Année politique Suisse 2001 : Enseignement, culture et médias / Culture, langues, églises
Sprachen
Die neue Bundesverfassung (Art. 70) garantiert die Sprachenfreiheit und die Gleichbehandlung der vier Landessprachen. Ein eigentliches
Sprachengesetz soll die
Mehrsprachigkeit als wichtiges Wesensmerkmal des Landes sowie die
Sprachkompetenz seiner Bewohner fördern. Ende Oktober präsentierte Bundesrätin Dreifuss den lange erwarteten Gesetzesentwurf, der in eine breite Vernehmlassung geschickt wurde. Zu den vorgeschlagenen Massnahmen gehören die Förderung von Kenntnissen in mehreren Landessprachen, der verstärkte Austausch von Lernenden und Lehrkräften aller Bildungsstufen, die Schaffung eines Zentrums für Mehrsprachigkeit, die subsidiäre Unterstützung von Initiativen zur besseren
gegenseitigen Verständigung sowie eine verbesserte Integration fremdsprachiger Ausländerinnen und Ausländer. Aufgeführt werden auch die bereits praktizierte Unterstützung der rätoromanischen und italienischen Sprache sowie (neu) der mehrsprachigen Kantone Bern, Freiburg, Graubünden und Wallis. Bei der Vorstellung des Entwurfs bezeichnete Dreifuss die Stärkung der vier Landessprachen als eine wichtige Investition in die „fragile Willensnation“ Schweiz. In der Ausarbeitung des Gesetzes habe sich jedoch gezeigt, dass in den politischen Debatten die Befürchtungen vor allem in Bezug auf die Kompetenzausgestaltung zwischen Bund und Kantonen grösser seien als der Enthusiasmus
[28].
1998 hat die Schweiz das Übereinkommen des Europarates zum
Schutz nationaler Minderheiten ratifiziert. Ein ausführlicher Bericht zuhanden des Europarates
informierte erstmals darüber, wie die Schweiz den damit verbundenen Auftrag im Bereich der Sprachen umsetzt. Laut Bundesrat trägt bereits das politische System der Schweiz (Föderalismus und diskriminierungsfreie Gewährleistung der verfassungsmässigen Rechte) zum Schutz der Minderheiten bei. Die Regierung verwies auf die finanzielle Unterstützung der von den Kantonen Graubünden und Tessin ergriffenen Massnahmen zu Gunsten der rätoromanischen und italienischen Sprache sowie auf das in Ausarbeitung befindliche neue Sprachengesetz. Nach Einsicht in diesen Bericht empfahl der Europarat der Schweiz, Hindernisse für den Gebrauch des
Rätoromanischen und des
Italienischen vor den Gerichten des Kantons Graubünden zu beseitigen und den Gebrauch dieser beiden Sprachen auf Ebene der Bundesverwaltung zu stärken
[29].
Das Bundesgericht fällte einen wegweisenden Entscheid in der vor allem im Kanton Freiburg immer wieder strittigen Frage der Sprachenfreiheit im Verhältnis zum Territorialitätsprinzip. Es schützte die Beschwerde eines deutschsprachigen Elternpaares mit Wohnsitz in einer nahe der Sprachengrenze gelegenen frankophonen Gemeinde. Gemäss Bundesgericht hatten die Freiburger Behörden das verfassungsmässige Prinzip der
Sprachenfreiheit verletzt, weil sie der Familie nicht erlaubten, ihren Sohn in einer öffentlichen deutschsprachigen Schule in Freiburg zum Unterricht anzumelden und dabei die Kosten für den Transport zu übernehmen. Die Lausanner Richter verwiesen auf die Schwierigkeiten, welche den Eltern aus der Begleitung ihres Sohnes in einer französischsprachigen Oberstufe erwachsen könnten. Die Freiburger Behörden hatten hingegen das
Territorialitätsprinzip höher gewichten wollen, das ihrer Auffassung nach gerade an der Sprachengrenze besonders streng gehandhabt werden müsse
[30].
Der Nationalrat nahm eine Motion seiner SPK an, die den Bundesrat beauftragt, im Entwurf des Voranschlages für das Jahr 2002 den Kredit für
Verständigungsmassnahmen um 1 Mio Fr. aufzustocken. Dieser Betrag soll der Mitfinanzierung des Projekts „Exchange“ (Schüleraustausch zwischen den Sprachregionen anlässlich der Expo 02) zugute kommen und wurde an die Bedingung geknüpft, dass eine Koordination des Projekts durch die Standortkantone in Zusammenarbeit mit der CH-Stiftung erfolgt. Der Bundesrat zeigte sich bereit, das Projekt im Sinn des verständigungspolitischen Verfassungsauftrags zu unterstützen. Da er vor einer bindenden Zusage über die Höhe des Kredits die offenen Fragen mit den Kantonen erörtern wollte, beantragte er ergebnislos Überweisung als unverbindliches Postulat. Der Ständerat hiess die Motion ebenfalls gut
[31].
