Année politique Suisse 1996 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Familienpolitik
Gegen den Willen von Bundesrätin Dreifuss, welche den Vorschlag als zu ambitioniert und als zu starke Belastung für die Verwaltung bezeichnete, nahm der Nationalrat in der Herbstsession nach kurzer Diskussion mit 79 zu 50 Stimmen eine Motion der CVP-Fraktion an, welche verlangt, dass inskünftig alle Gesetze auf ihre Familienverträglichkeit überprüft werden müssen [63].
Die im Vorjahr von Bundesrätin Dreifuss eingesetzte Koordinationskommission für Familienfragen nahm ihre Arbeit auf und setzte prioritäre Themenschwerpunkte ihrer zukünftigen Tätigkeit. Als erstes wird sie sich mit den Auswirkungen von Erwerbslosigkeit und Armut auf Familien beschäftigen. Ein zweites Thema stellt die Anwendung der Verwandtenunterstützungspflicht nach Art. 328 f. ZGB durch die kantonalen und kommunalen Sozialdienste dar. Ein drittes Arbeitsgebiet bildet schliesslich der 1982 vom Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) veröffentlichte Bericht "Familienpolitik in der Schweiz", der auf seine aktuelle Gültigkeit hin überprüft werden soll [64].
Der Bundesrat nahm Ende Oktober einen vom BSV in Auftrag gegebenen Bericht "Familien mit alleinerziehenden Eltern" zur Kenntnis, der auf ein 1989 eingereichtes Postulat Segmüller (cvp, SG) zurückgeht. Der Bericht zeigte, dass in der Schweiz bei den Haushaltungen mit nur einem Elternteil in den letzten Jahren kein rascher Anstieg zu verzeichnen war. Heute setzen sich rund 83 000 Haushalte aus nur einem Elternteil und einem oder mehreren Kindern unter 20 Jahren zusammen. Hauptgrund für die Einelternsituation ist eine Scheidung oder eine Trennung. Die freiwillige aussereheliche Lebensgemeinschaft eines Elternteils mit seinen Kindern oder der Tod des Ehegatten sind weit weniger verbreitet. 85% der Einelternhaushalte werden von Frauen geführt. Die wirtschaftliche Situation von Einelternhaushalten ist oft prekär. Die finanzielle Lage dieser Familien hängt im Einzelfall von der materiellen und beruflichen Stellung sowie vom Grund ab, der zur Einelternfamilie geführt hat. Ein entscheidendes Problem stellt die ausserhäusliche Kinderbetreuung dar. Der Bericht kam einmal mehr zum Schluss, dass hier die dafür vorgesehenen Strukturen ungenügend sind [65].
Im Sommer 1995 hatte das EDI das Vernehmlassungsverfahren zu einem Entwurf der Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates für ein Bundesgesetz über die Familienzulagen eröffnet. In Anwendung des Grundsatzes "ein Kind - eine Zulage" hätten gemäss diesem Entwurf Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Selbständigerwerbende und Nichterwerbstätige Anspruch auf eine ganze Zulage für jedes Kind. Bezüglich der Höhe der Zulage wurden verschiedene Varianten zur Diskussion gestellt. Wie erwartet, fielen die 101 eingegangenen Stellungnahmen kontrovers aus. 11 Kantone (darunter der Kanton Tessin sowie alle Kantone der Romandie ausser der Waadt), die SP, die Gewerkschaften, Pro Juventute und Pro Familia sowie weitere Organisationen sprachen sich für eine bundesrechtliche Lösung aus. Die CVP stimmte grundsätzlich zu, erachtete aber den Zeitpunkt als ungeeignet und wollte in erster Priorität die Mutterschaftsversicherung realisieren. 15 Kantone, FDP, SVP, LP und FP sowie die Spitzenverbände der Arbeitgeber lehnten die Vorschläge pauschal ab. Als Hauptargument führten die Gegner ins Feld, die Sicherung des im Sozialversicherungswesen Erreichten habe Vorrang vor einem weiteren Ausbau; eine zusätzliche Belastung der Schweizer Wirtschaft sowie der Finanzhaushalte des Bundes und der Kantone mit weiteren Sozialabgaben resp. -leistungen sei nicht verkraftbar [66]. Dass der Nationalrat dem Gedanken der einheitlichen Familienzulagen nach wie vor nicht abgeneigt ist, zeigte sich bei der Behandlung einer Motion Dünki (evp, ZH) auf Harmonisierung und Erhöhung der Familienzulagen, welche angesichts der anstehenden Entscheide jedoch nur in der Postulatsform überwiesen wurde [67].
