen Fernsehkanals erlaube. Er beschloss daher auf Anraten seiner Kommission, die Motion mit der Änderung anzunehmen, dass zur Erreichung dieser Ziele kein eigenständiger Kanal geschaffen werden müsse, die SRG jedoch angehalten werden soll, ihre Beiträge in dieser Sache zu erhöhen
[8].
Weiter überwies der Ständerat im Berichtsjahr ein Postulat Berset (sp, FR), welches die
Übersetzung der Internet-Übertragung von Ständeratssitzungen in allen Landessprachen verlangte. Im Gegensatz zu den Nationalratsdebatten, welche per Internet in den Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch ausgestrahlt werden, erfolgt die Übertragung der Ständeratsdebatte bisher ohne Übersetzung
[9].
Anfangs Juni verabschiedete der Bundesrat die
Verordnung über die Landessprachen und die Verständigung zwischen den Sprachgemeinschaften (SpV), welche per 1. Juli 2010 in Kraft trat und der Umsetzung des neuen Sprachengesetzes dient. In der Verordnung führt der Bund aus, dass er nicht nur die Förderung der kleinen Landessprachen in den Kantonen Graubünden und Tessin vorantreiben, sondern darüber hinaus generell alle mehrsprachigen Kantone in ihrer Erfüllung besonderer Aufgaben finanziell unterstützen will. Weiter definiert er in einem separaten Abschnitt Massnahmen zur Förderung der Verständigung und des Austauschs zwischen den Sprachgemeinschaften, wobei insbesondere die Förderung des schulischen Austauschs und die Finanzhilfen zuhanden des Instituts für Mehrsprachigkeit der Universität und Pädagogischen Hochschule Fribourg hervorzuheben sind. Letzteres wird in Zukunft die Funktion eines nationalen Kompetenzzentrums für Mehrsprachigkeit innehaben. Einen inhaltlichen Schwerpunkt setzt die Verordnung auch mit der Förderung der Mehrsprachigkeit in der Bundesverwaltung. Aufgrund der Empfehlung einer Nationalfondsstudie definiert der Bund Quoten für die Vertretung der Sprachgemeinschaften in den Departementen. Die Sollwerte sehen eine Zusammensetzung aus 70% deutsch-, 22% französisch-, 7% italienisch- und mindestens einem Prozent rätoromanisch-sprachigen Angestellten vor. En gros werden diese Werte in der Bundesverwaltung bereits realisiert, jedoch variiert deren Erfüllung von Departement zu Departement noch stark. Neu hält die Verordnung ebenfalls fest, dass Mitglieder des mittleren und oberen Kaders mit Ausnahme der Angehörigen der Eidgenössischen Technischen Hochschulen über gute aktive Kenntnisse einer zweiten, sowie mindestens über passive Kenntnisse einer dritten Amtssprache verfügen sollen. Wo dies nicht der Fall ist, müssen innerhalb eines Jahres nach Stellenantritt Massnahmen zur Förderung der Sprachkenntnisse getroffen werden
[10].
Per 1. Juli nahm mit dem Genfer Vasco Dumartheray der
erste Delegierte für Mehrsprachigkeit seine Tätigkeit in der Bundesverwaltung auf. Sein Aufgabenbereich umfasst insbesondere die Förderung der Vertretung von Angehörigen lateinischer Sprachgemeinschaften
[11].
Im Oktober des Berichtsjahres wurde in Montreux der
13. Frankophonie-Gipfel unter dem Titel „Herausforderungen und Zukunftsvisionen für die Frankophonie“ durchgeführt. Rund 1400 Delegierte aus 70 Staaten nahmen daran teil. Die Schweiz waltete zum ersten Mal als Gastgeber des Gipfels und führte hiermit ihre zunehmend aktive Rolle im Verbund fort
[12].
