Année politique Suisse 2006 : Eléments du système politique / Institutions et droits populaires
 
Regierung
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Wahlen
Zur allgemeinen Überraschung kündigte Bundesrat Joseph Deiss (cvp) am 27. April seinen Rücktritt auf Ende Juli an. Der 60jährige hatte der Landesregierung während sieben Jahren angehört, zuerst als Aussenminister, dann als Vorsteher des EVD. Die erfolgreich verlaufene Volksabstimmung über den UNO-Beitritt sowie die Aushandlung der bilateralen Verträge mit der EU wurden als grösste politische Leistungen des engagierten, aber wenig spektakulären Freiburgers gewürdigt. Deiss verhehlte nicht, dass er als pragmatischer Konsenspolitiker Mühe hatte mit der seit der Wahl von Christoph Blocher zum Bundesrat rauher gewordenen Gangart in der Regierung und mit dem selbstbezogenen Verhalten einzelner ihrer Mitglieder. Für die in der Junisession vorzunehmende Ersatzwahl galten in den Medien sofort die CVP-Präsidentin und Nationalrätin Doris Leuthard (AG) sowie der CVP-Fraktionschef und Ständerat Urs Schwaller (FR) als Favoriten [1].
Der Anspruch der CVP auf den Bundesratssitz war unbestritten. Fast ebenso klar war, dass der zweisprachige Deiss, der im Parlament in der Regel Französisch gesprochen hatte, durch eine Person aus der Deutschschweiz ersetzt werden würde, da die Romandie immer noch zwei Sitze innehatte. Bis die Kronfavoritin Leuthard ihren Entscheid getroffen hatte, wagte niemand aus der CVP, öffentlich ein Interesse an einer Kandidatur anzumelden. Einige der in den Medien gehandelten Politikerinnen und Politiker erklärten, nicht zur Verfügung zu stehen, so etwa die Regierungsräte Engeler (GR), Chassot (FR) und Cina (VS). Am 9. Mai gab die 43jährige Juristin Doris Leuthard ihre Kandidatur bekannt. Keine Überraschung war, dass die CVP-Aargau sie anschliessend einstimmig als Kandidatin bei der Fraktion anmeldete und dass keine anderen Bewerbungen eingingen. Die Fraktion nominierte sie einstimmig als einzige Kandidatin. Abgesehen von den Grünen, für welche die Kandidatin zu wenig weit links stand, sagten alle anderen Fraktionen Leuthard ihre Unterstützung zu [2]. Die Vereinigte Bundesversammlung wählte sie am 14. Juni mit 133 Stimmen im ersten Wahlgang bei einem absoluten Mehr von 118; 29 resp. 28 Stimmen entfielen auf die CVP-Politikerinnen Simoneschi (TI) und Meier-Schatz (SG), weitere elf auf Ständerat Schmid (cvp, AI) [3]. Da kein amtierender Bundesrat Wünsche nach einem Departementswechsel anmeldete, übernahm Leuthard von ihrem Vorgänger das Volkswirtschaftsdepartement [4].
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Wahlverfahren
Eine deutlich Mehrheit des Nationalrats sprach sich gegen eine Reform des Wahlverfahrens aus, welche erklärtermassen die Grundlage für die Einführung eines parlamentarischen Regierungssystems gebildet hätte. Mit 141 zu 28 Stimmen lehnte der Rat eine parlamentarische Initiative Zisyadis (pda, VD) ab, welche die Wahl des Bundesrats auf einer gemeinsamen, nicht veränderbaren Liste forderte. Der Vorstoss verlangte im weiteren die Zustimmung des Parlaments zu einem Regierungsprogramm der auf diese Weise gewählten Exekutive sowie die Einführung der parlamentarischen Misstrauensabstimmung während der Legislaturperiode [5].
Der Nationalrat sah auch keinen Grund, einer weniger weit gehenden Änderung des Wahlverfahrens für den Bundesrat zuzustimmen. Er lehnte mit je 88 zu 73 Stimmen eine Motion Weyeneth (svp, BE) und eine parlamentarische Initiative der SVP-Fraktion ab, welche die Besetzung aller sieben Sitze in einem einzigen Wahlgang gefordert hatten. Gemäss den Initianten würde die Wahl damit fairer, da es möglich wäre, einzelnen Bundesräten die Stimme zu verweigern, ohne Retourkutschen gegen später antretende eigene Kandidaten befürchten zu müssen [6].