Der Kanton Tessin führte ein neues Familienzulagengesetz ein, das bedürftigen Familien mit Kindern unter drei Jahren existenzsichernde Familienzulagen garantiert. Der Grundgedanke hinter dem neuen Gesetz, das ab Juli 1997 in eine vierjährige Versuchsphase tritt, ist, dass die Geburt eines Kindes nicht Grund für Armut sein darf. Das neue System zeichnet sich durch zwei Elemente aus: Einerseits erhalten einkommensschwache Familien gezielte und massgeschneiderte Hilfe, andererseits entstehen durch ausgeklügelte finanztechnische Umlagerungen (Einsparungen bei der Sozialhilfe, verminderter Teuerungsausgleich auf den generellen Kinderzulagen) keine Mehrkosten für den Staat, und auch die Arbeitgeber werden nicht zusätzlich zur Kasse gebeten [68].
top
 
print
Scheidungsrecht
Bei der Auflösung einer Ehe soll es künftig keine Schuldigen mehr geben. Diese Stossrichtung des neuen Scheidungsrechts, welches das geltende Gesetz aus dem Jahr 1907 ablösen soll, fand im Ständerat breite Zustimmung. In der Detailberatung nahm der Ständerat nur geringfügige Änderungen am Vorschlag des Bundesrates vor. Gegen den Willen der Landesregierung strich er die Verpflichtung für die Kantone, den scheidenden Ehepartnern Mediationsstellen zur Verfügung zu stellen. Die Bedeutung solcher Vermittlungsstellen im Scheidungsverfahren wurde zwar nicht bezweifelt, doch wollten die Standesvertreter den Kantonen keine neuen Pflichten aufbürden. Abweichend von Bundesrat und Kommission beantragte Forster (fdp, SG), die zweite Anhörung der Scheidungswilligen nach einer Bedenkfrist von zwei Monaten ersatzlos aufzuheben. Mit 26 zu 6 Stimmen nahm der Rat in diesem Punkt aber den Kompromissvorschlag seiner Kommission an, wonach die Ehegatten ihre Scheidungsabsicht zwei Monate nach der ersten Anhörung durch den Richter noch einmal bestätigen müssen, allerdings nur in schriftlicher Form. In der Gesamtabstimung wurde das neue Scheidungsrecht einstimmig angenommen.
Im Zuge dieser Revision wurden auch die Bestimmungen über die Eheschliessung im Zivilgesetzbuch (Art. 90 ff. ZGB) angepasst. Dabei machten sich Brunner (sp, GE) und Schmid (cvp, AI) in einer ungewohnten Allianz dafür stark, das Verbot einer religiösen Eheschliessung vor der Ziviltrauung abzuschaffen. Sie argumentierten, dieses Verbot sei ein Relikt aus der Zeit des Kulturkampfes. Bundesrat Koller bestritt diesen Zusammenhang nicht, wollte aber dennoch daran festhalten, da insbesondere Ausländerinnen und Ausländer oft dem Irrtum erlägen, sie seien nach einer religiösen Trauung mit allen Rechten und Pflichten verheiratet, was besonders beim Tod eines Partners schwerwiegende Folgen haben könne. Der Rat gab aber der Überwindung des Kulturkampfes den Vorrang und beschloss mit 21 zu 10 Stimmen die Aufhebung des Verbots. Gleichzeitig wurde auch das obligatorische Eheverkündigungsverfahren abgeschafft und durch ein einfacheres Vorbereitungsverfahren ersetzt [69].