Kirchen und religionspolitische Fragen
Die Aufdeckung diverser Fälle von sexuellen Übergriffen in der katholischen Kirche entfachte im Berichtsjahr eine hitzige Debatte. Auf Protest stiess insbesondere die Aussage der römisch-katholischen Kirche, dass sie es den Missbrauchsopfern selbst überlasse, Anzeige zu erstatten. Von verschiedensten Seiten wurde von der Kirche daraufhin eine aktivere Rolle in dieser Frage gefordert. An der ordentlichen Schweizer Bischofskonferenz Anfangs Juni wurde schliesslich eine
Anzeigepflicht bei bestehendem Verdacht auf sexuellen Missbrauch beschlossen. Zudem betonten die Bischöfe die Wichtigkeit eines verbesserten Informationsflusses zwischen den Bistümern. Ein Priester könne nur noch eingestellt werden, wenn ein lückenloser, schriftlicher Leumund vorläge. Die Diskussion um Pädophilie im Priestertum liess darüber hinaus Stimmen laut werden, welche eine Modernisierung der katholischen Kirche forderten. So wurden im Berichtsjahr Diskussionen zur Abschwächung der Zölibatsregel und zur Ordination von Priesterinnen lanciert
[13].
Die Delegiertenversammlung des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes (SEK) wählte im Juni den Berner Theologen
Gottfried Locher als Nachfolger des noch bis Jahresende amtierenden Präsidenten Thomas Wipf. Gewählt wurde Locher im zweiten Wahlgang mit Unterstützung von Abgeordneten aus der Romandie. Der einzige westschweizer Kandidat zog seine Kandidatur als Drittplatzierter nach dem ersten Wahlgang zurück
[14].
Im Herbst wurde aufgrund zweier durch Freidenker provozierten Vorfällen eine nationale Debatte über die
Präsenz von Kruzifixen und Kreuzen im öffentlichen Raum lanciert. Ida Glanzmann-Hunkeler (cvp, LU) reichte daraufhin eine parlamentarische Initiative ein, mit welcher sie Klarheit über solche Fragen schaffen will. Das Geschäft will in der Bundesverfassung verankern, dass christlich-abendländische Symbole in der Öffentlichkeit generell zulässig sein sollen
[15].
Im November wurde der Luzerner Felix Gmür, Generalsekretär der Bischofskonferenz, als
neuer Bischof des Bistums Basel vorgestellt. Er tritt in die Fussstapfen von Bischof Kurt Koch, welcher kurz zuvor in Rom zum Kardinal geweiht wurde
[16].
Im Berichtsjahr schlug der 2009 gefällte Volksentscheid zum Minarettverbot (Volksinitiative „gegen den Bau von Minaretten“) noch immer hohe Wellen. Im Frühjahr wurden dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) von muslimischen Organisationen und dem früheren Sprecher der Genfer Moschee
zwei Rekurse zur Minarett-Initiative vorgelegt. In seiner Stellungnahme beantragte das EJPD dem EGMR im September, die Beschwerden für unzulässig zu erklären. Zum einen hätten die Beschwerdeführer vorgängig keine nationalen Instanzen durchlaufen und darüber hinaus sei es nicht die Absicht der Befürworter der Initiative gewesen, die Religionsfreiheit der Muslime einzuschränken oder die Bevölkerungsgruppe gar zu diskriminieren. Die Tatsache, dass das Minarettverbot noch nicht angewandt worden war, erleichterte den Bundesbehörden für den Moment die ablehnende Stellungnahme, da sich keiner der Beschwerdeführer als Opfer dieser potentiellen Grundrechtsverletzung darstellen konnte. Bei den Initiativbefürwortern sorgte hingegen für Entrüstung, dass das Langenthaler Minarett nach abgelehnter Baubeschwerde nun doch errichtet werden darf. Begründet wurde dieser Entscheid damit, dass Langenthal die Baubewilligung bereits im Juli 2009 und somit vor dem Volksentscheid zur Minarett-Initiative erteilt habe. Im Oktober zog das Aktionskomitee „Stopp Minarett“ den Fall vor das Verwaltungsgericht
[17].
