Année politique Suisse 2011 : Allgemeine Chronik / Schweizerische Aussenpolitik
Internationale Organisationen
Die Schweiz hatte im Berichtsjahr den
Vorsitz des 2006 gegründeten GFME inne, welcher vom Sonderbotschafter für internationale Migrationszusammenarbeit Eduard Gnesa geführt wurde
[66].
Die Schweiz, vertreten durch Bundesrat Johann Schneider-Ammann, nahm im Mai erstmals an einem
Treffen der G-20-Sozial- und Arbeitsminister teil. Der Volkswirtschaftsminister setzte den inhaltlichen Schwerpunkt seiner Teilnahme an den Gesprächen auf die sozialen Aspekte der Globalisierung und forderte unter anderem eine Stärkung der internationalen Arbeitsorganisation (ILO)
[67].
Der Präsident der Schweizerischen Nationalbank
Philipp Hildebrand wurde am Rande des G-20 Gipfels in Cannes zum
Vizepräsident des Financial Stability Board (FSB) gewählt. Dieses Gremium verfolgt die weltweite makroökonomische Stabilität und erstattet als wichtiger Akteur in der diesbezüglichen internationalen Kooperation den G-20 Finanzministern Bericht
[68].
Der Nationalrat lehnte zwei Postulate seiner Aussenpolitischen Kommission (APK-NR) ab. Das eine hätte vom Bundesrat einen Bericht mit der genauen Darstellung gefordert, welche der
ILO-Konventionen die Schweiz ohne grossen gesetzgeberischen Aufwand ratifizieren könnte. Ebenfalls sollte darin die Bedeutung dieser Konvention für die Schweiz sowie die Haltung der Sozialpartner zu einer potenziellen Ratifikation erläutert werden. Das andere Postulat hätte von der Schweiz ein internationales Engagement bei der Welthandelsorganisation (WTO) für die Zuerkennung des
Beobachterstatus an die
ILO gefordert
[69].
Das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement (EVD) gab die auf einer parlamentarischen Initiative basierende Vorlage zur
Ratifikation des ILO-Übereinkommens Nr. 183 über den Mutterschutz in die Vernehmlassung
[70].
Peter Maurer, welcher im Berichtsjahr noch Staatssekretär im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) war, wurde zum
neuen Präsidenten des IKRK ernannt. Er folgt im Sommer 2012 auf Jakob Kellenberger, seines Zeichens selbst ehemaliger EDA-Staatssekretär, der seinen Rücktritt eingereicht hatte
[71].
Die 2010 in Spanien gegründete Kommission gegen die Todesstrafe (ICDP), welcher bis heute vierzehn Staaten beigetreten sind, verschob ihre Niederlassung im Berichtsjahr nach
Genf. Das Ziel der Kommission ist die Durchsetzung eines weltweiten Moratoriums für die Todesstrafe ab 2015
[72].
Der Nationalrat diskutierte im Berichtsjahr den
IWF-Sonderhilfebeschluss, zu welchem der Ständerat 2009 seine Zustimmung erteilt hatte. Die bilaterale Kreditvereinbarung sah vor, dass die Schweiz USD 10 Mia. an der Mittelaufstockung des IWF trägt. Dieser Kredit wird im Ziehungsfall von der SNB gesprochen. Diese Kreditlinie sollte durch eine Bundesgarantie von maximal CHF 12.5 Mia. gesichert werden. Das Geschäft wurde sowohl von linker als auch von rechter Seite bekämpft. Während die SVP Nichteintreten forderte und sich an der potenziellen Unterstützung der Euroländer durch diese Gelder störte, versuchte die Grüne Fraktion die Zustimmung zu diesem Bundesbeschluss an die Erhöhung der Entwicklungshilfe zu knüpfen (siehe unten). Beide Seiten scheiterten mit ihren Vorhaben und in der Schlussabstimmung wurde das Geschäft trotz Opposition von SVP, Teilen der CVP und Teilen der Grünen Fraktion mit 93 zu 68 Stimmen gutgeheissen. Ebenfalls zur Debatte standen die beiden Geschäfte
Beitritt zu den geänderten Neuen Kreditvereinbarungen (NKV) des IWF und
Garantieverpflichtung für ein Darlehen an den IWF-Treuhandfonds. Der Ständerat hatte diesen beiden Anliegen Ende Dezember 2010 zugestimmt. Ersteres forderte den Schweizer Beitritt zu den NKV, welche dem IWF Devisen zu Verfügung stellen könnte, wenn die Mittel des IWF aus dem regulären Budget für Massnahmen zur Krisenbekämpfung nicht ausreichen würden. Das zweite Geschäft betraf die Aufstockung des Schweizer Beitrages an den IWF-Treuhandfonds zur Armutsbekämpfung. Beide Anliegen wurden vom Nationalrat gutgeheissen. Eine detaillierte Analyse dieser Geschäfte ist in Teil I, Kapitel 4b (Internationale Organisationen) zu finden
[73].
