Année politique Suisse 1988 : Infrastruktur und Lebensraum / Verkehr und Kommunikation
 
Agglomerationsverkehr
print
Finanzierung mit Bundesbeiträgen
Nach der Ablehnung der KVP-Vorlage wurde die Frage einer allfälligen Förderung des Agglomerationsverkehrs mit Treibstoffzollmitteln erneut aktuell. Der TCS, der seine Ablehnung der KVP unter anderem damit begründet hatte, dass der öffentliche Agglomerationsverkehr ausgeklammert geblieben wäre, und der vor der Abstimmung eine Volksinitiative zu dessen Finanzierung mit Benzingeldern angekündigt hatte, schlug die Bildung einer Konsultativkommission vor, welche die anstehenden Probleme lösen soll. In Zusammenarbeit mit den Interessenvertretern des öffentlichen Verkehrs will der TCS einen konsensfähigen politischen Vorstoss ausarbeiten. Danach soll sowohl der öffentliche als auch der private Agglomerationsverkehr mehr als bis anhin mit Treibstoffzollmitteln unterstützt werden. Mit diesem Angebot geht der TCS weiter als sein Dachverband FRS, der sich nach wie vor gegen die Verwendung von Benzingeldern zur Finanzierung des öffentlichen Verkehrs wehrt. Ein grösseres finanzielles Engagement des Bundes zur Lösung der städtischen Verkehrsprobleme forderte erneut auch der Schweizerische Städteverband in einem Brief an den Bundesrat [14]. In dieselbe Richtung zielten zwei vom Nationalrat nicht abschliessend behandelte Motionen, die Beiträge aus den Treibstoffzöllen für den Bau und Unterhalt von Gemeindestrassen sowie ein Konzept für die Unterstützung des öffentlichen Agglomerationsverkehrs durch den Bund verlangten [15].
Eine auf Initiative des Schweizerischen Städteverbandes und des TCS in Zusammenarbeit mit den Behörden entstandene Pilotstudie analysierte am Beispiel der Region Bern die Probleme des ständig wachsenden Agglomerationsverkehrs und unterbreitete Lösungsansätze. Zur Entlastung der Ortskerne regt die Studie unter anderem an, das Umsteigen auf umweltfreundliche Verkehrsmittel mit Anreizen oder notfalls mit Verboten zu fördern sowie Raumplanung und Baubewilligungspraxis auf jene Siedlungsstrukturen auszurichten, welche weniger Privatverkehr erfordern und den öffentlichen Verkehr erleichtern. Ferner verlangt sie Verkehrsberuhigungen in den Wohnquartieren und schlägt einen neuen Modus der Finanzierung nach einem einheitlichen Kostenverteilschlüssel für den öffentlichen und den privaten Verkehr vor. Während der Schweizerische Strassenverkehrsverband FRS und der TCS kritisierten, das vorgelegte Modell benachteilige den Individualverkehr, vermissten der VCS und die Umweltschutzorganisationen rasch wirksame Massnahmen zur Verwirklichung der aufgezeigten langfristigen Perspektiven [16].
top
 
print
Ausbau des öffentlichen Agglomerationsverkehrs
In verschiedenen Kantonen wurden im Berichtsjahr Gesetze zur Förderung des öffentlichen Verkehrs beschlossen, Kredite zur Verbesserung der Infrastruktur bewilligt und die gesetzlichen Grundlagen zur Beteiligung an Tarifverbünden geschaffen [17]. So stimmte der Zürcher Souverän einer Verfassungsbestimmung und einem Gesetz über den öffentlichen Personenverkehr klar zu und schuf damit die Grundlage, sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel des Kantons Zürich in einem Tarif- und Verkehrsverbund zusammenfassen zu können. Im Hinblick auf die Inbetriebnahme des S-Bahn-Systems im Mai 1990 soll mit dieser Neustrukturierung ein Anreiz zum Umsteigen vom Privatauto auf Bahn und Bus geschaffen werden [18].
Auch im Kanton Genf hiessen die Stimmbürgerinnen und -bürger den Ausbau des öffentlichen Verkehrsnetzes mit grosser Mehrheit gut. Die Entscheidung betraf lediglich das Prinzip eines Ausbaus, während die umstrittene Frage des Verkehrsmittels — Bau einer Metro oder Ausbau des Tramnetzes — vorläufig ausgeklammert blieb. Gleichzeitig stimmte der Genfer Souverän auch einer Volksinitiative für eine neue Strassenverbindung zwischen den Seeufern zu, wobei auch hier lediglich grundsätzlich über eine neue Seeuferverbindung abgestimmt wurde, während die Frage Untertunnelung oder Überbrükkung der Seebucht sowie die Linienführung nicht zur Debatte standen [19].
top
 
print
Umweltpässe und Tarifverbünde
Tarifverbünde im öffentlichen Nahverkehr werden immer zahlreicher, und die Verkaufszahlen der vergünstigten Abonnemente weisen überall hohe Zuwachsraten auf. So verzeichnete der Tarifverbund Nordwestschweiz, an dem seit Juni 1987 sämtliche öffentlichen Verkehrsmittel des Juranordfusses beteiligt sind, im ersten Betriebsjahr eine Zunahme der Abonnementsverkäufe um knapp 20%. Mittlerweile haben 17 Städte Umweltpässe eingeführt und 10 Agglomerationen kennen das Verbundabonnement [20].
Da sich immer mehr Regionen zu Verkehrs- und Tarifverbünden zusammenschliessen, wird eine gesamtschweizerische Koordination unumgänglich — insbesondere auch deshalb; weil SBB und PTT an den meisten Verbünden beteiligt sind. Der Ständerat überwies ein Postulat Bührer (sp, SH), das ein Leitkonzept für die Tarifverbünde des öffentlichen Verkehrs forderte. Unter Berücksichtigung der Interessen von SBB und PTT soll damit der Rahmen geschaffen werden für gute und gerechte Lösungen in den verschiedenen Regionen der Schweiz. Eine Harmonisierung der Tarifverbünde und eine einheitliche Regelung der Zusammenarbeit der verschiedenen Verkehrsträger verlangte auch ein vom Nationalrat überwiesenes Postulat Bircher (sp, AG). Danach sollen die bestehenden und neuen Tarifverbünde längerfristig auf die ganze Schweiz ausgedehnt werden. Unter der Federführung der SBB erarbeitet derzeit eine Arbeitsgruppe eine "Plattform für die Schaffung von Tarifverbünden" [21].
top
 