Die Folgen des Abstimmungsergebnisses zur Minarett-Initiative waren auch im eidgenössischen Parlament, wo eine Vielzahl von Vorstössen zu muslimischen Gemeinschaften in der Schweiz eingereicht wurde, zu beobachten. Bereits überwiesen wurden die Postulate Amacker-Amann (cvp, BL), Malama (fdp, BS) und Leuenberger (gp, GE), welche die Erarbeitung eines
umfassenden Berichts, respektive die Zusammenstellung bestehender Studien
zu Muslimen in der Schweiz forderten. Die beiden letztgenannten Initianten betonten dabei, sie hätten in der Diskussion zur Minarett-Initiative eine ausgewogene und differenzierte Informationsgrundlage über in der Schweiz lebende Musliminnen und Muslime vermisst
[18].
Nationalrat Alexander Baumann (svp, TG) wollte mit einer Motion die
sicherheitspolitischen Massnahmen gegenüber Imamen verstärken. Dazu forderte er vom Bundesrat die Veröffentlichung des vom Nachrichtendienst erstellten Berichts zu islamistischen Imamen. Trotz der bundesrätlichen Ausführungen, welche die Motion unter anderem aus Geheimhaltungsgründen zur Ablehnung empfahl, nahm der Nationalrat das Begehren an; allen voran eine geschlossene FDP und SVP. Anders entschied der Ständerat, welcher die Motion somit scheitern liess
[19].
Das Resultat der Minarett-Initiative wurde zum Ausgangspunkt dreier weiterer Anliegen, welche das
friedliche Zusammenleben der verschiedenen Religionsgruppen fördern wollten. So verlangte eine parlamentarische Initiative Zisyadis (pda, VD) zur Verstärkung des interreligiösen Dialogs die Schaffung einer eidgenössischen Kommission für Religionsfragen. Eine Motion Rennwald (sp, JU) forderte die Einrichtung eines interparlamentarischen Dialoges zum Abbau der durch die Annahme der Minarett-Initiative erzeugten Misstöne im Ausland. Beide Vorstösse wurden vom Nationalrat deutlich abgelehnt, da sie Kommission und Bundesrat folgend, die Anliegen durch bestehende Strukturen bereits als erfüllt erachteten. Auf mehr Zustimmung vom Bundesrat stiess das Postulat Amacker-Amann (cvp, BS), mit welchem die Diskussion zur Verankerung eines Religionsartikels in der Bundesverfassung wieder aufgenommen wurde. Dieser soll das Verhältnis zwischen Kirchen, anderen Religionsgemeinschaften und dem Staat konkret und verbindlich regeln. Im Parlament wurde die Diskussion über dieses Postulat in der Sommersession bekämpft und verschoben
[20].
Die Rolle des Islam in der Schweiz wurde auch in den Medien stark thematisiert. Führend waren Debatten über allfällige Kopftuch- und Burkaverbote sowie über die Zulässigkeit muslimischer Grabstätten. Insbesondere eine parlamentarische Debatte im Kanton Aargau brachte im Mai gesamtschweizerisch die Gemüter in Wallung. Der Grosse Rat sprach sich überaus deutlich für einen von den Schweizer Demokraten eingebrachten Vorschlag aus, eine Standesinitiative für ein schweizweites Burkaverbot zu lancieren. Diverse Stimmen verurteilten diese Diskussion daraufhin als Scheindebatte; sie thematisiere an der Lebenswirklichkeit der in der Schweiz lebenden Mehrheit der Muslime vorbei und sei deshalb kontraproduktiv für deren Integration. Gegen ein Burkaverbot vereinten sich Frauen der SP, CSP, FDP und der Grünen. Ulrich Schlüer (svp, ZH), einer der Haupt-Initianten der Minarett-Initiative, äusserte zum allgemeinen Erstaunen Bedenken gegenüber dem Anliegen. Die zuständige kantonale Kommission folgerte auf diese und andere Reaktionen, dass das Verbot eines bestimmten Kleidungsstückes „ausserordentlich willkürlich“ sei und beschloss eine erweiterte Fassung der Initiative. Mitte September reichte der Kanton Aargau schliesslich eine
Standesinitiative für ein generelles nationales Verhüllungsverbot im öffentlichen Raum ein. Im Kanton sprachen sich die Fraktionen der SVP, CVP, FDP und EVP für, und die SP und die Grünen gegen den Vorstoss aus
[21].
