Année politique Suisse 1990 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport
 
Fürsorge
Primär aus Gründen der Gleichstellung der Geschlechter war eine Revision des Bundesgesetzes über die Zuständigkeit für die Unterstützung Bedürftiger notwendig geworden. Unbestritten waren in beiden Räten die Einführung eines eigenen Unterstützungswohnsitzes für die Ehefrau und die Anpassungen der Bestimmungen für die Begründung eines eigenen Unterstützungswohnsitzes durch Unmündige. Zu reden gar vor allem im Nationalrat der Umstand, dass der Bundesrat auf Wunsch der Kantone wieder vom reinen Wohnsitzprinzip abgekommen war und an einer zweijährigen Rückerstattungspflicht durch den Heimatkanton festhielt. Mit geringfügigen Anderungen stimmten die Räte schliesslich dem Vorschlag des Bundesrates zu, doch überwies der Nationalrat gleichzeitig zwei Postulate, die weitere Abklärungen im Hinblick auf die Einführung des alleinigen Wohnsitzprinzips und einen besseren Schutz der Fahrenden verlangen [43] .
Der Bundesrat gab seinen Entwurf für ein neues Bundesgesetz über die Finanzhilfe an die Höheren Fachschulen im Sozialbereich in die Vernehmlassung. Die bisher auf der Grundlage befristeter Bundesbeschlüsse ausgerichteten Beiträge sollen so im Dauerrecht verankert werden [44].
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Armut
Nach den Kriterien der EG und der WHO gilt eine Person als arm, wenn ihr Einkommen weniger als die Hälfte des Einkommens beträgt, das in einem Land durchschnittlich zur Verfügung steht. Geht man von dieser Definition der Armutsschwelle aus, leben 8% oder ungefähr 500 000 Menschen in der Schweiz in Armut. Dient als Richtschnur die für die Entrichtung von Ergänzungsleistungen der AHV/IV massgebliche Einkommensgrenze, so sinkt der Anteil der Armen auf 4%. Auf 10% steigt er dagegen, wenn die für Mietzinszuschüsse massgebliche Einkommensgrenze berücksichtigt wird. Dies ergab eine Untersuchung des Instituts für Sozialwissenschaft der Universität Lausanne. Noch erschreckendere Zahlen lieferte eine Armutsstudie im Kanton Neuenburg, derzufolge mindestens ein Sechstel, wahrscheinlicher aber eher ein Fünftel der Bevölkerung unter der von EG und WHO definierten Armutsschwelle lebt [45] .
Fachleute und Politiker wiesen immer wieder auf den engen Zusammenhang zwischen Armut und Wohnungsnot hin. Diese Einsicht fand auch im Parlament ihren Niederschlag, wo eine parlamentarische Initiative der Kommission des Ständerates und drei Motionen eingereicht wurden, die den Bundesrat beauftragen, in diesem Bereich konkrete Massnahmen zur Verhinderung von Härtefällen zu ergreifen [46] .
Die Förderung preisgünstigen Wohnungsbaus war denn auch ein zentrales Anliegen der CVP, die im Sommer ein Positionspapier zur "Armut im Wohlstand" veröffentlichte. Sie verlangte zudem, der Bund solle sein Engagement bei den Ergänzungsleistungen zur AHV/IV ausbauen, damit die Kantone die dadurch freiwerdenden Mittel zur Existenzsicherung derjeniger Menschen einsetzen könnten, die keinen Anspruch auf Ergänzungsleistungen haben, wie ausgesteuerte Arbeitslose oder Alleinerziehende. Die CVP fand auch die Einführung eines garantierten Mindesteinkommens (GME) prüfenswert. Da die Armut in der Schweiz primär die Frauen betrifft, erachtete sie die Durchsetzung der Lohngleichheit als vordringliches Postulat [47] .
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Behinderte
126 Parlamentarier und Parlamentarierinnen unterzeichneten eine Motion Schnider (cvp, LU), welche die Abschaffung des Militärpflichtersatzes für Schwerbehinderte verlangte. Da der Bundesrat glaubhaft versicherte, diese Steuer führe keinesfalls zu sozialen Härtefällen und werde im Rahmen der anstehenden Armeereorganisation ohnehin überprüft, überwies der Nationalrat die Motion nur als Postulat [48].
