Année politique Suisse 1990 : Eléments du système politique / Problèmes politiques fondamentaux et conscience nationale
 
Totalrevision von Kantonsverfassungen
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Bern
Im Kanton Bern hat die 35köpfige Verfassungskommission des Grossen Rates die Beratungen zu dem vom Regierungsrat überarbeiteten Entwurf einer neuen Staatsverfassung weitergeführt. Wesentliche Neuerungen betrafen die Transparenz der öffentlichen Verwaltung — künftig soll der Grundsatz Öffentlichkeit mit Geheimhaltungsvorbehalt gelten —, die Einschränkung der Bedeutung des Dekrets (Rechtssetzungsstufe zwischen Gesetz und Verordnung) sowie den Ausbau der Volksrechte. Bei letzteren entschied sich die Kommission für die Einführung des Referendums zu allen Parlamentsbeschlüssen und für die Ausweitung des Initiativrechts auf den gesamten Kompetenzbereich des Parlamentes. Im Mai präsentierte die Kommission den überarbeiteten Entwurf als Zwischenbericht dem Regierungsrat. Dieser stellte sich insbesondere gegen den vorgesehenen Ausbau der Volksrechte und gegen die Neuformulierung des Minderheitenschutzes, wonach nicht nur den Bedürfnissen der französischsprachigen Minderheit, sondern allgemein denjenigen von allen sprachlichen, kulturellen und regionalen Minderheiten Rechnung zu tragen sei. Diese Einwände wurden von der Kommission, in welcher nach den Berner Wahlen 16 neue Mitglieder sassen, bei der Detailberatung berücksichtigt. Die Mitwirkung des Volkes bei wichtigen Entscheiden des Parlaments soll durch sogenannte Teilgeneralklauseln (referendumsfähige Planungsentscheide, Konzessionsbeschlüsse etc.) geregelt werden; vorgesehen sind aber auch abschliessende Kompetenzen des Parlaments (Ausgabenbeschlüsse bis 1 Mio Fr.). Zudem soll ein Parlamentsbeschluss dem Referendum unterstellt werden, wenn dies 70 der 200 Mitglieder des Grossen Rates verlangen. In bezug auf die Minderheiten gab die Kommission der Regierung ebenfalls nach. Eine zweite Vernehmlassung ist für Mitte 1991 angekündigt worden [14].
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Übrige Kantone
Im Kanton St. Gallen hat die 15köpfige Kommission ihre Vorprüfung einer eventuellen Totalrevision der 100jährigen Verfassung abgeschlossen. Der Regierungsrat hat sich aber im Berichtsjahr noch nicht dazu geäussert [15].
Nachdem sich der Regierungsrat von Appenzell-Ausserrhoden für die Totalrevision der aus dem Jahre 1908 stammenden Verfassung ausgesprochen hatte, befürwortete auch der Kantonsrat diesen Entscheid. Wichtigste Fragen einer allfälligen Totalrevision, über deren Durchführung die Landsgemeinde 1991 entscheiden soll, wären die Beibehaltung der Landsgemeinde, die Einführung des Proporzwahlrechts, die Einführung kultureller und umweltschützerischer Anliegen sowie die vollamtliche Regierungstätigkeit [16].
In Graubünden reichte der Sozialdemokrat Jäger eine Motion ein, in welcher er — unterstützt von 70 Mitunterzeichnern — eine Totalrevision der seit 1894 gültigen Kantonsverfassung forderte. Der SP gelang es, viele bürgerliche Parlamentarier hinter sich zu scharen und gegen den Willen des Regierungsrates eine Überweisung durchzusetzen. Damit wurde die Exekutive beauftragt, einen Bericht über eine Totalrevision zuhanden des Grossen Rates auszuarbeiten [17].
Die Regierung des Kantons Luzern unternahm mit einem sogenannten Planungsbericht einen ersten Schritt, um das Gesetz über die Organisation von Regierung und Verwaltung aus dem Jahre 1899 zu ändern und gleichzeitig eine Teil-, später eventuell eine Totalrevision der Staatsverfassung von 1875 an die Hand zu nehmen [18].
Im Kanton Zug verabschiedete das Parlament eine umfassende Teilrevision der Staatsverfassung in zehn Teilbereichen, welche wichtige Punkte wie Gewaltentrennung, Rechtspflege, Notrecht und die Volksrechte betrafen. Sämtliche Vorlagen wurden in der Volksabstimmung angenommen, obwohl SP und Gewerkschaftsbund zur Neuregelung der Volksrechte und zum Notrecht die Nein-Parole herausgegeben hatten [19]. Im Kanton Schwyz bestellte der Kantonsrat eine Kommission zur Vorberatung einer Teilrevision der Kantonsverfassung [20].
