Année politique Suisse 1987 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Regierung
Aus den
Wahlen zum eidgenössischen Parlament gingen die
vier Regierungsparteien geschwächt hervor. Ihr Stimmenanteil bei den Nationalratswahlen reduzierte sich von 77,6% auf 72,0%; sie verfügen aber in der grossen Kammer mit 159 Sitzen (1983: 166) immer noch über eine solide Mehrheit
[3]. Die Zusammenarbeit unter den Regierungsparteien und damit der Fortbestand der sogenannten Zauberformel war im Berichtsjahr nicht ernsthaft in Frage gestellt. Die SP reagierte zwar im Frühjahr mit Empörung, als die bürgerliche Parlamentsmehrheit nicht die von ihr portierte Kandidatin ins Eidgenössische Versicherungsgericht wählte, und drohte mit dem Rückzug aus den gemeinsamen Aussprachen der Regierungsparteien mit dem Bundesrat (sog. Von Wattenwyl-Gespräche). Als aber, im Zusammenhang mit Spekulationen über erwartete Stimmenverluste der SVP und -gewinne der Grünen bei den Parlamentswahlen vom Herbst, Ansprüche auf den von der SVP gehaltenen Bundesratssitz angemeldet wurden, zeigte die SP demonstrativ kein Interesse an einer Veränderung der parteipolitischen Zusammensetzung der Regierung. In einer gemeinsamen Erklärung hielten die Präsidenten der vier Regierungsparteien fest, dass der Fortbestand der Zauberformel nicht vom Ausgang der Wahlen abhängig gemacht werde
[4].
Das schweizerische politische System bringt es mit sich, dass die Regierungsparteien nicht verpflichtet sind, den Bundesrat bedingungslos zu unterstützen. In einer Analyse der vergangenen Legislaturperiode konnte festgestellt werden, dass die SP von ihrem
Recht auf Opposition im Nationalrat reichlich Gebrauch gemacht hat: Bei mehr als der Hälfte von 116 untersuchten wichtigen Geschäften stellte sie sich gegen die Regierung. Die drei bürgerlichen Bundesratsparteien lehnten ihrerseits rund einen Viertel dieser Bundesratsvorlagen ab. Da die SP die Exekutive gerade in denjenigen Geschäften unterstützte, bei denen es von bürgerlicher Seite her Opposition gab, waren Mehrheitsallianzen aller Bundesratsparteien relativ selten (21 % der untersuchten Fälle). In einem Viertel der Entscheidungen im Nationalrat setzte sich eine Allianz zwischen der SP und einem Teil der anderen Regierungsparteien durch, bei mehr als der Hälfte (55%) überstimmten die drei bürgerlichen Parteien gemeinsam den sozialdemokratischen Regierungspartner. Da eine vergleichbare Untersuchung für frühere Legislaturperioden nicht vorliegt, lassen sich keine Aussagen darüber machen, ob die Politik der SP nach 1984, als sie mit dem Regierungsaustritt drohte, effektiv oppositioneller geworden ist
[5].
Dass die Sozialdemokraten sich auf keine Diskussionen über die Zauberformel einlassen wollten, mag seinen Grund auch in den absehbaren personellen Veränderungen im Bundesrat gehabt haben. Vom Jahresanfang an war in den Medien über einen eventuellen Rücktritt des sozialdemokratischen Vorstehers des aussenpolitischen Departements,
Pierre Aubert, gemutmasst worden. Diese Spekulationen erhielten durch die Kritik an Mängeln in der Amtsführung, wie sie insbesondere im Zusammenhang mit den Problemen um die Katastrophenhilfe zu Tage getreten waren, zusätzlichen Auftrieb. Aber auch die SP trug dazu bei, indem sie zuerst intern, dann aber auch vor den Augen der Öffentlichkeit, auf einen Rücktritt des glücklosen Aussenministers drängte. Am 5. Oktober gab Aubert seinen Rücktritt auf Ende Jahr bekannt. In Würdigungen wurde sein Einsatz zugunsten einer politischen Öffnung der Schweiz, insbesondere auch gegenüber den Staaten der Dritten Welt, anerkannt. Vor allem in der deutschen Schweiz war dieses Lob aber mit der Einschränkung verbunden, dass es ihm nur schlecht gelungen sei, dieses Anliegen auch breiteren Bevölkerungskreisen nahezubringen. Als Negativposten seiner zehnjährigen Amtszeit wurde das Ungenügen in den Bereichen Organisation und Führung des Departements bezeichnet
[6].