Die Schweizerische Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektoren (EDK) unterstützte im Rahmen des für 2001 ausgerufenen „Europäischen Jahres der Sprachen“ eine Schweizer Version des
„Europäischen Sprachenportfolios“ (ESP). Dabei handelt es sich um ein persönliches Dokument, mit dem Jugendliche nach Beendigung der Volksschule und Erwachsene ihre Kenntnisse in anderen Sprachen differenziert erfassen und darstellen können. Eine wichtige Funktion des ESP ist es, Sprachkenntnisse durch den Bezug auf eine gemeinsame europäische Skala national und international vergleichbar zu machen. Die EDK empfahl den Kantonen, die Voraussetzungen zur Einführung des Portfolios ab dem 9. Schuljahr zu schaffen
[32].
Zum zweiten Mal (nach Genf im Herbst 1993) tagte das Parlament in einer anderen Sprachregion. Die
Frühjahrssession 2001 fand in
Lugano (TI) statt. Bei der offiziellen Eröffnungsfeier sprach der Bürgermeister von Lugano Italienisch, die Präsidentin des Tessiner Staatsrates alle drei Amtssprachen, die Präsidentin des Ständerates Französisch und der Präsident des Nationalrates ebenfalls alle drei Amtssprachen
[33].
Der Nationalrat überwies ein Postulat Rennwald (sp, JU), das den Bundesrat ersucht, neue Gesetzestexte von Anfang an in mehreren
Amtssprachen zu erarbeiten und nicht erst im Nachhinein zu übersetzen, um das Denken in den Minderheitssprachen besser zu berücksichtigen
[34]. Eine Motion Galli (cvp, BE) mit der Forderung, sämtliche Wortmeldungen in der Bundesversammlung im Internet auf
Italienisch zu publizieren, wurde abgelehnt, da alle Voten ausschliesslich in der Sprache wiedergegeben sind, in der sie gehalten werden; jener Teil der Motion, der eine durchgehende italienische Version der parlamentarischen Geschäftsdatenbank verlangte, wurde dagegen angenommen
[35].
Mit dem knappen Stimmenverhältnis von 72 zu 67 gab der Nationalrat in der Frühjahrssession einer parlamentarischen Initiative des Neuenburger SP-Abgeordneten Berberat Folge, der
eine Landessprache als erste Fremdsprache im Unterricht
auf Verfassungsstufe festschreiben möchte. Haller (svp, BE) machte als Sprecherin der Kommission geltend, Sprache sei mehr als Kommunikationsmittel; sie vermittle Kultur, geistiges Erbe, Emotion und Politik. Die Gegner fochten mit dem föderalistischen Argument der Kantonshoheit in Schulfragen, was Berberat mit der Feststellung konterte, diese sei bei der flächendeckenden Einführung des Herbstschulbeginns und mit der Verpflichtung der Schulen zu einem ausreichenden Sportunterricht bereits relativiert worden
[36].
Der Bundesrat nahm zu dieser Frage in seiner Antwort auf eine Interpellation der GP-Fraktion Stellung. Wie schon bei früheren Gelegenheiten verwies er auf die Kantonskompetenz in Schulfragen; seiner Ansicht nach kann auch aus dem „Verständigungsartikel“ der Bundesverfassung
keine bundesrechtliche Pflicht, eine Landessprache als erste Fremdsprache zu bestimmen, abgeleitet werden. Dennoch vertrat er unmissverständlich die Auffassung, dass das Beherrschen von mindestens zwei Landessprachen eine wichtige Voraussetzung für das gegenseitige Verständnis zwischen den Sprachgemeinschaften darstellt; das Ausscheren einzelner Kantone aus der von der kantonalen Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) definierten föderalistischen Konkordanz im Schulbereich könne zu einer Belastung der Beziehungen zwischen den Sprachgruppen und damit auch zu einer Gefährdung des Sprachfriedens führen
[37]. Im neuen Sprachengesetz (siehe oben) wird die Problematik der Unterrichtssprachen nicht thematisiert. Bei der Präsentation des Entwurfs verwies Bundesrätin Dreifuss erneut auf die Kantonshoheit in Schulfragen, sicherte aber zu, dass der Bundesrat zu dieser Frage nicht schweigen werde
[38].