In der Frühjahrssession debattierte die grosse Kammer eine Motion Schlüer (svp, ZH) über den
Austritt der Schweiz aus dem IWF. Der Motionär kritisierte die Institution insbesondere für ihr Vorgehen in der Finanzierung der offenen Forderungen hochverschuldeter Länder. Die Motion wurde mit 104 zu 45 Stimmen abgelehnt. Unterstützung erhielt Nationalrat Schlüer aus seiner eigenen Fraktion sowie von drei Politikern des linken Lagers
[74].
Bei der Frühjahrstagung des IWF im April stand die Wirtschaftskrise im Zentrum der Diskussionen. Einig waren sich die Mitgliedsländer, dass eine vertiefte Zusammenarbeit zukünftig nötig sei, um solche Krisen abzuwenden. Die globale Machtverschiebung hin zu aufstrebenden Ländern und damit das Bedürfnis einer IWF-Reform liess auch die zukünftige
Sitzverteilung im Exekutivrat des IWF ungewiss werden. Der Sitz der Schweiz im 24-köpfigen Exekutivrat des IWF war schon länger umstritten, da die Schwellen- und Entwicklungsländer mehr Einfluss im Gremium verlangten. Sowohl Bundesrätin Widmer-Schlumpf als auch Nationalbankpräsident Hildebrand erklärten aber bei der Tagung, dass die Grösse des Finanzplatzes Schweiz deren Sitz rechtfertige. Unterstützt wurde der Schweizer Sitz von den Mitgliedern der Schweizer Stimmrechtsgruppe, zu der neben Polen auch Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisistan, Serbien, Tadschikistan und Turkmenistan gehören
[75].
Der Bundesrat veröffentlichte die
Botschaft zur Genehmigung der Quoten- und Gouvernanzreform des IWF. Diese Reformbemühungen würden einerseits zu einer Verdoppelung der ordentlichen Ressourcen des IWF und andererseits durch die Anpassung der Quoten zu einer angemesseneren Repräsentation der Schwellenländer führen. Dadurch würde aber auch die Quote der Schweiz sinken, welche aber innerhalb ihrer Stimmrechtsgruppe das grösste Gewicht behalten würde (vgl. dazu die Ausführungen in Teil I, Kapitel 4b, Internationale Organisationen)
[76].
Im Oktober des Berichtjahres fand in Bern die
125. Vollversammlung der Interparlamentarischen Union (IPU) statt. Im Zentrum der Versammlung der Parlamente souveräner Staaten, welcher Parlamentarier aus über 130 Länder angehören, standen diverse aktuelle Themen wie die politischen Unruhen in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens, die „Global Governance“ sowie die weltweite Finanzmarktkrise
[77].
Die Schweiz hatte bis im Dezember 2011 den
Vorsitz der Ministerkonferenz der Frankophonie inne, welchen sie 2009 übernommen hatte. Anfang Dezember fand in Paris die Ministerkonferenz der Frankophonie unter der Leitung von Bundespräsidentin Calmy-Rey statt. Die aus den Mitglieds- und Beobachterstaaten angereisten Minister debattierten unter anderem über die Demokratisierungsbewegungen im nordafrikanischen Raum und Teilen des Nahen Ostens. Die Konferenz der Staats- und Regierungschefs der Frankophonie wird noch bis im Herbst 2012 von der Schweiz präsidiert
[78].