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700-Jahr-Feier
Bei der Planung der 700-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft, entwickelte sich aus der Zusammenarbeit des Delegierten des Bundesrates, Marco Solari, mit den Kantonen und privaten Organisationen ein dichtes Netz vielfältigster Projekte. Unter dem Leitmotiv der Begegnung hat die von über 90 Organisationen getragene "Aktion Begegnung 91", welche als Informations- und Koordinationsstelle dient, Schwerpunktprojekte wie "Begegnung am Heimatort", das für Auslandschweizer bestimmte Programm " 1991 die Schweiz besuchen" sowie einen Lehrlingsaustausch zwischen den Sprachregionen vorbereitet. Andere Aktionen wie "Begegnen im Sport", getragen von den wichtigsten Sportorganisationen des Landes, und "Stern 91 ", eine Sternwanderung von verschiedenen Punkten der Landesgrenze bis in die Urschweiz als Beitrag der Schweizer Wanderwege gehören ebenso zu den Schwerpunkten der Begegnungsaktionen [21].
Eine weitere private Koordinationsorganisation, "Chance 700", setzte sich zum Ziel, Gegenakzente zu den offiziellen Feierlichkeiten zu setzen. Die Auseinandersetzung mit den Benachteiligten unserer Gesellschaft sollen den Schwerpunkt dieser Veranstaltungen bilden; so wurden denn Projekte wie eine therapeutische landwirtschaftliche Wohngemeinschaft, die Ausstellung "Altitudes" zur Entwicklung des Berggebiets, die Musikanimationsveranstaltung "Pop Schwiz" und eine Sternwanderung mit Menschen aus der dritten Welt geplant [22].
Auch die Bundesversammlung will ihren eigenen Beitrag an die Feierlichkeiten leisten. Die von den Büros der beiden Räte eingesetzte Arbeitsgruppe sprach sich für eine Frauensession, eine Sondersession mit der Aufführung eines Theaterstücks im Nationalratssaal und eine Jugendsession aus [23].
Da der Delegierte für die 700-Jahr-Feier auf keinen Fall das Budget von 65 Mio Fr. überschreiten durfte, fielen seine Beiträge an die Kantone, welche aussergewöhnliche Aktionen planten, relativ niedrig aus. In Graubünden hatte ein Finanzreferendum gegen einen kantonalen Kredit von 3,2 Mio Fr. Erfolg, worauf die Regierung sämtliche Projekte des geplanten "Bündner Fest 91" ersatzlos strich; das "Fest der Solidarität" des Bundes im Kanton Graubünden wird davon allerdings nicht tangiert. In Baselland hingegen scheiterte das von den Grünen und der GSoA ergriffene Referendum gegen einen Kredit von 1,7 Mio Fr. in der Volksabstimmung [24].
Ein Jahr vor den Feiern wurde aber auch die Privatwirtschaft aktiv und sicherte die Summe von ungefähr 10 Mio Fr. zu, welche für kantonale und private Projekte noch gefehlt hatten. So unterstützte Nestlé mit 3 Mio Fr. das Projekt "L'épopée de l'Europe", eine multimediale Präsentation der Schweiz aus europäischer Sicht, und Hoffmann-La Roche spendete 1,5 Mio Fr. für den Film "Switzerland". Auch die Migros und die SMH befinden sich unter den Sponsoren [25].
Um den Feierlichkeiten auch eine Öffnung nach aussen zu ermöglichen, wurden neben dem privat organisierten internationalen Jugendtreffen auch grenzüberschreitende Projekte der Kantone sowie grossangelegte Veranstaltungen von schweizerischen Botschaften im Ausland geplant [26].
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Kulturboykott
Im Rahmen der Enthüllungen der Parlamentarischen Untersuchungskommission zu den Vorkommnissen im EJPD sowie den weiteren Nachforschungen zur Fichenaffäre innerhalb des EMD stellten sich bei vielen Kulturschaffenden Zweifel ein, ob sie sich an Kulturprojekten im Rahmen der 700-Jahr-Feierlichkeiten aktiv beteiligen sollen oder nicht. Bereits am Jahresanfang zog der Schriftsteller Gerold Späth aus Protest gegen den "Schnüffelstaat" sein für eine 700-Jahr-Feier-Serie von Radio DRS geschriebenes Hörspiel "Lasst hören aus alter Zeit" zurück. Die Diskussion um einen Kulturboykott wurde nun vor allem innerhalb der Autoren- und Autorinnen-Gruppe Olten geführt, ohne dass vorerst jedoch ein kollektiver Boykottentscheid zustandekam [27].