Die EDK konnte sich erneut nicht auf eine verbindliche Fremdsprachenregelung einigen. 15 Kantone votierten für eine regionale Lösung (Ost- und Zentralschweiz, Westschweiz und Kantone an der Sprachgrenze), einer stimmte dagegen, acht enthielten sich der Stimme. Damit wurde die für einen bindenden Entscheid notwendige Zweidrittelsmehrheit knapp verfehlt. Nach dem Scheitern einer Konsenslösung
bleibt es den Kantonen überlassen, welcher Fremdsprache sie die Priorität einräumen wollen. Mit den im Berichtsjahr von weiteren Kantonsregierungen (Bern und Schaffhausen) gefällten Entscheiden zeichneten sich zwei „Sprachenteppiche“ im Primarschulunterricht ab: In der Westschweiz und in den Deutschschweizer Kantonen entlang der Sprachgrenze wird vorderhand noch Deutsch resp. Französisch als erste Fremdsprache unterrichtet, der Rest des Landes wechselt in den nächsten Jahren zu Englisch
[39].
Die neue Maturitätsanerkennungsverordnung schafft die Möglichkeit, eine
zweisprachige Maturitätsprüfung ablegen zu können. Hauptbedingung ist, dass (zusätzlich zum regulären Sprachenunterricht) mindestens 600 Stunden in der Fremdsprache unterrichtet werden, wovon wenigstens ein naturwissenschaftliches Fach. Ursprünglich war dafür eine zweite Landessprache vorgesehen, die Kantone erreichten aber beim Bund, dass auch Englisch zugelassen wurde. Ab dem Schuljahr 2001/2002 starteten in den Kantonen Zürich, Basel-Land, Luzern und Neuenburg erste Pilotversuche mit Englisch
[40].
Annähernd 65% der Bündner Stimmberechtigten genehmigten den Antrag der Kantonsregierung, die Einheitssprache
Rumantsch grischun künftig als Amtssprache für die Abstimmungsbotschaften des Kantons und das rätoromanische Rechtsbuch zu verwenden. Mit Ausnahme der CVP hatten alle grösseren Parteien die Ja-Parole ausgegeben. In den romanisch-sprachigen Gebieten waren die Mehrheiten eindeutig knapper; vier Kreise in der Surselva sprachen sich gegen die Vorlage aus
[41].
[28]
Bund, 9.1.01;
TA, 5.7.01; Presse vom 27.10.01. Nach dem NR nahm auch der StR eine Motion Jutzet (sp, FR) an, die den BR auffordert, ein Gesetz betreffend Unterstützung der mehrsprachigen Kantone bei der Erfüllung ihrer besonderen Aufgaben auszuarbeiten (
AB SR, 2001, S. 127). Siehe
SPJ 2000, S. 288. 28
[29] Presse vom 24.11.01. Zum Bericht siehe auch oben, Teil I, 7d (Jenische). 29
[30] Presse vom 28.12.01. Zu den Schwierigkeiten des Kantons Freiburg mit seiner Zweisprachigkeit siehe
SPJ 2000, S. 288. 30
[31]
AB NR, 2001, S. 266 ff.;
AB SR, 2001, S. 209 f. 31
[32] Presse vom 2.3.01. 32
[33]
AB NR, 2001, S. 26 ff. 33
[34]
AB NR, 2001, S. 939; siehe auch Presse vom 4.12.01. 34
[35]
AB NR, 2001, S. 1992. Siehe auch eine Interpellation Galli zur Vertretung der italienischsprachigen Schweiz in den Kaderstellen des Bundes in
AB NR, 2001, S. 2006. 35
[36]
AB NR, 2001, S. 323 ff. Siehe
SPJ 2000, S. 290. In ihren Ausführungen zuhanden der Presse erklärten mehrere der Befürworter, sie hätten eher „contre coeur“ für die Initiative gestimmt, weniger aus Opposition gegen Frühenglisch als vielmehr, um die Romands nicht zu brüskieren und die Diskussion auf eine breitere politische Ebene zu stellen (Presse vom 23.–26.3.01). 36
[37]
AB NR, 2001, S. 359. Die EDK reagierte mit Besorgnis auf die Annahme der pa.Iv. Berberat; ihrer Ansicht nach ist es verfehlt, die Frage der ersten Fremdsprache in der Verfassung zu regeln (
Bund, 24.3.01). 3
[38] Presse vom 27.10.01. Siehe auch
24h, 20.6.01 (Interview Dreifuss)38
[39] Presse vom 12.6.01. Siehe
SPJ 2000, S. 289. Auch Uri, das 1994 als einziger Kanton Frühitalienisch eingeführt hatte, gibt ab dem Schuljahr 2004/2005 Frühenglisch den Vorzug (Presse vom 29.1.01). Der Kanton Tessin will auf ein gleichberechtigtes Erlernen von Französisch (1. Fremdsprache), Deutsch und Englisch setzen, allerdings löst auch hier Englisch als 2. Fremdsprache Deutsch ab (Presse vom 6.12.01). 39
[40]
NZZ, 4.1., 11.1. und 20.3.01;
LT, 17.1.01;
BaZ, 4.10.01. 40
[41]
BüZ, 21.5., 28.5. und 11.6.01. Siehe
SPJ 2000, S. 288 f. 41
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