Der Nationalrat lehnte eine Motion der SVP ab, welche einen
Austritt der Schweiz aus der OECD forderte, sofern diese das Einstimmigkeitsprinzip nicht achte. Das Begehren hatte jedoch ausserhalb der für die Motion verantwortlichen Partei keine Chance und wurde mit 114 zu 54 Stimmen verworfen
[79].
Der Bundesrat kündigte im Januar die
Kandidatur der Schweiz für den UNO-Sicherheitsrat an. Würde die Schweiz durch die UNO-Generalversammlung im anvisierten Wahljahr 2022 gewählt werden, wäre das Land nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates für die Periode 2023−2024. Laut Aussenministerin Micheline Calmy-Rey könnte die Schweiz ihre Interessen so besser vertreten und ihr Engagement im Bereich der Friedensförderung verstärken sowie die internationale Vernetzung vertiefen. Die Idee für eine Kandidatur wurde von beiden Aussenpolitischen Ratskommissionen unterstützt. Nach Ansicht des Bundesrates wäre der Einsatz im Sicherheitsrat mit der Neutralität vereinbar und würde den verschiedenen Guten Diensten der Schweiz nicht schaden. Die Mehrheit der Parteien zeigte sich grundsätzlich offen für das Vorhaben, das erwartungsgemäss bei der SVP, welche um die schweizerische Neutralität besorgt war, auf Ablehnung stiess. Die Frage nach der Vereinbarkeit eines möglichen Sicherheitsratsmandats mit der Neutralität wurde auch in der Presse kontrovers diskutiert
[80].
Die eidgenössischen Räte überwiesen im Berichtsjahr eine Motion Amherd (cvp, VS), welche den Bundesrat aufforderte, auf UNO-Ebene einen Resolutionsentwurf zur Verpflichtung der Staaten einzubringen, Massnahmen zum Schutz der
Kinder vor Missbrauch im Internet zu ergreifen. Sowohl der Bundesrat als auch die ständerätliche Rechtskommission beantragten die Annahme der Motion. Dieser Empfehlung folgten beide Räte
[81].
Im Ständerat zur Beratung stand die Motion Gadient (bdp, GR), welche eine möglichst rasche Ratifizierung des von der UNO-Generalversammlung angenommenen
Übereinkommens zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen forderte. Das Begehren war bereits 2009 vom Nationalrat angenommen worden. Das internationale Abkommen verlangt Massnahmen zum Schutz aller Personen gegen Freiheitsentzug durch staatliche Organe oder mit Wissen des Staates – ohne dass der Staat diesen Freiheitsentzug bestätigt oder über das Schicksal der betroffenen Person Auskunft erteilt. Folglich wird durch dieses staatliche Handeln den Betroffenen der nötige rechtliche Schutz verweigert. Die Kommission für Rechtsfragen (RK-SR) machte bei der Beratung im Ständerat darauf aufmerksam, dass durch eine Ratifikation für die Kantone gewisse Vollzugsprobleme entstehen könnten. Diese sollten jedoch durch das Vernehmlassungsverfahren gelöst werden und einer Ratifikation nicht im Wege stehen. Die Ständevertreter folgten dieser Argumentation und überwiesen die Motion an den Bundesrat
[82].
Die beiden Räte berieten 2011 den
Bundesbeschluss über die Genehmigung und die Umsetzung des UNO-Feuerwaffenprotokolls. Durch diese Vorlage sollte der illegale Waffenhandel wirksamer bekämpft sowie die Herstellung von illegalen Waffen eingedämmt werden. Im Ständerat war das Geschäft unumstritten und der Beschluss wurde einstimmig angenommen. In der grossen Kammer hingegen forderte eine Minderheit Bortoluzzi (svp, ZH) Nichteintreten, weil das Bundesgesetz über Waffen, Waffenzubehör und Munition nach 2007 bereits wieder abgeändert werden müsste. Der Antrag Bortoluzzi erhielt jedoch nur aus dem SVP- und vereinzelt aus dem FDP-Lager Unterstützung und wurde abgelehnt. In der Schlussabstimmung wurde der Beschluss auch vom Nationalrat mit 140 zu 52 Stimmen angenommen. Die entsprechenden Änderungen am Waffengesetz werden detailliert in Teil I, Kapitel 1b (Waffenrecht) erläutert
[83].
