Année politique Suisse 1990 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Strafrecht
Im Zusammenhang mit der 700-Jahr-Feier hatte sich der Nationalrat mit zwei Petitionen und einer parlamentarischen Initiative Fischer (cvp, LU) zu befassen, welche eine
Amnestie für bestimmte Kategorien von zu Haft- oder Gefängnisstrafen Verurteilten forderten. Das Parlament lehnte diese Begehren ab. Ein wichtiges Argument für die Begründung dieser Ablehnung war, dass keine Gruppe von Bestraften auszumachen sei, für die sich eine Amnestie rechtfertigen liesse. Dem in der Öffentlichkeit verbreiteten Unbehagen über die Freiheitsstrafen für Drogenkonsumenten oder für Verkehrssünder – diese beiden Gruppen wurden in den Amnestiebegehren speziell erwähnt – sollte nach Ansicht der vorberatenden Kommission nicht mit einer einmaligen Amnestie, sondern mit entsprechenden Gesetzesrevisionen begegnet werden
[56].
Die 1989 vom Neuenburger Ständerat Béguin (fdp) eingereichte Motion, welche verlangte, dass zu lebenslänglichen Freiheitsstrafen verurteilte
Triebtäter nur ausnahmsweise in den Genuss der vorzeitigen Entlassung kommen sollen, wurde als Postulat überwiesen. Dabei zeigte Bundespräsident Koller zwar durchaus Verständnis für das Anliegen, die Bevölkerung vor gefährlichen Gewalttätern zu schützen. Er verwies aber bezüglich der konkret zu ergreifenden Massnahmen auf die Arbeit der Expertenkommission, welche sich mit der Revision des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches befasst
[57].
In bezug auf geringfügige Vergehen besteht hingegen Konsens, dass
kurze Haftstrafen nicht in jedem Fall sinnvoll sind. Mit Verordnungsänderungen hat der Bundesrat den Kantonen deshalb die Möglichkeit gegeben, Freiheitsstrafen bis zu 30 Tagen in Form von gemeinnütziger Arbeit zu vollziehen. Diese versuchsweise Regelung erlaubt es den Verurteilten, die Strafe in Form von mehrstündigen Arbeitseinsätzen in der Freizeit abzugelten, ohne dabei ihre übliche Erwerbstätigkeit zu unterbrechen
[58]
.
Als Zweitrat behandelte der
Nationalrat in der Wintersession die Revision des Sexualstrafrechts ("strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität"). Es handelt sich dabei um den zweiten Teil der 1985 vom Bundesrat vorgeschlagenen Überarbeitung der Bestimmungen des Strafgesetzbuchs und des Militärstrafgesetzbuchs über strafbare Handlungen gegen Leib und Leben, gegen die Sittlichkeit und gegen die Familie
[59]
.
Wichtigste Streitpunkte bildeten das sogenannte Schutzalter, die Entkriminalisierung von Liebesbeziehungen zwischen Jugendlichen sowie die Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe.
Der Rat entschied sich wie zuvor der Ständerat für die
Beibehaltung des Schutzalters 16. Sexuelle Handlungen sollen jedoch nicht mehr bestraft werden, wenn die Beteiligten mindestens 14jährig sind und ihr Altersunterschied nicht mehr als vier Jahre beträgt. Wenn alle Beteiligten weniger als vierzehn Jahre alt sind, sollen gemäss dem Beschluss des Nationalrats ihre sexuellen Handlungen nicht mehr bestraft werden
[60].
In der Debatte über die Bestrafung von
Vergewaltigung in der Ehe wurde die vom Ständerat 1987 beschlossene Beibehaltung der Straffreiheit von keinem Redner verteidigt. Umstritten war hingegen die von der SP, den Grünen und von Nationalrätinnen aller Parteien geforderte Einstufung als Offizialdelikt. Die Frauenorganisationen von CVP, SP, SVP, GPS, LdU, SD und POCH hatten sich zuvor in einer gemeinsamen Stellungnahme ebenso für die Ausgestaltung als Offizialdelikt ausgesprochen wie der Schweizerische Katholische Frauenbund und die Dachorganisation der Frauenhäuser. Sie argumentierten, dass die Vergewaltigung inner- und ausserhalb der Ehe gleich behandelt werden müsse, und dass mit der Form des Antragsdelikts der Schutz der Frau nicht gewährleistet sei. Für die Einstufung als Antragsdelikt wurde die Begründung ins Feld geführt, die betroffene Frau müsse selbst entscheiden können, ob sie ein Strafverfahren gegen ihren Ehemann mit den sich daraus ergebenden Konsequenzen in die Wege leiten wolle. In einer Namensabstimmung entschied der Rat mit 99 zu 68 Stimmen für die Strafverfolgung auf Antrag
[61]..