Die SPK des Nationalrats befasste sich mit weiteren Reformvorschlägen. Sie beschloss, der parlamentarischen Initiative Markwalder (fdp, BE), welche die Ersetzung der individuellen Wahl der Mitglieder des Bundesrats durch eine Listenwahl fordert, wobei die Listen durch die wählenden Parlamentarier nicht abgeändert werden dürfen, keine Folge zu geben. Eine parlamentarische Motion Chevrier (cvp, VS) für die Verlängerung der Amtszeit für Bundesrat und Nationalrat von vier auf fünf Jahre unterstützte sie hingegen [7].
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Kollegialitätssystem
Im Zusammenhang mit der von einer Subkommission der Geschäftsprüfungskommissionen beider Räte vorgenommenen Abklärung der Informationspolitik der Landesregierung Ende November 2005 bei ihren Entscheiden über die Geschäftsstrategie der Swisscom reichte die GPK des Nationalrats eine Motion ein. Sie verlangt darin vom Bundesrat eine klare Definition seiner Rolle als Eigner von Unternehmen, die sich mehrheitlich in Bundesbesitz befinden. Nachdem der Bundesrat erklärt hatte, Massnahmen zur Entwicklung einer genaueren Definition seiner Unternehmenspolitik seien bereits eingeleitet, überwiesen der Nationalrat und nach ihm auch der Ständerat die Motion. Der Bundesrat verabschiedete im Herbst einen entsprechenden Bericht und leitete ihn dem Parlament zu. In ihrem eigenen Untersuchungsbericht kritisierte die GPK sowohl die Art der Beschlussfassung als auch die Kommunikationspolitik der Landesregierung im Fall Swisscom [8].
Die SPK des Nationalrats beantragte dem Plenum, der parlamentarischen Initiative Wobmann (svp, SO) für die Veröffentlichung der namentlichen Abstimmungsresultate im Bundesrat keine Folge zu geben [9].
Der Nationalrat lehnte es mit 118 zu 34 Stimmen ab, ein von Simoneschi (cvp, TI) mit einer Motion gefordertes Gesetz mit Sanktionen für die Verletzung des Kollegialitätsprinzips zu schaffen. Auch der Bundesrat hatte dagegen opponiert und angeführt, dass sich die Regeln des Kollegialitätsprinzips nicht genau definieren lassen und die Anwendung des Gesetzes daher nicht praktikabel wäre [10].
Im Zentrum von Diskussionen über die Zusammenarbeit im Bundesrat und über das Verhalten einzelner Mitglieder stand auch im Berichtsjahr Bundesrat Christoph Blocher. Besonders heftig waren die Reaktionen auf seine Rede an einer SVP-Veranstaltung am 20. Januar im Albisgüetli in Zürich. Er hatte dort zwei albanische Asylbewerber als Kriminelle tituliert und die Asylrekurskommission (ARK) angegriffen, welche zum Schluss gelangt war, dass die Anschuldigungen des albanischen Staates gegen die beiden aus politischen Gründen fingiert seien. Nachdem Blocher vor dem Ständerat abgestritten hatte, die beiden als Kriminelle bezeichnet zu haben, eröffnete die GPK des Ständerats eine Untersuchung. In ihrem Bericht kritisierte sie Blocher dafür, vor dem Ständerat die Unwahrheit gesagt zu haben. Sie rügte den Justizminister zudem wegen der Nichtbeachtung der Unschuldsvermutung bei den beiden Asylbewerbern und wegen seiner öffentlichen Kritik an den Urteilen der ARK. Derartige Aussagen beeinträchtigten, vor allem wenn sie vom Justizminister kämen, das Vertrauen der Bevölkerung in die Rechtssprechung. Konkrete Massnahmen beantragte die GPK aber nicht. Der Bundesrat seinerseits „bedauerte“, dass es eines seiner Mitglieder an der gebotenen Ausgewogenheit und Sachlichkeit habe fehlen lassen und teilte die Haltung der GPK bezüglich der Respektierung der Gerichte durch die Exekutive. Auch der Präsident des Bundesgerichts, Guisep Nay, hatte Blocher für seine unvollständige Darstellung und seine Kritik an Gerichtsurteilen getadelt [11]. Bundesrat Blocher selbst entschuldigte sich an einer Medienkonferenz Ende März dafür, dass er von „Kriminellen“ und nicht von „mutmasslichen Kriminellen“ gesprochen habe [12].
