Année politique Suisse 2001 : Politique sociale / Groupes sociaux
 
Flüchtlingspolitik
Im Berichtsjahr stellten 20 633 Personen ein Asylgesuch in der Schweiz. Das sind 3022 Personen resp. 17,2% mehr als 2000 – aber nur halb so viele wie während der Kriege in Bosnien (1990/91) und in Kosovo (1998/99). Die meisten Gesuche stammten wie in den Vorjahren von Personen aus Jugoslawien (16,6%), der Türkei (9,5%) sowie Bosnien und Herzegowina (6%). Die Anerkennungsquote lag bei Asylbewerbern aus der Türkei (34%) und dem Irak (29%) weit über dem Durchschnitt von 12%. Zu den 2253 positiv entschiedenen Asylgesuchen kamen 8922 vorläufige Aufnahmen, zum Teil noch im Rahmen der „humanitären Aktion 2000“ für Asylsuchende aus der Zeit vor 1993. Insgesamt erhielten 11 012 Personen aus dem Asylbereich eine ausländerrechtliche Bewilligung. Erneut waren die „unkontrollierten“ Ausreisen (8725) viel häufiger als die pflichtgemässen (3415) und die Rückführungen (2275). Ein Teil der „Untergetauchten“ dürfte als „sans-papiers“ in der Schweiz geblieben sein [15].
Das BFF macht sich offenbar schon längere Zeit Gedanken darüber, ob der von der Schweiz praktizierte Flüchtlingsbegriff noch zeitgemäss ist. Nach der traditionellen Interpretation der Genfer Flüchtlingskonvention, die in Europa nur noch Deutschland und die Schweiz (sowie in geringerem Mass Frankreich und Italien) anwenden, wird einer Person nur Asyl gewährt, wenn sie von staatlichen oder quasistaatlichen Organen verfolgt wird (Zurechenbarkeitstheorie). Das UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) propagiert dagegen seit mehreren Jahren angesichts gewandelter politischer Realitäten die Schutztheorie, wonach Personen auch Asyl erhalten sollen, wenn die Verfolgung von regierungsfeindlichen Kräften ausgeht. Auslöser für dieses Umdenken waren die Ereignisse in Algerien, wo fundamentalistische Gruppen gezielte Massaker an gewissen Bevölkerungsgruppen durchführten. Gemäss BFF wäre für eine Praxisänderung keine Gesetzesrevision nötig, da sich das Schweizer Asylgesetz auf die (völkerrechtlich direkt anwendbare) Flüchtlingskonvention bezieht und damit nur die Fluchtgründe, nicht aber den Verfolger erwähnt [16]. Die Erwägungen des BFF riefen Ständerätin Beerli (fdp, BE) und Nationalrätin Heberlein (fdp, ZH) auf den Plan, die in Interpellationen das BFF verdächtigten, eine Aufweichung des Asylbegriffs am Parlament „vorbeischmuggeln“ zu wollen; sie vertraten die Ansicht, eine derartige Neuausrichtung müsste Gegenstand der laufenden Asylgesetzrevision sein. Im Ständerat stützte Bundesrätin Metzler die Auffassung des BFF, wonach das Schutzmodell mit dem Wortlaut des Gesetzes vereinbar ist, weshalb der Bundesrat keine Gesetzesänderung beantragen werde. Der einzige materielle Unterschied einer Praxisänderung wäre, dass Personen, die wegen ihrer Gefährdungslage heute nur vorläufig aufgenommen werden, von Anfang an den Asylstatuts erhalten, was ihre Integration in die Gesellschaft und den Arbeitsmarkt ermöglichen würde, wodurch sich auch die Fürsorgekosten senken liessen. Sie sagte aber zu, die Frage in der Botschaft zur Asylgesetzrevision zu thematisieren, fügte allerdings bei, der Flüchtlingsbegriff nach Genfer Konvention sei „nicht verhandelbar“, weshalb sie sich nicht vorstellen könne, dass sich die Schweiz bei ihrer Interpretation über längere Zeit von der internationalen Staatengemeinschaft entferne [17].