Noch vor der Erklärung Auberts hatte zur allgemeinen Überraschung der Bundesrat der SVP,
Leon Schlumpf, seinen Rücktritt nach acht Amtsjähren auf Ende 1987 angekündigt. Er begründete seinen Entscheid damit, dass ein Rücktritt im Laufe der nächsten Legislaturperiode' für die Behandlung der anstehenden wichtigen Vorlagen in den Bereichen Energie- und Medienpolitik nicht günstig wäre. Schlumpf, der als populärer, aber auch sachkundiger Pragmatiker galt, wurde von den Medien attestiert, dass er in wichtigen Gebieten – insbesondere der Verkehrspolitik – beharrlich an der Suche nach neuen Lösungen gearbeitet habe. In der Westschweiz fiel die Benotung um einiges strenger aus: sein Hang zum Kompromiss wurde hier als Zögern und als Entscheidungsschwäche kritisiert
[7].
Die Konstellation für die Neubesetzung der beiden Mandate war in bezug auf ihre geographische Herkunft klar: Da die SVP in der Westschweiz nur ein Randdasein fristet, hatten die
Sozialdemokraten eine französischsprachige Kandidatur zu präsentieren. Da im weiteren die prominenten Politikerinnen in der SVP rar sind, trug die SP ebenfalls die Verantwortung dafür, ob neben der Freisinnigen Kopp eine zweite Frau in die Landesregierung einziehen sollte. Angesichts der Tatsache, dass die einzige Politikerin mit echten Wahlchancen, die Waadtländer Ständerätin Jaggi, nicht wählbar war, weil sie aus dem selben Kanton stammt wie Bundesrat Delamuraz, wurde diese Option rasch fallengelassen. Als valable Bewerber schälten sich der Genfer Grobet, der Neuenburger Felber und der Freiburger Morel heraus. Alle drei hatten einmal im Nationalrat gesessen und verfügten als Mitglieder von Kantonsregierungen über Exekutiverfahrung. Während die beiden ersten von ihren Kantonalparteien portiert wurden, fand Morel nur bei einem Teil der Freiburger SP Unterstützung. Der dem rechten Parteiflügel zuzurechnende ehemalige Chef der SP-Nationalratsfraktion, der in den letzten Jahren eine Dauerfehde mit der Leitung der SPS geführt hatte, verzichtete in der Folge auf eine Kandidatur. Grobet hingegen war in der Partei unbestritten und hatte auch deshalb gute Wahlchancen, weil der Kanton Genf seit 68 Jahren keinen Vertreter im Bundesrat gehabt hat. Gerade dieser vermeintliche Vorteil sollte sich negativ auswirken: Die bürgerlichen Genfer Parteien (v.a. die CVP) begannen sich selbst Chancen auf eine spätere erfolgreiche Kandidatur auszurechnen und distanzierten sich von Grobet. Die SP-Fraktion nominierte im ersten Wahlgang
René Felber als einzigen Kandidaten
[8].
