Année politique Suisse 1989 : Politique sociale / Assurances sociales
 
Berufliche Vorsorge
Nach Ablauf der fünfjährigen Einführungsphase ist allen Beteiligten klar, dass das Gesetz über die berufliche Vorsorge (BVG) bereits einer gründlichen Revision bedarf [23]. Der Startschuss dazu erfolgte 1988, in der Legislaturperiode 1991-1995 kann mit ersten Vorlagen gerechnet werden [24]. Da aber in der Öffentlichkeit immer mehr von einer eigentlichen Vollzugskrise gesprochen wird und der Unmut über die Mängel des BVG ständig zunimmt, regte der Zürcher Nationalrat Allenspach (fdp) in einem von 107 Parlamentarierinnen und Parlamentariern mitunterzeichneten und in der Frühjahrssession überwiesenen Postulat an, der Bundesrat möchte dem Parlament noch vor der Revision des BVG einen Bericht über bereits vorgenommene und mögliche Vereinfachungen im Vollzug der 2. Säule vorlegen [25].
Auch die Frage der Finanzierung der Pensionskassen wurde wieder in den Raum gestellt. Anlässlich der Generalversammlung des Schweizerischen Verbandes graphischer Unternehmen (SVGU) in Locarno hielt Bundesrat Cotti fest, dass im Rahmen der BVG-Revision auch die Frage nach einer Verstärkung von Umlagekomponenten in der 2. Säule aufgeworfen werden müsse. In diesem Sinn nahm der Bundesrat auch Stellung zu einer in der Herbstsession als Postulat überwiesenen Motion Reimann (sp, BE), die den Bundesrat beauftragt zu prüfen, ob nicht und wie weit die Kassen vom Prinzip des vollen Deckungskapitals abweichen dürften [26].
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Freizügigkeitsleistungen
Einer der Hauptpunkte der Kritik an den Pensionskassen sind die zum Teil sehr mangelhaften Freizügigkeitsleistungen, die es den Kassen ermöglichen, jährlich enorme Mutationsgewinne zu erwirtschaften, und die bei Stellenwechsel oft zu massiven Verlusten in der Altersvorsorge bzw. zu sehr hohen Einkaufssummen in die neue Versicherungskasse führen, was unter anderem auch ein Hindernis für die von der Wirtschaft immer wieder postulierte Mobilität der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen darstellt.
Da in erster Linie die Art. 331a und 331b des Obligationenrechts (OR), die den überobligatorischen Bereich der 2. Säule regeln, für diese Verluste verantwortlich sind, hat sich der Bundesrat bereit erklärt, die Revision dieser Artikel von der allgemeinen Überarbeitung des BVG abzukoppeln und prioritär zu behandeln. Seit Februar 1988 sucht hier eine interdepartementale Arbeitsgruppe unter der Führung des EJPD nach neuen Modellen [27]. Im Sinn einer Übergangslösung reichte der Tessiner Nationalrat Cavadini (fdp) eine parlamentarische Initiative ein, welche die sofortige Herabsetzung der im OR festgehaltenen Fristen forderte. Um die Diskussionen in den Räten nicht mit zu vielen Vorstössen zum selben Thema zu überlasten, beschloss die vorberatende Kommission, ihre Arbeiten an dieser Initiative bis zum Vorliegen der bundesrätlichen Vorschläge zu sistieren [28].
Eine grundsätzliche Neuordnung der Freizügigkeitsleistungen fordert die 1988 lancierte Volksinitiative "für eine volle Freizügigkeit in der beruflichen Vorsorge", die am 7. Juli mit 121 699 gültigen Unterschriften eingereicht wurde [29]. Diese vom Schweizerischen Kaufmännischen Verein (SKV) ausgehende und von allen Arbeitnehmerorganisationen und Gewerkschaften unterstützte Initiative hat die eher seltene Form der allgemeinen Anregung, bei der Volk und Stände nur über einen unverbindlichen Text, der das grundsätzliche Anliegen formuliert, abstimmen und dem Parlament die anschliessende konkrete Ausarbeitung eines Verfassungsartikels überlassen [30].