Weiterführende Literatur
Bundesamt für Statistik (Hg.), Öffentliche Ausgaben für Kultur in der Schweiz, 1990-2007. Beiträge des Bundes, der Kantone und der Gemeinden, Neuenburg 2010.
De Perrot, Anne-Catherine / Thévenaz, Muriel / Wiener, Daniel, Evaluation der Filmförderungskonzepte 2006-2010. Selektive Förderung, Zürich/Basel 2010.
Pfändler-Oling, Brigitte, Die verfassungsrechtliche Grundlage der Kulturförderung im Bund. Kulturbegriff: Art. 69 BV im Verfassungszusammenhang, Basel 2010.
Tanner, Jakob e.a. (Hg.), Zwischen Kultur und Politik. Pro Helvetia 1939-2009, Zürich 2010.
Bakić, Nada, Sprachliche Minderheiten in Serbien und in der Schweiz. Ein Vergleich im Bereich Bildung und Verwaltung, Zürich 2010.
Caprez-Krompàk, Edina, Entwicklung der Erst- und Zweitsprache im interkulturellen Kontext. Eine empirische Untersuchung über den Einfluss des Unterrichts in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) auf die Sprachentwicklung, Münster 2010.
Christen, Helen e.a. (Hg.), Kleiner Sprachatlas der deutschen Schweiz, Frauenfeld 2010.
Christen, Helen e.a., Hochdeutsch in aller Munde. Eine empirische Untersuchung zur gesprochenen Standardsprache in der Deutschschweiz, Stuttgart 2010.
Conrad, Sarah-Jane e.a. (Hg.), Leben und Reden in Biel/Bienne, Tübingen 2010.
Haas, Walter (Hg.), Do you speak Swiss? Sprachenvielfalt und Sprachkompetenz in der Schweiz. Nationales Forschungsprogramm NFP 56, Zürich 2010.
Ribeaud, José, La Suisse plurilingue se déglingue. Plaidoyer pour les quatre langues nationales suisses, Neuchâtel 2010.
Allenbach, Brigit / Sökefeld, Martin, Muslime in der Schweiz, Zürich 2010.
Altermatt, Urs, Konfession, Nation und Rom, Frauenfeld 2010.
Bueno, Jael e.a. (Hg.), Wider die Instrumentalisierung von Frauenrechten. Burkaverbot – feministische Positionen und Analysen, Oberlunkhofen 2010.
Campiche, Roland J., La réligion visible. Pratiques et croyances en Suisse, Lausanne 2010.
Christmann, Anna, „Damoklesschwert Referendum? Die indirekte Wirkung ausgebauter Volksrechte auf die Rechte religiöser Minderheiten“, in Schweizerische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 16/2010, S. 1-41.
El-Sonbati, Jasmin, Moscheen ohne Minarett. Eine Muslimin in der Schweiz, Bern 2010.
Gerosa, Libero / Müller, Ludger, Katholische Kirche und Staat in der Schweiz, Zürich 2010.
Gianni, Matteo, Vie musulmane en Suisse (2e éd., complétée de l'analyse de Stéphane Lathion), Berne (CFM) 2010.
Kuhn, Achim, Was braucht der Mensch? Schweizer Persönlichkeiten über einen religiösen Text in ihrem Leben, Zürich 2010.
Marti, Michael / Kraft, Eliane / Walter, Felix, Dienstleistungen, Nutzen und Finanzierung von Religionsgemeinschaften in der Schweiz, Glarus 2010.
Stolz, Jörg / Ballif, Edmée, Die Zukunft der Reformierten, Zürich 2010.
