Année politique Suisse 2006 : Sozialpolitik / Gesundheit, Sozialhilfe, Sport
Gesundheitspolitik
Auf Ersuchen des Bundesrates publizierten die OECD und die WHO einen gemeinsamen
Bericht zum schweizerischen Gesundheitswesen. Die beiden Organisationen betonten die Qualität der hiesigen Gesundheitsversorgung im Vergleich mit anderen OECD-Ländern, empfahlen aber, die hohen Kosten zu senken. Eine der wichtigsten Massnahmen zur Erreichung dieses Ziels besteht ihrer Meinung nach in der
Verbesserung der staatlichen Steuerung des Gesundheitssystems, und zwar sowohl im Bereich der Versorgung wie bei der Prävention und der Gesundheitsförderung. Die Empfehlungen gingen weitgehend in die Richtung, die mit den verschiedenen Paketen der 2. KVG-Revision (Übergang von einer Finanzierung der Einzelleistungen hin zu Fallpauschalen, Lockerung des Kontrahierungszwangs, Einführung von Managed-Care-Netzen) sowie mit anderen bereits initiierten Massnahmen (Förderung der Generika sowie des interkantonalen Dialogs) bereits eingeschlagen worden ist. Den meisten Reformbedarf orteten OECD und WHO bei der
Prävention: Diese sei nicht nur zu zersplittert, weshalb die Schaffung eines Rahmengesetzes zu begrüssen wäre, sie sei auch zu wenig auf die dominierenden Probleme der öffentlichen Gesundheit (etwa Tabak- und Alkoholmissbrauch) oder auf bisher noch nicht genügend beachtete Aspekte (wie psychische Gesundheit und Übergewicht) ausgerichtet. Zudem sollten nationale Programme zur Qualitätsverbesserung in einigen Schlüsselbereichen gefördert und die Bedingungen für den Bezug von Krankenkassenprämienverbilligungen vereinheitlicht werden
[1].
Wie eine vom BFS und vom BASPO gemeinsam veröffentlichte Studie zeigte, bewegen sich zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung aus gesundheitlicher Sicht zu wenig. Immerhin die Hälfte der Bevölkerung bewältigt aber zumindest einen Teil der täglichen Wegstrecken zu Fuss oder mit dem Fahrrad. Es sind auch nicht alle Bevölkerungsgruppen vom
Bewegungsmangel gleich betroffen. Mit dem
Alter nimmt der Bewegungsmangel zu. Ein deutlicher Rückgang der sportlichen Aktivitäten zeigt sich zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr sowie ab dem 74. Altersjahr. In jungen Jahren sind die Männer deutlich aktiver als die Frauen. Da danach aber das sportliche Niveau bei den Frauen weniger steil abfällt, zeigen Frauen und Männer im Alter zwischen 35 und 65 Jahren ein vergleichbares Bewegungsmuster. Mit dem
sozialen Status steigt auch das Aktivitätsverhalten: Personen mit einem mittleren oder hohen Bildungsniveau sowie einem überdurchschnittlichen Haushalteinkommen bewegen sich mehr als Personen aus tieferen sozialen Schichten. Unterdurchschnittlich ist das Bewegungsniveau der ausländischen Wohnbevölkerung, wobei die Bewegungsdefizite bei den 15- bis 34-jährigen Ausländerinnen besonders gross sind. In der Deutschschweiz ist der Bewegungsmangel weniger ausgeprägt als in der lateinischen Schweiz
[2].
Im Vorjahr hatte der Nationalrat den Bundesrat mit einer Motion verpflichten wollen, für die
Qualitätssicherung und Patientensicherheit in der medizinischen Behandlung zu sorgen. Der Ständerat hatte den Auftrag aus Rücksicht auf die Kantonshoheit im Gesundheitswesen dahingehend abgeschwächt, dass der Bund nur für die Steuerung, die Regulierung und die Koordination dieser Fragen zuständig sein soll. Dieser Sicht schloss sich nun auch die grosse Kammer an
[3].
Der Ständerat überwies diskussionslos ein Postulat Sommaruga (sp, BE), das den Bundesrat um einen Bericht ersucht, der die Gründe für die enormen
regionalen Unterschiede in der Abgabe und Verschreibung von medizinischen Leistungen eruiert, sowie Massnahmen vorschlägt, mit welchen im Sinne von Artikel 56 KVG (Wirtschaftlichkeit) und Artikel 58 KVG (Qualitätssicherung) sowohl eine Unterversorgung der Bevölkerung als auch eine gesundheitlich wie ökonomisch schädliche Überversorgung verhindert werden können
[4].