In der Folge unterzeichneten über 700 Kulturschaffende aus der ganzen Schweiz die Erklärung "Keine Kultur zur Feier des Schnüffelstaates". Sie machten die Abschaffung der politischen Polizei und die vollständige Offenlegung von allen Fichen und Dossiers bis Ende Jahr zur Bedingung für die Mitarbeit an kulturellen Veranstaltungen anlässlich der 700-Jahr-Feier [28]. Nachdem diese Erklärung ohne wahrnehmbare Wirkung bei Regierung und Parlament geblieben war, gingen die Initianten einen Schritt weiter und liessen im April der Boykottdrohung den Boykottbeschluss folgen. Bis zum Juli unterschrieben über 500 Kulturschaffende die Boykotterklärung [29].
Die Gruppe Olten, welche sich 1989 noch grundsätzlich gegen einen Boykottaufruf ausgesprochen hatte, stimmte im Juni an ihrer Generalversammlung mit 22 Ja gegen 17 Nein bei 5 Enthaltungen für die Unterstützung des Boykotts. Dass sich Gegner und Befürworter des Boykotts praktisch die Waage hielten, zeigte, wie umstritten diese Frage war. Einerseits betonten die Befürworter den Grundsatzcharakter der Boykottfrage. Kulturschaffende sollten dem Uberwacherstaat nicht durch konstruktive Kritik im Rahmen der Zentenarfeiern dienen, weil sie damit bloss eine Alibifunktion übernehmen und das bestehende Machtgefüge legitimieren würden. Gegner betonten, dass die Mitarbeit an den kulturellen Veranstaltungen eine einmalige Gelegenheit der Mitsprache und Mitgestaltung am kulturellen und politischen Geschehen in der Schweiz sei, die es nicht zu verpassen gelte [30].
Die Debatte zum Kulturboykott und zum Verhältnis zwischen Staat und Kultur erfasste aber auch Organisationen, die nicht zum Kultursektor im engeren Sinn gehören. So haben Mitglieder verschiedener Aktionsgruppen das Komitee "700 Jahre sind genug" gegründet; mit einem Manifest "Schweiz 1991: kein Grund zum Feiern" soll der Protest gegen die staatlich inszenierten Feierlichkeiten ausgedrückt werden. Als Gegenmanifestation zu den offiziellen Anlässen der Eidgenossenschaft plante das Komitee ein grosses Festival, das im Sommer 1991 in Saignelégier (JU) stattfinden und die "andere Schweiz" repräsentieren soll. Andere Veranstaltungen zu Themen wie Umweltschutz, Asylpolitik, Dienstverweigerung oder Bankenpolitik sind ebenfalls vorgesehen [31].
 
[14] Bund, 9.2. und 23.3.90; BZ und Bund, 30.5.90 (Kommissionsarbeit und Zwischenbericht); NZZ, 16.8.90; BZ, 14.9.90; Bund, 21.9.90 (Antwort der Regierung); Bund, 2.11.90 (Überarbeitung Kommission). Siehe auch Lit. Zwischenbericht und SPJ 1989, S. 16 f.
[15] SGT, 17.7. und 16.11.90; vgl. SPJ 1989, S. 17.
[16] NZZ, 26.9.90; SGT, 26.9.und 30.10.90; vgl. SPJ 1989, S. 17.
[17] BüZ, 1.6. und 4.10.90.
[18] LNN und Vat., 6.1 1.90.
[19] LNN, 21.4., 9.10., 28.11. und 3.12.90; Vat., 27.4. und 24.11.90. Vgl. auch SPJ 1989, S. 17 und 268.
[20] LNN, 26.10.90.
[21] AT, 5.1.90; BüZ, 30.1.90 (Begegnung am Heimatort); NZZ, 30.3. (Begegnunng 91) und 6.4.90 (Sternmarsch). Vgl. auch die Ubersichten in SGT, 26.9.90 und SN, 28.12.90. Zu Aktionen in der Romandie: DP, 8.11.90.
[22] NZZ, 23.1.90. Vgl. auch Info 700, 1990, Nr. 11, S. 21.
[23] NZZ, 27.3.90; WoZ, 6.4.90.
[24] GR: BüZ, 20.3., 21.4., 8.6. und 24.9.90; WoZ, 28.9.90. BL: BaZ, 19.7., 5.9. und 24.9.90.
[25] Ww, 31.5.90; BZ und Vat., 26.7.90.
[26] BZ, 23.1.90; NZZ, 19.4.90; Ww, 24.5.90; 24 Heures, 28.12.90.
[27] Bund, 26.1.90; WoZ, 2.2.90. Vgl. auch SPJ 1989, S. 18.
[28] BaZ und WoZ, 2.2.90; Bund, 3.2.90.
[29] WoZ, 27.4.90.
[30] WoZ, 8.6.90; TA, 11.6.90.
[31] NZZ, 1.11.90; WoZ, 2.11.90.