Année politique Suisse 1996 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
 
Volksrechte
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Nutzung der Volksrechte
Im Berichtsjahr fanden zwei mit Referenden verlangte Volksabstimmungen statt (Staatssekretäre und Arbeitsgesetz). In beiden Fällen lehnten die Bürgerinnen und Bürger den Beschluss der Bundesversammlung ab, wobei beim Arbeitsgesetz auch der Bundesrat nicht hinter der vom Parlament beschlossenen Lösung stand.
Insgesamt sieben Volksinitiativen wurden 1996 eingereicht (drei zur AHV, für sofortige Beitrittsverhandlungen mit der EU, Ausnahmen von der Mehrwertsteuer für gewisse Sportveranstaltungen, Halbierung des Autoverkehrs, Verbot für Wasserflugzeuge). Nur ein Volksbegehren (SVP-Asylinitiative) kam zur Abstimmung und wurde abgelehnt. Zwei weitere Begehren ("Bauern und Konsumenten" und "Abschaffung der direkten Bundessteuer") wurden von den Initianten zurückgezogen, nachdem sie entweder ihr Anliegen vom Parlament genügend berücksichtigt sahen (Landwirtschaftsinitiative) resp. die Chancenlosigkeit ihres Vorschlags im Parlament erkennen mussten (Steuerinitiative). Eine Volksinitiative (SD-Asylinitiative) wurde vom Parlament für ungültig erklärt. Damit stieg der Bestand der eingereichten, aber dem Volk noch nicht zum Entscheid vorgelegten Volksinitiativen von 19 auf 22. Neu lanciert wurden 1996 nur drei Volksinitiativen.
Fünfmal musste sich das Volk zu vom Parlament vorgeschlagenen Verfassungsänderungen äussern und einmal zu ein dem obligatorischen Referendum unterstellten Bundesbeschluss (Kantonswechsel von Vellerat). Eine dieser Vorlagen (persönliche militärische Ausrüstung) lehnte es ab, fünfmal bestätigte es den Entscheid des Parlaments. Damit folgte das Volk bei sechs der insgesamt neun Abstimmungen des Berichtsjahres dem Parlamentsbeschluss, dreimal stimmte es dagegen [35].
Am 1. Dezember beschlossen die Stimmberechtigten Nidwaldens mit 7383 zu 3263 Stimmen, die Landsgemeinde abzuschaffen. Diese hatte ohnehin stark an Bedeutung eingebüsst, nachdem seit 1994 die Wahlen und - auf Verlangen der Bürger - auch Sachabstimmungen an der Urne durchgeführt wurden. Damit besteht diese Institution nur noch in Obwalden, Glarus und den beiden Appenzell [36].
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Regeln für Volksabstimmungen
Die Bundesverwaltung baute ihr über Internet elektronisch abfragbares Informationsangebot im Berichtsjahr weiter aus. Eine Nutzung des Internet für die Stimmabgabe bei Volksabstimmungen erscheint dem Bundesrat und dem Parlament angesichts der technischen Probleme (Kontrolle, Fälschungsgefahr) jedoch wenig sinnvoll. Der Nationalrat lehnte deshalb die Überweisung eines Postulats de Dardel (sp, GE) ab, der sich davon eine Verbesserung der Stimmbeteiligung bei den Jungen versprochen hatte [37].
Weil der Bundesrat bei der Volksabstimmung über die Revision des Arbeitsgesetzes in der offiziellen Informationsschrift (Bundesbüchlein) auf eine Empfehlung verzichtet hatte, beantragten zwei freisinnige Nationalräte mit Motionen, dass diese Publikation in Zukunft vom Parlament verfasst werden soll. Gemäss dem Vorstoss von Weigelt (SG) soll dies generell so gehandhabt werden, gemäss demjenigen von Dettling (SZ) nur dann, wenn der Bundesrat die Parlamentsbeschlüsse nicht vertreten will [38].