Als Zweitrat befasste sich der
Ständerat mit der Schaffung eines neuen Gesetzes gegen die Geldwäscherei. Auf Antrag seiner Kommission beschloss er, in allen Punkten den Entscheiden des Nationalrats der seinerseits die Bundesratsvorlage praktisch unverändert übernommen hatte zu folgen. Damit konnten die Strafbestimmungen über Handlungen, welche geeignet sind, das Auffinden von deliktisch erworbenen Vermögenswerten zu verhindern, auf den 1. August in Kraft gesetzt werden
[62]..
Die Ergänzung des Strafrechts um den Begriff der
"kriminellen Vereinigung" wurde auch von der kleinen Kammer als notwendig für die Bekämpfung des organisierten Verbrechens beurteilt. Sie überwies deshalb oppositionslos eine Motion des Nationalrats, welche vom Bundesrat die rasche Ausarbeitung von entsprechenden Bestimmungen fordert
[63].
Insbesondere der Fall des früheren philippinischen Staatschefs Marcos hatte auch dem Bundesrat vor Augen geführt, dass das gültige Rechtshilfeverfahren in Strafsachen durch die Ausschöpfung sämtlicher kantonaler und eidgenössischer Rechtsmittel in nicht akzeptabler Weise verschleppt werden kann. Er beauftragte deshalb anfangs Jahr das EJPD mit der Ausarbeitung eines Entwurfs für die
Revision des Bundesgesetzes über die internationale Rechtshilfe und des Rechtshilfevertrags mit den USA. Namentlich durch eine Neuformulierung der zulässigen Rechtsmittel und durch zusätzliche Eingriffsmöglichkeiten des Bundesamtes für Polizeiwesen soll eine
Straffung des Verfahrens erzielt werden
[64]. Einen anderen Weg zur Verfahrensbeschleunigung brachte Nationalrat Scheidegger (fdp, SO) in die Diskussion ein. Er regte mit einem vom Rat überwiesenen Postulat an, dass der Bundesrat mit Entwicklungsländern Staatsverträge nach dem Vorbild des Rechtshilfeabkommens mit den USA abschliessen soll
[65].
[56] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 1870 ff.
[57] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 167 ff.; JdG, 15.3.90; Express, 24.8.90. Vgl. SPJ 1989, S. 26.
[58] AS, 1990, S. 519 f. Vgl. auch SGT, 23.3. und 19.7.90 sowie Lit. Bucher/Fehr.
[59] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2252 ff., 2300 ff. und 2309 ff. Der erste Teil war 1989 verabschiedet und auf den 1. Januar 1990 in Kraft gesetzt worden (siehe SPJ 1989, S. 26).
[60] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2264 ff.; Presse vom 12.12.90.
[61] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 2300 ff. und 2309 ff.; Presse vom 13.12.90; NZZ, 22.3. (Frauenbund) und 4.12.90 (Parteien); Vr, 11.12.90 (Frauenhäuser). Vgl. auch TA, 10.12.90; BZ, 1 1.12.90 sowie SPJ 1987, S. 22 f. und 1989, S. 26.
[62] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 189 ff. und 276; Amtl. Bull. NR, 1990, S. 760; AS, 1990, I, S. 1077 f. Siehe auch SPJ 1989, S. 26 f. Eine Standesinitiative des Kantons Genf aus dem Jahre 1989 konnte damit als erledigt abgeschrieben werden (Amtl. Bull. StR, 1990, S. 202).
[63] Amtl. Bull. StR, 1990, S. 203. Vgl. SPJ 1989, S. 27.
[64] BaZ, 18.1.90; Gesch.ber. 1990, S. 201 f. Zum Fall Marcos siehe unten, Teil 1, 4b (Banken) und SPJ 1988, S. 102.
[65] Amtl. Bull. NR, 1990, S. 710.
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