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Gesetzgebung
Mitte Juni präsentierte Bundesrätin Metzler den Vernehmlassungsentwurf für eine neuerliche Revision der Asylgesetzgebung. Inhaltlich wich er nur in unwesentlichen Punkten von den im Vorjahr zur Diskussion gestellten Vorschlägen ab. Im Vordergrund steht eine konsequente Drittstaatenregelung: Wenn sich ein Asylbewerber vor seiner Ankunft in der Schweiz einige Zeit in einem aus menschenrechtlicher Sicht „sicheren“ Staat (in erster Linie einem westeuropäischen Land) aufgehalten hat und dorthin zur Beantragung von Asyl zurückkehren kann, soll auf sein Gesuch in der Regel nicht mehr eingetreten werden. Bei der Präsentation bemühte sich Metzler, die Lösung des Bundesrates gegen die ähnlichlautende hängige Volksinitiative der SVP („gegen Asylrechtsmissbrauch“) abzugrenzen, die verlangt, dass jeder Aufenthalt in einem Drittland automatisch zu einem Ausschluss aus dem Asylverfahren führt. Als zweite zentrale Massnahme ist ein neues Finanzierungssystem für die Sozialhilfe geplant, mit dem Kosten eingespart werden sollen. Durch die heute geltende Pauschalabgeltung profitieren jene Kantone, die viele Asylbewerber haben und diese knapp halten, weshalb sie wenig daran interessiert sind, abgewiesene Personen rasch wegzuweisen. Neu sollen die Kantone Globalpauschalen für die Aufwendungen im Asylbereich erhalten, die zum Teil an eine Leistungskomponente gekoppelt sind: damit die Pauschalen ausgerichtet werden, müssen gewisse „asyl- und sozialpolitische Ziele“ erreicht werden.
Im Gegenzug zu diesen Verschärfungen will der Bundesrat eine einheitliche Aufenthaltsregelung für die sogenannten Härtefälle schaffen: Personen, deren Asylverfahren ohne eigenes Verschulden nach sechs Jahren nicht abgeschlossen ist, die sich deswegen in einer schweren persönlichen Notlage befinden und nicht kriminell wurden, sowie Personen, deren Rückkehr in den Heimat- oder Herkunftsstaat sechs Jahre seit Anordnung der vorläufigen Aufnahme nicht erfolgen kann, sollen neu den Anspruch auf eine Jahresbewilligung erhalten. Seinen früheren Vorschlag auf Ausweitung des Arbeitsverbotes verfolgte der Bundesrat nicht weiter, da sich gezeigt hatte, dass damit enorme Mehrkosten verbunden sind und die Arbeitsmigration nicht effizient eingedämmt werden kann. Hingegen nahm er sein altes Anliegen wieder auf, die Asylbewerber und vorläufig Aufgenommenen aus dem für den Risikoausgleich der Krankenkassen massgebenden Bestand auszunehmen und die Kantone zu ermächtigen, die Krankenversicherung sowie die freie Arzt- und Spitalwahl dieses Personenkreises auf HMO- und andere Sparmodelle einzuschränken [18].
Die Stellungnahmen der Parteien und Interessengruppen zu diesen Vorschlägen zeigten die bekannte Polarisierung in Asylfragen. Der SP und den Hilfswerken ging die Drittstaatenregelung zu weit; sie wollten an der bisherigen Praxis festhalten, wonach ein maximal dreiwöchiger Aufenthalt in einem Transitland nicht als Ausschlussgrund gilt. Die CVP stimmte der Neuregelung explizit zu, die FDP durch Stillschweigen ebenfalls. Die SVP bezeichnete sie als halbherzig und beharrte auf den Forderungen ihrer Volksinitiative, wonach auch Asylsuchende, die in keinem Transitland ein Gesuch stellen können, vom Verfahren ausgeschlossen und damit höchstens vorläufig aufgenommen werden. Bezüglich der pauschalen Abgeltung der kantonalen Fürsorgeleistungen durch den Bund lagen die Positionen näher beieinander, doch wurden Fragen der Umsetzung kontrovers beurteilt. Breit opponiert wurde von bürgerlicher Seite den neuen Ansprüchen auf Aufenthaltsrechte. Widerstand kam hier auch von den Kantonen, die für eine allfällige Sozialhilfe an Jahresaufenthalter aufzukommen hätten [19].
Der Bundesrat empfahl dem Parlament, die Volksinitiative der SVP „gegen Asylrechtsmissbrauch“ ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung, da sie nicht praktikabel sei und der Bundesrat verschiedene Forderungen bereits erfüllt habe oder daran sei, ihnen Rechnung zu tragen. Nach kurzer Debatte folgte ihm der Ständerat mit den geschlossenen Voten von CVP, FDP und SP mit 36 gegen 6 Stimmen [20].