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Reform der Volksrechte
Als Zweitrat behandelte der Ständerat den Rest der Teilrevision des Gesetzes über die politischen Rechte. In Abweichung vom Nationalrat beschloss er eine neue Regelung für die Beurteilung der Gültigkeit von Volksinitiativen - welche der Nationalrat dann allerdings wieder strich (siehe unten) - und eine Präzisierung der Frist, nach welcher eine Volksinitiative dem Volk spätestens zum Entscheid vorzulegen ist. Der Nationalrat übernahm diese Formulierung. Neu gilt demnach eine Referendumsfrist von 100 Tagen (inkl. Beglaubigung der Unterschriften) - wobei auf die Unterschriftenbogen neu nicht nur der Name, sondern effektiv auch eine Unterschrift zu setzen ist -, eine maximale Frist von neun Monaten zwischen der Schlussabstimmung resp. dem Ablaufen der dem Parlament eingeräumten Behandlungszeit für eine Volksinitiative und der Volksabstimmung sowie die erweiterte Kompetenz der Bundeskanzlei, irreführende Titel von Volksinitiativen abzuändern [39].
Die Reform der Volksrechte bildet, neben der Nachführung und sprachlichen Überarbeitung, zusammen mit der Justizreform den Kernpunkt der geplanten Totalrevision der Bundesverfassung. In der Vernehmlassung dazu gingen weitere ablehnende Stellungnahmen zu einer Erhöhung der Unterschriftenzahlen für Initiative und Referendum ein. Neben der SP sprachen sich die SVP, die GP und der SGB, sowie mit Einschränkungen auch die CVP dagegen aus [40].
In seiner im November vorgestellten Botschaft zur Totalrevision der Bundesverfassung rückte der Bundesrat nur wenig von seinen ursprünglichen Plänen ab. Er behielt sowohl die im Vorentwurf vorgestellten neuen Instrumente als auch die Erschwerung der Ausübung der Volksrechte durch eine Heraufsetzung der Unterschriftenzahlen bei. Für Referenden beantragte er eine Verdoppelung auf 100 000, für Volksinitiativen eine Erhöhung auf 150 000 (statt wie ursprünglich vorgesehen auf 200 000). Für das neue Instrument der allgemeinen, d.h. nicht ausformulierten Volksinitiative, welche vom Parlament sowohl auf Verfassungs- als auch auf Gesetzesstufe realisiert werden könnte, sollen hingegen 100 000 Unterschriften ausreichen. Die bereits im Vernehmlassungsentwurf enthaltene Ausweitung des Referendumsrechts auf Finanz- und Verwaltungsbeschlüsse wurde beibehalten, allerdings etwas erschwert: nicht wie vorgesehen ein Drittel der Ratsmitglieder könnten eine Unterstellung unter das fakultative Referendum anordnen, sondern ein Mehrheitsbeschluss in beiden Parlamentskammern wäre dazu erforderlich [41].
Das von der SP geforderte konstruktive Referendum (die Unterschriftensammlung für die im Herbst 1995 lancierte Volksinitiative konnte noch nicht abgeschlossen werden) ist im Entwurf für die Verfassungsrevision nicht enthalten. Hingegen schlug der Bundesrat vor, dass das Parlament beschliessen kann, den Stimmbürgern Alternativlösungen zu Verfassungs- oder Gesetzesvorlagen zu unterbreiten [42].
Der Bundesrat möchte im Rahmen der Verfassungsrevision auch die bisher stiefmütterlich behandelte Standesinitiative aufwerten. Er beantragte, sie einer Volksinitiative gleichzustellen, wenn sie in mindestens acht Kantonen vom Volk oder vom Parlament beschlossen worden ist [43].
Während sich die FDP und die CVP hinter die vorgeschlagenen Neuerungen stellten, bekräftigten SP, SVP, GP und SD ihren Widerstand gegen die Erhöhung der Unterschriftenzahlen [44].
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Ungültigkeit von Volksinitiativen
Nach dem Bundesrat und dem Ständerat erklärte auch der Nationalrat die Asylinitiative der Schweizer Demokraten wegen Verstoss gegen zwingendes Völkerrecht für ungültig. Neben der SD hatte sich auch die FP und LdU/EVP-Fraktion sowie eine Mehrheit der SVP für die Gültigkeit ausgesprochen (die beiden letztgenannten plädierten für Gültigkeit, aber Ablehnung). Die Grünen und einige Vertreter der SP beantragten erfolglos, den völkerrechtswidrigen Artikel (unbedingte Rückschaffung) zu streichen und sie - mit einer Ablehnungsempfehlung versehen - für gültig zu erklären. In der Gesamtabstimmung setzte sich die Ungültigkeitserklärung mit 133 zu 33 Stimmen durch, wobei sich 20 Nationalräte, vor allem aus der SP und der GP, der Stimme enthielten [45].