Bei der
Schweizerischen Volkspartei war es von allem Anfang an klar, dass die Berner versuchen würden, den 1979 verlorenen traditionellen Bundesratssitz wieder zurückzugewinnen. Gegen die Konkurrenz der beiden Regierungsräte Müller und Schmid vermochte sich auf kantonaler Ebene der Präsident der gesamtschweizerischen Partei,
Adolf Ogi, ohne grosse Mühe durchzusetzen. Aus anderen Kantonen wurden die Bewerbungen von Ständerat Gadient (GR), Nationalrat Nebiker (BL) und Regierungsrat Siegrist (AG) angemeldet. Vom sachpolitischen Leistungsausweis her wurde Ogi als der schwächste Kandidat bezeichnet, andererseits sprachen für ihn seine grosse Popularität (er hatte das absolut beste Resultat für den Nationalrat erzielt) und seine erfolgreiche Tätigkeit als SVP-Präsident. Eher als Handicap wurde sein jugendliches Alter von 45 Jahren und das für helvetische Verhältnisse rasante Tempo seiner politischen Karriere eingestuft. Der frühere Sportfunktionär war erst 1978 in die SVP eingetreten, ein Jahr später war seine Wahl in den Nationalrat erfolgt, und 1984 übernahm er die Leitung der Partei. Trotz parteinternen Kritiken an Ogi, der in der SVP mit seinem Kurs der Parteiöffnung nicht nur Freunde gewonnen hatte, bestimmte ihn die Fraktion im ersten Wahlgang zum Kandidaten für die Nachfolge Schlumpfs
[9].
Am 9. Dezember trat die Vereinigte Bundesversammlung zur
Wahl der beiden neuen Bundesräte zusammen. Der 54jährige Sozialdemokrat Felber wurde mit deutlichem Mehr im ersten Wahlgang gewählt. Spannender verlief die Ausmarchung um den Sitz der SVP. Zum ersten Mal seit der Wahl von Roger Bonvin anstelle des offiziellen CVP-Kandidaten vor 25 Jahren wurde mehr als ein Wahlgang benötigt. Im ersten Umgang fehlten dem von den Fraktionen der vier Bundesratsparteien unterstützten Ogi sieben Stimmen zum absoluten Mehr von 121; Nebiker erhielt 43, Gadient 33, Siegrist 31 und die Berner Regierungsrätin Leni Robert (gp) 17 Stimmen. Im zweiten Wahlgang schaffte Adolf Ogi mit 132 Stimmen die Wahl zum neuen Bundesrat. Zum Bundespräsidenten für 1988 wurde Otto Stich (sp) gewählt
[10]. Trotz Spekulationen über eine allfällige Departementsumverteilung, welche durch den von CVP-Seite vorgebrachten Wunsch, ihren Bundesrat Koller vom EMD wegzuhaben, genährt wurden, kam es zu keiner Rochade: Felber übernahm das EDA, Ogi das EVED
[11].
Unmittelbar nach der Wahl vom 9. Dezember reichte Nationalrat Kühne (cvp, SG) eine Motion ein, die verlangt, das die
Bestätigungswahl für die bisherigen Bundesräte in einem Wahlgang durchzuführen ist. Offensichtlicher Anlass für diesen Vorstoss waren die mässigen Wahlresultate von Koller (cvp) und Kopp (fdp) gewesen, die – nachdem der Sozialdemokrat Stich bestätigt worden war – von der Linken kaum Stimmen erhalten hatten
[12].
Zwei primär föderalistisch und sprachenpolitisch motivierte Vorstösse für eine Revision der
Bestimmungen über die Zusammensetzung der Landesregierung wurden nach negativen Stellungnahmen der zuständigen Nationalratskommission resp. der Regierung des Kantons Jura zurückgezogen. Der erste, eine parlamentarische Initiative des Genfer Nationalrats Rebeaud (gp), hatte eine Erhöhung der Anzahl der Bundesräte auf neun und zwei garantierte Sitze für die französisch- und einen für die italienischsprachige Schweiz verlangt. Beim zweiten Vorstoss handelte es sich um eine jurassische Volksinitiative für die Einreichung einer Standesinitiative zugunsten der Einführung der Volkswahl der Landesregierung, wobei die einzelnen Sprachregionen die ihnen garantierten Sitze selbst besetzen würden
[13].