Im Zusammenhang mit dem Einsatz der Nato zum Schutz der Zivilbevölkerung in Libyen und auf Basis der Resolution 1973 des UNO-Sicherheitsrats, welche die Schweizer Landesregierung offiziell zur Kenntnis genommen hatte, erteilte der Bundesrat im März einem Konvoi von
britischen Militärfahrzeugen die Erlaubnis zur Durchfahrt der Schweiz. Dies rief von seiten der SVP Kritik hervor, welche das Vorgehen des Bundesrats als Aushöhlung der Neutralität wertete. Die Landesregierung argumentierte, dass der Sicherheitsrat das Mandat für den Einsatz erteilt habe. Im selben Monat erteilte das Bundesamt für Zivilluftfahrt (Bazl) der Nato auch die Erlaubnis zum Überflug des schweizerischen Territoriums
[84].
Die Schweiz unterstützte die UNO, nebst den üblichen finanziellen Beiträgen, im Berichtsjahr mit einer einmaligen Zahlung von
CHF 50 Mio. zwecks Renovierung der UN-Gebäude in Genf. Im Ende Juni vom Bundesrat getroffenen Entscheid wurde die Bedingung festgelegt, dass die Gelder auch zu einer Erhöhung der Energieeffizienz der Gebäude beitragen müssen. Zudem gab die UNO-Generalversammlung Ende Jahr einen Kredit von USD 3.6 Mio. frei, um die Sanierung der Genfer Gebäude zu planen
[85].
Alt-Bundesrat Joseph Deiss gab
im September sein Amt als
Präsident der UNO-Generalversammlung ab. Er erhielt nach Ende seines Amtsjahres von verschiedenen Seiten Lob für sein grosses Engagement. Als persönliche Erfolge schätzte Deiss die vorangegangenen Reformbemühungen im Sicherheitsrat, das Vorgehen der UNO bei der Unterstützung der Demokratisierungsbewegungen in den Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens, allen voran in Libyen, sowie die verstärkte Zusammenarbeit zwischen der UNO und den G-20 ein
[86].
Ende September wurde eine von der Schweiz zusammen mit Argentinien und Marokko ausgearbeitete Resolution im
UNO-Menschenrechtsrat in gegenseitigem Einvernehmen verabschiedet. Durch diesen Entscheid wurde die Position eines neuen Sonderberichterstatters geschaffen, welcher die UNO-Mitgliedsstaaten in Situationen beraten und unterstützen kann, in welchen die Menschenrechte oder das humanitäre Völkerrecht grob verletzt werden
[87].
[66] Medienmitteilung EDA vom 18.2.11.
[69] Po. 10.3637:
AB NR,
2011, S. 247 ff.
[71] Presse vom 20.10.11.
[73] BRG 09.039, 10.079, 10.080:
AB NR,
2011, S. 33 f. und 44 f.;
BBl, 2011, S. 2929 f.;
TA, 2.3.11; vgl.
SPJ 2010, S. 80 f.
[74] Mo. 09.3438:
AB NR,
2011, S. 220.
[75]
SN, 18.4.11;
NZZ, 14.12.11.
[76]
BBl, 2011, S. 9121 ff.
[78] Medienmitteilung EDA vom 2.12.11.
[79] Mo. 09.3403:
AB NR, 2011, S. 752.
[80] Medienmitteilung EDA vom 12.1.11;
24H und
SoS, 13.1.11; vgl.
SPJ 2010, S. 83.
[81] Mo. 10.4148:
AB NR, 2011, S. 529;
AB SR, 2011, S. 855; siehe auch Teil I, Kapitel 1b (Sexuelle Straftaten an Kindern).
[82] Mo. 08.3915:
AB SR,
2011, S. 72 ff.; vgl.
SPJ 2009, S. 67.
[83] BRG 11.025:
AB SR,
2011, S. 853 ff. und 1310;
AB NR,
2011, S. 1914 ff. und 2284; vgl.
SPJ 2010, S. 82.
[84] Medienmitteilungen EDA vom 21.1. und 18.3.11;
BaZ, 23.3.11;
LT, 24.3.11.
[85]
LT, 20.7.11;
TG, 27.12.11.
[86]
NZZ, 31.8.11; vgl.
SPJ 2010, S. 82.
[87] Medienmitteilung EDA vom 29.9.11.
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