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Vollzug
Basierend auf einem von ihm bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) in Auftrag gegebenen Bericht und den darin gemachten Empfehlungen will das BFF im Bereich der anerkannten Flüchtlinge auf verstärkte Integrationsbemühungen setzen. Im Vordergrund stehen die Sprachförderung und die Eingliederung in den Arbeitsmarkt, wobei vor allem auf die Selbstverantwortung und Eigeninitiative der Betroffenen gesetzt werden soll. Angestrebt wird, dass die Flüchtlinge ihre mitgebrachten Erfahrungen und Qualifikationen nutzen und ausbauen können, um die Abhängigkeit von der Sozialhilfe zu durchbrechen. Besonderes Gewicht will das BFF auf den Umgang mit traumatisierten und psychisch kranken Flüchtlingen sowie mit Frauen legen, deren spezifische Situation bisher zu wenig Beachtung gefunden habe [21].
Entgegen seinem ersten Entscheid schloss sich der Ständerat dem Nationalrat an und lehnte eine Standesinitiative des Kantons Aargau, die geschlossene und zentral geführte Sammelunterkünftige für straffällige oder renitente Asylbewerber verlangte, stillschweigend ab. Dafür nahm er ein Postulat seiner SPK für Vorkehren gegen die illegale Einreise und die Verbesserung des Vollzugs der Wegweisungen an [22].
Die mit der Asylgesetzrevision vorgesehene Ausgliederung der Asylbewerber und vorläufig Aufgenommenen aus dem Risikoausgleich der Krankenkassen war in den Vorjahren im Parlament gescheitert. Im Berichtsjahr wurde eine Motion Raggenbass (cvp, TG), welche die medizinischen Leistungen für diesen Personenkreis einschränken und Karenzfristen einführen wollte, abgelehnt; gutgeheissen wurde eine Motion Borer (svp, SO), die verlangte, deren Krankenversicherung sei zulasten des BFF zu verselbständigen [23]. Ebenfalls mit dem Hinweis auf die laufende Revision beantragte der Bundesrat erfolgreich die Umwandlung einer Motion Aeppli (sp, ZH), die Leistungsvereinbarungen mit den Kantonen für die Betreuung der Asylbewerber forderte, in ein Postulat [24].
Im September beschloss der Bundesrat, im Asylverfahren abgewiesene Angehörige ethnischer Minderheiten der Bundesrepublik Jugoslawien mit ehemaligem Wohnsitz ausserhalb des Kosovo (rund 2500 Personen) in die Bundesrepublik Jugoslawien auszuweisen. Die Grüne Partei, die Gesellschaft für bedrohte Völker und die Flüchtlingshilfe kritisierten diese Massnahme, da insbesondere die Roma auch ausserhalb des Kosovo durch Armut und Diskriminierung bedroht seien [25].
 
[15] Presse vom 19.1.01. Zu den „sans-papiers“ siehe oben. 15
[16] AZ, 19.5.01; Presse vom 21.5. und 29.5.01; NZZ, 13.6.01. 16
[17] AB SR, 2001, S. 504 ff. Die Interpellation Heberlein wurde noch nicht diskutiert (AB NR, 2001, S. 1448). 17
[18] Presse vom 16.6.01. Siehe SPJ 2000, S. 244. 18
[19] Presse vom 22.9. und 9.10.01. Ein im Auftrag des UNHCR erstelltes Gutachten bezeichnete die vorgesehene „Drittstaatenregelung“ als die „weitaus schärfste“ im ganzen westeuropäischen Raum und kritisierte v.a. die mangelnden Rekursmöglichkeiten (NZZ, 29.11.01). 19
[20] BBl, 2001, S. 4725 ff.; AB SR, 2001, S. 900 ff. Als einziger SVP-Vertreter sprach sich der Berner Lauri gegen die Initiative aus. 20
[21] Presse vom 16.11.01. Der NR überwies ein Postulat Ménétrey-Savary (gp, VD) zur Besserstellung der Frauen in der Asylpolitik (AB NR, 2001, S. 354). 21
[22] AB SR, 2001, S. 21 ff. Siehe SPJ 2000, S. 245. 22
[23] AB NR, 2001, S. 657 ff. und 671 f. Siehe SPJ 2000, S. 228. 23
[24] AB NR, 2001, S. 352. 24
[25] NLZ, 3.4.01; TG, 20.9.01; Presse vom 27.11.01. Vgl. auch die Antwort des BR auf eine Dringliche Anfrage Vermot (sp, BE) in AB NR, 2001, VI, Beilagen, S. 188 ff. Zu den Rückkehrbedingungen nach Sri Lanka siehe die Antwort des BR auf eine Interpellation Graf (gp, BL) in AB NR, 2001, VI, Beilagen, S. 502 ff. 25