Die damit erfolgte Ungültigerklärung zweier Volksinitiativen durch die Bundesversammlung innerhalb nur eines Jahres löste ein gewisses Unbehagen darüber aus, dass eine solche Annullierung erst nach der erfolgreichen Unterschriftensammlung erfolgt. Anlässlich der Beratung der Teilrevision des Gesetzes über die politischen Rechte beschloss der Ständerat deshalb auf Antrag seiner Kommission, dass bei der Lancierung einer Volksinitiative durch die Bundeskanzlei eine - allerdings unverbindliche - materielle Vorprüfung der Gültigkeit durchzuführen sei. Der Nationalrat strich diese Bestimmung wieder. Da grosse Wahrscheinlichkeit bestehe, dass es zu sich widersprechenden Entscheiden der Bundeskanzlei und des Parlaments kommen könnte, hielt er diese Lösung für nicht praktikabel [46].
In der Botschaft zur Totalrevision der Bundesverfassung machte auch der Bundesrat Vorschläge zu diesem Thema. Er beantragte, dass in Zukunft die Bundesversammlung zwar eine Volksinitiative für ungültig erklären kann, dass der definitive Entscheid darüber aber vom Bundesgericht getroffen wird [47].
 
[35] Siehe die Tabelle zu den Volksabstimmungen im Anhang, die einzelnen Sachkapitel sowie SZ, 30.12.96 und wf, Initiativen + Referenden, Zürich 1997. Vgl. SPJ 1995, S. 39 f.35
[36] BaZ, 25.11.96; NLZ, 2.12.96. Schwyz und Zug haben die Landsgemeinde 1848 abgeschaft, Uri im Jahr 1928.36
[37] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 1451 ff. Informatikspezialisten bestritten allerdings die Existenz von nicht lösbaren technischen Problemen (Blick, 22.5.96; Bund, 23.5.96; TA, 14.9.96).37
[38] Verhandl. B.vers., 1996, III, Teil II, S. 120; TA, 11.10.96. Zum Arbeitsgesetz siehe unten, Teil I, 7a (Arbeitszeit).38
[39] Amtl. Bull. StR, 1996, S. 45 ff., 456 f. und 587; Amtl. Bull. NR, 1996, S. 868 f. und 1276; BBl, 1996, III, S. 39 ff.; AS, 1997, S. 761 ff. Die neuen Bestimmungen wurden auf den 1.4.97 in Kraft gesetzt. Vgl. SPJ 1995, S. 40.39
[40] TA, 27.2. (SP, CVP) und 22.4.96 (SVP); Bund, 29.2.96 (GP und SGB). Vgl. SPJ 1995, S. 40 f. und oben, Teil I, 1a (Totalrevision der Bundesverfassung).40
[41] BBl, 1997, I, S. 1 ff. (v.a. S. 436 ff.); Presse vom 24.8.96 (Vororientierung) und 22.11.96. Vgl. dazu auch oben, Teil I, 1a (Totalrevision der Bundesverfassung). Zur allgemeinen Volksinitiative siehe auch Lit. Moser.41
[42] BBl, 1997, I, S. 477 ff. Zur Initiative siehe SPJ 1995, S. 41.42
[43] BBl, 1997, I, S. 451; TA, 22.11.96.43
[44] AT, 24.8.96.44
[45] Amtl. Bull. NR, 1996, S. 303 ff.; TA, 13.3.96. Vgl. SPJ 1995, S. 43.45
[46] Amtl. Bull. StR, 1996, S. 50 ff. und 456 f.; Amtl. Bull. NR, 1996, S. 868 f.; Presse vom 8.3. und 12.6.96. Vgl. SPJ 1995, S. 42 f.46
[47] BBl, 1997, I, S. 443. Presse vom 24.8. und 22.11.96.47