Diese schwache Form einer Initiative wurde wohl auch gewählt, weil sich der Ruf nach einer "vollen Freizügigkeit" zwar politisch gut nutzen lässt, sich die Experten aus allen politischen Lagern aber einig sind, dass die Freizügigkeit bei der heute herrschenden Vielfalt der Pensionskassenstrukturen nie "voll" wird sein können, weil nämlich gerade die für die Versicherten "guten" Kassen, die Leistungsprimatkassen, durch eine volle Freizügigkeit im Sinn einer Herausgabe sämtlicher Arbeitnehmer- und Arbeitgeberbeiträge in ihrer solidarischen Komponente geschmälert würden [31]. Die Fachleute möchten deshalb eher nach Lösungen suchen, die es den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erlauben würden, "ohne Substanzverlust" die Stelle zu wechseln [32]. Die BVG-Kommission sprach sich denn auch mehrheitlich für eine Lösung aus, die auf einem "Barwert der erworbenen Ansprüche" basiert. Als Mindestbetrag müssten bei einem Stellenwechsel die Arbeitnehmerbeiträge (abzüglich Risikoprämie), erhöht um einen mit dem Alter ansteigenden Zuschlag mitgegeben werden. Einkaufssummen müssten gleich berechnet werden wie die Freizügigkeitsleistungen. Bei Spareinrichtungen wäre einem Austretenden das gesamte Sparkapital auszubezahlen [33].
Wohl weitgehend unter dem Eindruck des ausgetrockneten Arbeitsmarktes gingen bereits mehrere grosse Kassen zu relevant besseren Freizügigkeitsleistungen über, und viele Fachleute sind der Ansicht, dass dieser Trend anhalten wird. Um die Probleme beim Übertritt in den Bundesdienst zu mildern, gab der Bundesrat ein revidiertes Freizügigkeitsabkommen zwischen der Eidg. Versicherungskasse (EVK) und anderen öffentlichrechtlichen Vorsorgeeinrichtungen in die Vernehmlassung [34].
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Anlagepolitik der Pensionskassen
Der zweite Punkt, der zur Diskussion stand, war die Anlagepolitik der Pensionskassen. Die Bilanzssumme der Kassen beträgt bereits über 200 Mia Fr.; davon sind rund 30% in Obligationen und Kassenscheinen angelegt, 17% in Guthaben bei den Arbeitgebern und weitere 17% in Immobilien – die Anteilscheine an Immobiliengesellschaften und Immobilienfonds nicht mitgerechnet [35].
Im Zeichen der sich zuspitzenden Situation auf dem Bodenmarkt häufte sich die Kritik am starken Engagement der Pensionskassen in diesem Bereich. Gegen den erbitterten Widerstand der Vorsorgeeinrichtungen beschloss das Parlament bei den in der Herbstsession verabschiedeten Sofortmassnahmen zur Bekämpfung der Bodenspekulation, die Anlagemöglichkeiten der Pensionskassen in schweizerischen Grundstücken von 50 auf 30% des Gesamtvermögens bzw. des Sollbestands des Sicherungsfonds zu reduzieren [36].
Der Gedanke, dass anstelle der institutionellen Anleger die Versicherten selber mit den geäufneten Geldern im Liegenschaftsmarkt aktiv werden sollten, dass also der Erwerb von selbstgenutztem Wohneigentum gefördert werden müsste, hat in den vergangenen Jahren immer wieder Anlass zu parlamentarischen Vorstössen gegeben. Das BVG sieht zwar die Möglichkeit der Verpfändung der Ansprüche und die Kapitalauszahlung anstelle einer Rente vor, doch ist auch dem Bundesrat bewusst, dass dies – gemessen an den realen Bedürfnissen und den tatsächlichen Gegebenheiten – ungenügend ist, weshalb sich eine Arbeitsgruppe des EJPD und eine Subkommission der Eidg. Kommission für die berufliche Vorsorge intensiv mit diesen Fragen auseinandersetzten [37]. Sowohl um diese Arbeiten zu beschleunigen als auch im Sinn einer generellen Weichenstellung häuften sich 1989 die parlamentarischen Interventionen zu diesem Thema. Dass dabei vor allem der Nationalrat eine schärfere Gangart anschlagen wollte als der Bundesrat geht aus dem Umstand hervor, dass er in der Sommersession den Kernpunkt einer eher grundsätzlichen Motion von A. Müller (Idu, AG), nämlich die Aufforderung, das BVG im Sinn einer vermehrten Wohneigentumsförderung zu revidieren, in der starken Form überwies, obgleich der Bundesrat beantragt hatte, die Motion in ein Postulat umzuwandeln [38]. Auf die weiteren parlamentarischen Vorstösse und die bundesrätliche Politik im Bereich der Wohneigentumsförderung mit den Mitteln der beruflichen Vorsorge wird an anderer Stelle eingegangen (siehe oben, Teil I, 6c, Wohnungsbau).