Die Erhöhung der Zahl der
Staatssekretäre hält der Nationalrat, trotz ablehnender Haltung des Bundesrats, immer noch für ein taugliches Mittel zur Entlastung der Regierung. Mit der Überweisung eines Postulats Pini (fdp, TI) forderte er die Exekutive auf, zumindest die Schaffung eines Staatssekretärpostens für jedes Departement in Erwägung zu ziehen
[14]. Die von Bundesrätin Kopp im Vorjahr im Nationalrat erstmals praktizierte Entlastung durch den Beizug eines nicht der Verwaltung angehörenden Experten stiess in der kleinen Kammer auf Widerstand, wurde aber schliesslich mit 19:16 Stimmen bewilligt. Eine grundsätzliche Entlastung einzelner Bundesräte könnte auch durch eine Umstrukturierung der Departemente erzielt werden. Ideen dazu wurden von den Parteien ins Spiel gebracht: Die SVP regte die Zusammenlegung von EDA und EMD zu einem Departement für Sicherheitspolitik und die Schaffung eines neuen Departementes für Umwelt und Energie an; CVP-Generalsekretär Fagagnini sprach sich unter anderem für den Wechsel des Bundesamtes für Aussenwirtschaft vom EVD ins EDA aus
[15].
[3] Siehe dazu unten, Teil I, 1e (Eidgenössische Wahlen).
[4] Versicherungsgericht: Amtl. Bull. NR, 1987, S. 572 f.; TA, 5.3.87; BZ, 18.3.87; NZZ, 18.3.87. Bundesrat: Ww, 20.8.87; Bund, 21.8.87 (Parteipräsidenten), 4.9.87 (Anspruch der Freien Liste/BE); Blick, 8.9.87; BüZ, 3.10.87 (Hubacher).
[5] R. Blum, "Trägt die 'Zauberformel' noch?", in TA, 22.9.87.
[6] SoZ, 23.8.87; Bund, 3.9.87; BaZ, 5.10.87; Presse vom 6.10.87. Zur Kritik an der Amtsführung siehe u.a. BBl, 1987, II, S. 718 ff. (GPK des StR); Ww, 5.2.87 sowie unten, Teil I, 2 (Aide humanitaire).
[7] Presse vom 13.8.87. Zur Kritik an seiner Amtsführung vgl. Lib., LM, SGT, Suisse und Vr vom 13.8.87.
[8] Morel: Lib., 11.11.87 ; TA, 12.1 1.87. Grobet: Suisse, 7.9. und 14.9.87; JdG, 26.10. und 6.11.87. Felber: LM, 29.10.87. Fraktion: NZZ, 23.11.87.
[9] AT, 5.11.87 (SVP-AG); BaZ, 13.11.87 (SVP-BL); Bund, 16.11.87 (SVP-BE); BüZ, 16.11.87 (SVP-GR); Presse vom 21.1 1.87 (Fraktion). Zu Ogi und speziell zur Rolle des SVP-Parteisekretärs Friedli bei seiner Karriere siehe auch Ww, 10.10.87 und 5.11.87.
[10] Amtl. Bull. NR, 1987, S. 1911 ff.; Presse vom 10.12.87; BBl, 1988, I, 90 f.
[11] TA, 12.12.87; NZZ, 12.12.87; SGT, 18.12.87; Presse vom 22.12.87.
[12] Verhandl. B.vers., 1987, IV, S. 68; Amtl. Bull. NR, 1987, S. 1915 f.
[13] Rebeaud: Amtl. Bull. NR, 1987, S. 1598 ff.; SPJ, 1986, S. 20. Standesinitiative: 24 Heures, 6.2.87; SPJ, 1984, S. 25 und 1986, S. 20 (Anm. 29).
[14] Amtl. Bull. NR, 1987, S. 528 f.; siehe auch SPJ, 1986, S. 20.
[15] Kopp: Amtl. Bull. StR, 1987, S. 178 f.; SPJ, 1986, S. 20 f. Departemente: NZZ, 1.10.87; Suisse, 13.11.87.
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