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[1]
TA, 13.4. und 10.9.10 (GameCulture);
NZZ,
TA, 26.8.10. Vgl.
SPJ 2009, S. 258 ff.
[2]
NZZ, 29.7.10;
Lit. de Perrot e.a. Vgl.
SPJ 2009, S. 261.
[3]
AB NR, 2010, S. 1744 ff.;
AB SR, 2010, S. 1128 ff.;
NZZ, 30.11.10;
Bund 1.12.10. Eine langfristige Finanzierung will die Motion Joder (svp, BE) sicherstellen (
Mo 10.3998). Vgl.
SPJ 2005, S. 237. Zur allgemeinen Budgetdebatte vgl. oben, Teil I, 5 (Voranschlag 2011).
[4]
AB SR, 2010, S. 27 ff.;
AB NR, 2010, S. 1836 ff. Vgl.
SPJ 2009, S. 261 f.
[5]
AB NR, 2010, S. 1539 f. Vgl.
SPJ 2009, S. 262. Für den Bericht siehe www.bak.admin.ch.
[6]
AB SR, 2010, S. 596 ff.
[7]
AB NR, 2010, S. 1648 (Motion) und 1652 (Postulat).
NZZ am Sonntag, 21.3.10;
QJ, 12.5.10 (Ribeaud);
LT, 21.6.10 (Hodgers);
Lit. Ribeaud. Vgl. auch
Lit. Conrad.
[8]
AB SR, 2010, S. 445 f.;
AB NR, 2010, S. 2059 ff.
[9]
AB SR, 2010, S. 706 f. Vgl. dazu auch oben, Teil I, 1c (Parlament).
[10] Letzteres Anliegen enthielt auch die überwiesene Motion de Buman (cvp, FR) (
AB NR, 2010, S. 1129;
AB SR, 2010, S. 809 f.). Zu den Regelungen betreffend Bundesverwaltung vgl. auch oben, Teil I, 1c (Verwaltung).
[11]
Exp., 5.6.10;
SGT, 20.8.10. Vgl. auch die überwiesenen Motionen Cassis (fdp, TI) und Lombardi (cvp, TI) sowie das Postulat Hêche (sp, JU) (
AB NR, 2010, S. 553 und 1312 ff.;
AB SR, 2010, S. 296 ff. und 809 f.).
[12]
NZZ, 28.5.10. Zu den Ratsdebatten betreffend Frankophoniegipfel vgl. oben, Teil I, 2 (organisations internationales).
[13] Insb. Presse vom 31.3.10 (Modernisierung); Presse vom 3.6.10 (Delegiertenversammlung).
[15]
Pa.Iv. 10.512;
Lib., 5.11.10.
[17]
LT, 16.9.10;
NZZ 17.9.10 (EGMR); Presse vom 22.9. und 22.10. Vgl.
SPJ 2009, S. 263 ff. Für Reaktionen aus dem Ausland vgl. oben, Teil I, 2 (autres institutions européennes, organisations internationales).
[18]
AB NR, 2010, S. 92 (Po. Amacker), S. 93 (Po. Leuenberger) und S. 1132 (Po. Malama). Vgl. auch Mo. Maire (sp, NE) oben, Teil I, 7d (Ausländerpolitik).
[19]
AB NR, 2010, S. 100;
AB SR, 2010, S. 549 f. Eine bessere Kontrolle von Imamen wollte auch die Motion Reimann (svp, SG), welche das Parlament jedoch ablehnte (
AB NR, 2010, S. 85;
AB SR, 2010, S. 400).
[20]
AB NR, 2010, S. 92 (Mo. Rennwald); S. 1132 (Po. Amacker) und S. 1631 f. (Pa.Iv. Zisyadis).
[21]
Kt.Iv. 10.333;
TA, 5.5. und 8.5.10;
NZZ, 15.9.10. Vgl. auch Antwort BR zur Interpellation Darbellay (cvp, VS,
Int 09.4308) und Motion Freysinger (svp, VS,
Mo 10.3173).
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