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Regierungspolitik
Die Ende 2005 publizierten Vorschläge der SPK des Nationalrats für eine Neuorganisation der parlamentarischen Behandlung der Legislaturplanung des Bundesrates kamen im Nationalrat gut an und wurden ohne erwähnenswerte Änderungen verabschiedet. Der Ständerat stimmte ihnen mit einer Ausnahme ebenfalls zu. Diese betraf allerdings ein Kernelement der Vorlage, nämlich die Neuerung, dass bei einer Nichteinigung der beiden Räte über eine Einzelbestimmung nicht das ganze Paket, sondern nur diese umstrittene Bestimmung wegfällt. Ein Verzicht auf die disziplinierende Wirkung der Drohung, dass bei Uneinigkeit in einem Punkt die ganze Vorlage scheitert, sabotiere nach Ansicht der kleinen Kammer die Kompromissbereitschaft in beiden Räten [13].
Zur Informationstätigkeit der Regierung vor Volksabstimmungen siehe unten, Volksrechte.
 
[1] Presse vom 28.4. und 29.4.06; AZ, 1.5.06 (Deiss an CVP-DV). Siehe auch Lit. Hug.
[2] Presse vom 1.5.-9.5.06; Presse vom 10.5.06 (Entscheid Leuthard); NZZ und TA, 13.5.06 (CVP-AG); NF, 17.5.06 (keine anderen Kandidaturen); Presse vom 7.6.06 (CVP-Fraktion); NZZ, 8.6.06 (andere Fraktionen).
[3] AB NR, 2006, S. 1161 ff.; Presse vom 15.6.06.
[4] Presse vom 17.6.06.
[5] AB NR, 2006, S. 675 f.
[6] AB NR, 2006, S. 566 ff. Vgl. auch SPJ 2005, S. 30.
[7] NZZ, 19.8.06. Zur Initiative Markwalder siehe SPJ 2005, S. 30.
[8] AB NR, 2006, S. 649 f.; AB SR, 2006, S. 886 f.; NLZ, 29.3.06. Bericht des BR: BBl, 2006, S. 8233 ff.; NZZ, 14.9.06. Siehe dazu auch unten, Teil I, 6b (Post und Telekommunikation). Vgl. SPJ 2005, S. 31.
[9] Pa.Iv. 05.423. Siehe SPJ 2005, S. 31.
[10] AB NR, 2006, S. 586 ff. Siehe dazu auch die Antwort des BR auf eine Interpellation Stöckli (sp, BE) in AB NR, 2006, IV, Beilagen, S. 338 f.; im SR fand eine kurze Debatte über eine entsprechende Interpellation Inderkum (cvp, UR) mit Beteiligung von BR Leuenberger statt (AB SR, 2006, S. 239 ff.).
[11] BBl, 2006, S. 9051 ff. (GPK) und 9095 f. (BR); BZ, 25.1. und 30.1.06 (Nay); TA, 28.3.06; Presse vom 12.7.06.
[12] AZ, 29.3.06; Presse vom 30.3.06. Zu den umstrittenen Äusserungen Blochers zum Anti-Rassismusgesetz anlässlich eines Besuchs in der Türkei siehe Presse vom 6.10. und 7.10.06 sowie oben, Teil I, 1b (Grundrechte).
[13] AB NR, 2006, S. 568 ff.; AB SR, 2006, S. 1157 ff. Die Differenzen konnten im Berichtsjahr noch nicht beigelegt werden. Siehe SPJ 2005, S. 31 f.