print
Flankierende Massnahmen
Nach einer einjährigen Versuchsphase wurden im Berner Muesmattquartier Parkierungsbeschränkungen für quartierfremde Fahrzeuge definitiv eingeführt. Anwohner und Behörden werteten den Pilotversuch als Erfolg, da er zur erhofften Verkehrsberuhigung und -reduktion geführt habe. Insbesondere seien Pendler, die keinen Parkplatz mehr fanden, teilweise auf die öffentlichen Verkehrsmittel umgestiegen oder benützen die Park-and-Ride-Anlagen am Stadtrand. Ein analoger Versuch im Basler Gundeldingerquartier konnte ebenfalls erfolgreich abgeschlossen werden; in Zürich musste er dagegen weiter verschoben werden [22].
Grossversuche mit Tempo 30 in Wohnquartieren konnten bisher nicht durchgeführt werden, da die Rechtsgrundlage für eine Zonensignalisation fehlte. Nachdem mehrere Gesuche abgelehnt werden mussten, schickte das EJPD eine entsprechende Änderung der Strassensignalisationsverordnung in die Vernehmlassung. Während die Neuerung selbst mehrheitlich positiv aufgenommen wurde, stiess die vorgesehene Regelung der Details auf Opposition und wurde vom Schweizerischen Städteverband, vom VCS und den Umweltorganisationen als zu restriktiv und nicht praktikabel kritisiert [23].
In der Stadt Luzern hiessen die Stimmberechtigten einen Kredit von 8,5 Mio Fr. für Verkehrsberuhigungsmassnahmen und zur Verbesserung des Stadtraumes gut. Um die Grenzwerte der Luftreinhalteverordnung einhalten zu können, waren auch in der Stadt Zürich verkehrsbeschränkende und -beruhigende Massnahmen vorgesehen. Der Souverän der Stadt Zürich lehnte jedoch den von Exekutive und Parlament dafür beantragten Kredit von 42 Mio Fr. deutlich ab. Darauf beschloss der Zürcher Stadtrat, von weiteren Massnahmen zur Reduktion des Privatverkehrs vorläufig abzusehen und den kantonalen Massnahmenplan zur Lufthygiene abzuwarten [24].
 
[14] TA, 25.6.88; Bund, 23.7.88; BZ, 16.8. und 8.11.88; NZZ, 7.10.88; vgl. Gesch.ber. 1988, S. 396; SPJ 1986, S. 118 und 120. Zur KVP siehe oben, Generelle Verkehrspolitik.
[15] Amtl. Bull. NR, 1988, S. 1915 f. (Motion Scheidegger, fdp, SO) und 1916 f. (Motion Paul-René Martin, fdp, VD); vgl. 24 Heures, 14.6.88.
[16] Gesch.ber. 1988, S. 386; Presse vom 16.1.88; VCS-Zeitung, 1988, Nr. 1, S. 8 f.
[17] Siehe dazu unten, Teil II, 4c.
[18] TA, 5.2., 10.2., 24.2. und 7.3.88; NZZ, 15.2., 25.2., 27.2. und 7.3.88; vgl. Lit. Künzi, SPJ 1987, S. 142 sowie unten, Teil II, 4c.
[19] JdG, 3.2., 19.3., 2.6., 3.6., 6.6. und 13.6.88; NZZ, 25.2., 19.3. und 3.6.88; Bund, 24.3.88; vgl. SPJ 1987, S. 143 sowie unten, Teil II, 4b und 4c.
[20] BZ, 26.5.88; NZZ, 31.5.88; Suisse, 22.7.88; Presse vom 23.8.88 (Nordwestschweiz) ; LNN, 11.11.88; LITRA, Jahresbericht 1987/88, Bern 1988, S. 33 ff.
[21] Amtl. Bull. StR, 1988, S. 25 ff. ; Amtl. Bull. NR, 1988, S. 920; BaZ, 2.3.88; NZZ, 25.5.88. Plattform: BZ, 25.2. und 28.8.88.
[22] SoZ, 12.6.88; BZ, 29.6. und 8.11.88; Ww, 3.11.88; TA, 8.11.88. Siehe auch Lit. Planungsbüro Jud sowie SPJ 1987, S. 142.
[23] Amtl. Bull. NR, 1988, S. 990, 1657 und 1947 f.; Vat., 21.1. und 11.2.88; BZ, 22.1.88; NZZ, 21.5.88; BaZ, 7.6. und 20.12.88; Presse vom 19.12.88; LNN, 21.12.88; NZZ, 24.12.88; VCS-Zeitung, 1988, Nr. 8, S. 21.
[24] Luzern: LNN, 14.5. und 13.6.88; Vat., 4.6. und 13.6.88; TA, 10.6. und 14.6.88. Zürich: TA, 17.5., 20.5., 3.6., 13.6. (Resultat), 14.6. und 25.8.88; vgl. SPJ 1987, S. 142 f. Siehe auch unten, Teil I, 6d (Luftreinhaltung).