Die Anlagepolitik der Pensionskassen gab aber auch noch anderen Anlass zu Diskussionen. In einem viel beachteten Referat empfahl Nationalbankpräsident Markus Lusser den Kassen dringend, ihre Anlagen in inländische und ausländische Aktien zu diversifizieren, da der schweizerische Boden- und Obligationenmarkt bald einmal gesättigt sein werde [39]. In der Wintersession wurde eine Motion Matthey (sp, NE), die den Bundesrat ersuchte, die erforderlichen Massnahmen zu ergreifen, damit sich die Pensionskassen vermehrt an der Risikokapitalbildung beteiligten, als Postulat überwiesen [40].
 
[23] SHZ, 18.5.89; Bilanz, 1989, 10, S. 200 ff.
[24] NZZ, 20.10.89 (Äusserungen des neuen BSV-Direktors zum "Fahrplan" der BVG-Revisionen). Siehe auch SPJ 1988, S. 205.
[25] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 595. Zu den laufenden Arbeiten der Arbeitsgruppe "Administrative Vereinfachungen" der BVG-Kommission siehe NZZ und TA, 13.5.89.
[26] BZ, 10.6.89; Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1700 f.
[27] An einer Tagung am Gottlieb-Duttweiler-Institut (Rüschlikon) im Oktober kündigte der Direktor des BSV an, Bericht und formulierter Entwurf sollten noch vor Ablauf des Jahres an die BVG-Kommission zur Beratung und 1990 in die Vernehmlassung gehen (NZZ, 20.10.89).
[28] Verhandl. B.vers, 1989, IV, S. 23; NZZ, 23.8.89.
[29] BBl, 1989, III, S. 149 ff.; Presse vom 8.7. und 5.9.89. Als "Akt der Solidarität zwischen ausländischen und schweizerischen Arbeitnehmern" wurde in Zusammenarbeit zwischen SGB, CNG und den wichtigsten Immigrantenorganisationen eine Petition lanciert, die sich hinter die Ziele der Volksinitiative stellt, und die im Dezember mit rund 57 000 Unterschriften ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Bundeskanzlei eingereicht wurde (SGB, Nr. 33, 2.11. und Nr. 40, 21.12.89; Presse vom 19.12.89).
[30] Seit 1891 wurden nur gerade acht der insgesamt 176 Volksinitiativen in dieser Form eingereicht (Ww, 23.2.89).
[31] TA, 9.3 und 8.7.89.
[32] Gute Versicherungsleistungen, hohe Freizügigkeit und die von Arbeitgeberseite immer wieder geforderte Kostenneutralität werden aber wohl nur schwer vereinbar sein. Mit einer Verteuerung des Ganzen um ein bis zwei Lohnprozente müsste wohl gerechnet werden, obgleich hier auch der Beizug der bisher geäufneten Mutationsgewinne kostendämpfend wirken könnte (Bund, 10.8.89; SHZ, 20.7.89).
[33] Ihre Begründungen und Schlussfolgerungen fassten die vier Experten in der Studie Libre passage dans la prévoyance professionnelle: principes et modifications de la législation en vigeur, Peseux 1988, zusammen. Siehe dazu auch TA, 9.3.89.
[34] TA, 4.8.89; Bund, 10.8.89; Ww, 12.10.89; Suisse, 20.12.89; NZZ, 28.12.89; EVK: NZZ, 4.7.89. Für den in diesem Zusammenhang wichtigen Gesamtarbeitsvertrag in der Metall- und Maschinenindustrie siehe SPJ 1988, S. 189 f.
[35] Das BA für Statistik (BFS) veröffentlichte erstmals eine vollständige Erhebung über die in den Pensionskassen gebunden Gelder. Die Zahlen sind diejenigen von Ende 1987. Derartige Erhebungen sollen nun regelmässig alle fünf Jahre durchgeführt werden (NZZ, 27.6.89). Zum heutigen Stand siehe Ww, 9.3. und 29.6.89.
[36] AS, 1989, S. 1981 ff. und 2123 ff. Siehe oben, Teil I, 6 c (Raumplanung). Zur Opposition der Kassen siehe SZ, 28.8.89; JdG, 2.9.89; NZZ, 24 Heures und JdG, 9.9.89.
[37] Amtl. Bull. NR, 1988, S. 894 (Schriftliche Stellungnahme des Bundesrates vom 25. Mai 1988 zu einer Motion der CVP-Fraktion des Nationalrates).
[38] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1007 ff. Der zweite Punkt der Motion (demokratische Mitsprache im Bereich der Anlagepolitik) wurde als Postulat überwiesen.
[39] AT und BaZ, 23.2.89; TA, 23. und 25.5.89.
[40] Amtl. Bull. NR, 1989, S. 2231 f.