Im Anschluss an diese Beratung nahm der Ständerat diskussionslos eine Motion seiner Rechtskommission an, welche den Bundesrat beauftragt, im Hinblick auf das Inkrafttreten des neuen Rechtes eine Broschüre über Eheschliessung und Eherecht zu verfassen. Diese soll den Verlobten bei ihrer Anmeldung im Zivilstandsamt unentgeltlich abgegeben werden [70].
Eine im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 35 ("Frauen in Recht und Gesellschaft") durchgeführte empirische Studie kam zum Schluss, dass die Frauen nach einer Scheidung materiell überwiegend schlechter dastehen als ihre Ex-Gatten. Das trifft ganz besonders auf jene Frauen zu, die während der Ehe nicht oder nur geringfügig erwerbstätig waren. Die Studie stellte fest, dass die finanziellen Auswirkungen und die jeweilige Belastung der Frau oder des Mannes stark mit der Einstellung der einzelnen Gerichte zur Gleichstellungsfrage zusammenhängen [71].
top
 
print
Alternative Lebensformen
Als letzter Kanton hob das Wallis das noch bestehende Verbot des Konkubinats auf, womit diese Form des Zusammenlebens in der ganzen Schweiz nicht mehr unter Strafe gestellt werden kann [72].
Der Bundesrat soll prüfen, wie die rechtlichen Probleme gleichgeschlechtlicher Paarbeziehungen beseitigt werden können. Bei der Behandlung einer diesbezüglichen, 1995 eingereichten Petition, beschloss der Nationalrat mit 68 gegen 61 Stimmen ein entsprechendes Postulat seiner Rechtskommission. Der Bundesrat war aber kurz zuvor auch schon von sich aus tätig geworden und hatte das Bundesamt für Justiz mit der Erstellung eines Berichts beauftragt, der die verschiedenen gesetzlichen Möglichkeiten aufzeigen soll, nach denen nicht konventionell verheiratete Paare zusammenleben. Die ebenfalls im Vorjahr eingereichte Petition aus EDU-Kreisen für die Förderung "gesunder" Familien und gegen die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare wurde in seiner Hauptstossrichtung klar mit 92 zu 30 Stimmen abgelehnt; einzig der unbestrittene Teil der Petition (Schutz von Familie und Ehe) wurde dem Bundesrat zur Kenntnisnahme überwiesen [73].
Als erste evangelisch-reformierte Kantonalkirche will jene von St. Gallen die homosexuelle Lebensparnerschaft vorbehaltlos anerkennen und kirchlich segnen. In einem Bericht, der von interessierten Kreisen als einzigartig für eine Amtskirche in der Schweiz und im gesamten deutschsprachigen Raum bezeichnet wurde, kamen die Kirchenvertreter zur Überzeugung, dass kein theologischer Grund dagegen spricht, Menschen, die ernsthaft zusammenleben wollen, in einer gottesdienstlichen Feier zu segnen. Homosexuelle Mitmenschen seien zu ermutigen, sich zu ihrer Homosexualität zu bekennen und eine möglichst ganzheitliche und stabile Partnerbeziehung anzustreben. Eine Kommission wurde beauftragt, entsprechende Änderungen der Kirchenordnung vorzubereiten [74].
top
 
print
Schwangerschaftsabbruch
Die Rechtskommission des Nationalrates hiess mit 15 zu 5 Stimmen eine Änderung der Artikel 118-121 des Strafgesetzbuches gut, welche einen Schwangerschaftsabbruch in den ersten 14 Wochen und unter ärztlicher Aufsicht erlauben würde. Ein später vorgenommener Abbruch soll dann straffrei bleiben, wenn er praktiziert wird, um einen schweren körperlichen oder seelischen Schaden von der Frau abzuwenden. Den Anstoss zur Gesetzesrevision hatte eine parlamentarische Initiative Haering-Binder (sp, ZH) gegeben, welche der Nationalrat 1995 angenommen hatte.