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Opfer von Gewaltverbrechen
Im April leitete der Bundesrat dem Parlament den lange erwarteten Entwurf zu einem Opferhilfegesetz (OHG) zu. Hauptelement des neuen Gesetzes ist, dass nicht mehr in erster Linie die Täter oder Täterinnen, sondern vermehrt die Opfer von Gewaltverbrechen ins Zentrum des Strafrechts gerückt werden.
Erstes Ziel der Opferhilfe ist die Beratung und Betreuung. Die Kantone werden verpflichtet, rund um die Uhr und kostenlos für die medizinische, psychologische, soziale, materielle und juristische Unterstützung der Opfer zu sorgen.
Ein weiterer zentraler Punkt des OHG ist die künftige Besserstellung des Opfers im Strafverfahren. So darf seine Identität nicht mehr veröffentlicht werden. Begegnungen zwischen Opfer und Täter sind möglichst zu vermeiden. Für Frauen ist bedeutsam, dass Opfer von Sexualdelikten bei polizeilichen Ermittlungsverfahren verlangen können, von einer Person gleichen Geschlechts einvernommen zu werden. Betroffene sollen das Recht haben, sich bei Einvernahmen von einer Vertrauensperson begleiten zu lassen und Antworten zu verweigern, welche die Intimsphäre verletzen. Die vorberatende Kommission des Nationalrates verbesserte die Opferrechte in zwei Punkten: auf Verlangen soll die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden und dem urteilenden Gericht muss mindestens eine Person gleichen Geschlechts wie das Opfer angehören. Letztere Forderung will auch eine Motion Bär (gp, BE) durchsetzen, die von 22 weiteren Parlamentarierinnen unterzeichnet wurde.
Im weiteren ist eine Entschädigung des Opfers durch den Staat vorgesehen, wenn es vom Täter nicht oder nur ungenügend entschädigt werden kann. In diese Richtung zielt auch das Europäische Übereinkommen über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten, dessen Ratifizierung der Bundesrat gleichzeitig beantragte. Dieses Abkommen strebt eine Harmonisierung der entsprechenden Rechtsgrundlagen in ganz Europa an [49].
 
[43] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 495 ff., 1039 und 1102; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1823 ff. und 2487; BBI, 1990, 111, S. 1663 ff. Siehe auch SPJ 1989, S. 199.
[44] NZZ, 24.12.90. Siehe auch SPJ 1989, S. 199.
[45] Lausanner Studie: SN, 1.10.90. Neuenburg: Lit. Hainard; LM, 2.11.90. Aufgeschreckt durch diese Zahlen reichte die FDP-Fraktion ein Postulat ein, das für das Jubiläumsjahr eine nationale Konferenz zum Thema Armut anregt (Verhandl. B. vers., 1990, V. S. 57 f.). Im Rahmen des von 5 auf 8,5 Mio Fr. aufgestockten NFP 29 soll nun die seit langem geforderte nationale Armutsstudie entstehen (Bulletin NFP 29, Nr. 1, September 1990, S. 7).
[46] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 832 f. Die Initiative wurde im Rat nur vorgestellt, nicht aber behandelt. Verhandl. B.vers.,1990, IV, S. 121 und 134 (Motionen Reimann sp, BE und Thür gp, AG im NR). Die Motion Zimmerli (svp, BE) im StR wurde in der Wintersession wieder zurückgezogen (Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 150). Im Auftrag des BA für Wohnungswesen wurde eine Studie ausgearbeitet, die auch mögliche Massnahmen auflistet: siehe Lit. Arend et al. Siehe dazu auch die Stellungnahme des BR (Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2506 f.).
[47] Presse vom 10.8.90. Zur grundsätzlichen Diskussion eines GME, wie sie die Grüne Partei verlangte, siehe unten, Teil I, 7c (Sozialversicherungen).
[48] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1902 f.. Der Rat überwies auch ein Postulat Pini (fdp, TI) mit ähnlicher Stossrichtung (ibid., S. 935). Im September reichte der Kanton Jura eine Standesinitiative ein, die ebenfalls die Abschaffung des Militärpflichtersatzes für körperlich und .geistig behinderte Personen verlangt (Verhandl. B.vers., 1990, IV, S. 22).
[49] BBI, 1990,II, S. 961 ff. und III, S. 1008; Presse vom 26.4. und vom 18.12.90. Motion Bär: Verhandl. B.vers., 1990, V, S. 70.