Auf Antrag des Bundesrates lehnte der Nationalrat eine Motion Zwygart (evp, BE) ab, welche die Landesregierung verpflichten wollte, durch geeignete Massnahmen dafür zu sorgen, dass die Abtreibungspille RU486 in der Schweiz nicht zugelassen wird [76].
 
[63] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1407 ff.63
[64] CHSS, 1996, Nr. 5, S. 226; AT und SGT, 15.2.96. Siehe dazu auch die Ausführungen von BR Dreifuss in Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1410. Der Kanton Graubünden setzte ebenfalls einen Rat für Sozial- und Familienfragen ein, der sich in einem ersten Schritt mit der ausserhäuslichen Kinderbetreuung befasste (BüZ, 7.3. und 13.11.96).64
[65] Lit. Cardia-Vonèche; TA, 23.8.96; Presse vom 24.10.96.65
[66] CHSS, 1996, Nr. 5, S. 260 ff.; SHZ, 29.2.96; NLZ, 11.4.96. Eine Expertenkommission, welche den Entwurf überarbeitet, zeigte weitere Möglichkeiten der Harmonisierung auf. Denkbar wäre, dass vom Bund aus lediglich ein Rahmengesetz vorgelegt wird, welches Standards fixiert, die Kantone bei der Ausgestaltung und Finanzierung aber frei lässt. Andererseits soll aber auch eine allein durch den Bund finanzierte Lösung geprüft werden, da der BR in seinen Vorschlägen zur Neuregelung des Finanzausgleichs die Familienzulage als Bundesaufgabe definiert (SGT, 19.9.96).66
[67] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1405 ff. Die Motion wurde bereits 1994 andiskutiert, scheiterte aber damals am Widerstand der Liberalen Sandoz (VD), welche das Postulat im Berichtsjahr erneut bekämpfte (SPJ 1994, S. 241, FN 33).67
[68] A. Friedmann Wanshe, "Il canton Ticino introduce une nuova legge sugli assegni di famiglia", in Familienfragen, 1996, Nr. 2, S. 39 ff.; NQ, 21.5.und 12.6.96; NZZ, 17.6.96; Bund, 19.7.96.68
[69] Amtl. Bull. StR, 1996, S. 741 ff. und 764 ff.; Presse vom 17.8., 26.9. und 27.9.96; NLZ, 21.9.96; TA, 23.9.96; BaZ, 25.9.96. Siehe SPJ 1995, S. 269.69
[70] Amtl. Bull. StR, 1996, S. 777.70
[71] Th. Hütter, "Scheidung: Frauen klar benachteiligt", in Plädoyer, 1996, Nr. 5, S. 22 ff.71
[72] F-Frauenfragen, 1996, Nr. 2, S. 70. Zum Ausmass des Konkubinats siehe Lüscher, K. / Thierbach, R., "Facetten des unverheirateten Zusammenlebens", in NZZ, 1.4.96.72
[73] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 913 ff.; Bund, 19.4.96. Siehe SPJ 1995, S. 270.73
[74] Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons St. Gallen, Segnungsgottesdienste für homosexuelle Paare, St. Gallen 1996; SGT, 22.6.96; TA, 5.7.96. Auch die reformierte Kirchensynode des Kantons Luzern will allen Paare - sowohl homo- wie heterosexuellen -, welche in einem stabilen Konkubinat leben, eine kirchliche Segnung zuteil werden lassen (Presse vom 15.11.96). Siehe auch SPJ 1995, S. 270, FN 59.74
[76] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 180 f. Die EVP reichte eine Petition mit 46 000 Unterschriften gegen die RU486 bei der Sanitätsdirektorenkonferenz ein, welche sich im Vorjahr für eine Zulassung ausgesprochen hatte (SGT, 11.12.96; SPJ 1995, S. 271). Eine Kommission der CVP sprach sich für die Zulassung von RU486 zu, verlangte allerdings strenge Richtlinien für deren Anwendung (Presse vom 15.3.96).76