Die Eidg. Kommission für Grundsatzfragen der Krankenversicherung (EGK) nahm von zwei von ihr in Auftrag gegebenen Studien zur impliziten
Rationierung im Gesundheitswesen Kenntnis. Diese kamen zum Schluss, dass die Gesundheitsversorgung in der Schweiz hochstehend ist, zwischen einzelnen Kantonen und Regionen aber Unterschiede im Zugang zur Versorgung bestehen. Aus diesen Unterschieden allein lässt sich gemäss EGK nicht auf eine bewusste Rationierung schliessen, jedoch müsse ein Augenmerk auf besondere Risikogruppen (ältere Personen, geistig Behinderte, psychisch Kranke und sozial Benachteiligte) gelegt werden
[5].
Trotz sehr guter technischer und organisatorischer Voraussetzungen liegt die Schweiz bei den elektronischen Gesundheitsdiensten („E-Health“) im internationalen Vergleich im Rückstand. Die föderalistische Organisation der Gesundheitsversorgung fördert zwar praxisnahe Lösungen, erschwert aber ein einheitliches System. Der Bundesrat beauftragte deshalb das EDI im Januar, bis Ende 2006 ein Konzept für eine
nationale Strategie „E-Health“ mit Massnahmen vorzulegen. Der Mitte Dezember vorgestellte Entwurf setzte Schwerpunkte in den Bereichen elektronische Patientendossiers, Online-Informationen und Online-Dienste sowie Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen
[6].
Im Einvernehmen mit dem Bundesrat nahm der Nationalrat eine Motion Noser (fdp, ZH) an, die einen Ausbau der 2004 in der laufenden KVG-Revision beschlossenen Versichertenkarte zu einem eigentlichen
Gesundheitspass verlangt, der die Patientenerkennung vereinfacht, medizinische Notfalldaten beinhaltet und einen sicheren Zugang zu persönlichen Gesundheitsinformationen ermöglicht. Es seien darüber hinaus Gesundheitsinformationsnetze zwischen den Versorgungsstationen (Krankenhäuser, Praxen, Laboratorien usw.) zu entwickeln, um den Informationsstand aller im schweizerischen Gesundheitswesen Beteiligten zu verbessern, aktuelle Daten zum Stand der Volksgesundheit zu eruieren und eine rasche Reaktion auf erkannte Gefahren bzw. Gefahrenquellen im Bereich der Gesundheit sicherzustellen. Teuscher (gp, BE), welche die Motion 2004 bekämpft hatte, plädierte erneut mit dem Argument des Datenschutzes gegen eine Annahme, unterlag jedoch mit 99 zu 46 Stimmen
[7].
Wegen der Ausbreitung der Vogelgrippe seit Herbst 2005 und der damit einhergehenden Risiken auch für die Menschen wurden die seit einiger Zeit in der Bundesverwaltung laufenden Arbeiten zur
Pandemievorsorge stark beschleunigt. Dabei zeigte sich, dass mit Blick auf die hinreichende Versorgung der Bevölkerung mit Heilmitteln, insbesondere mit Impfstoffen, im Fall einer Pandemie der Bund nicht über die nötigen gesetzlichen Kompetenzen verfügt. Der Bundesrat unterbreitete deshalb dem Parlament eine Änderung des Epidemiengesetzes, die ihm erlaubt, noch vor Ausbruch einer Pandemie die Versorgung der Bevölkerung auch mit anderen Heilmitteln als immunbiologischen Erzeugnissen sicherzustellen. Im Blickfeld stehen neben Impfstoffen vor allem antivirale Medikamente und Medizinprodukte (z.B. Schutzmasken). Beide Kammern stimmten der Änderung diskussionslos zu
[8].
Trotz Kritik am Vorgehen des Bundesrats bewilligte der Nationalrat einen Kredit von knapp 75 Mio Fr. für den Kauf von Impfstoffen gegen eine
mögliche Grippepandemie. Der Betrag ist Teil eines umfassenden Schutzkonzepts im Umfang von 186,2 Mio Fr. Kritik am Vorgehen des Bundesrats, der den Rahmenkredit erst nachträglich auf Antrag des EDI in den Voranschlag 2007 einfügte hatte, wurde vor allem von den Fraktionen der CVP und der SVP geübt. Die beiden Parteien zeigten sich über die plötzliche Eile der Landesregierung irritiert und sprachen von einem Konzept, das im internationalen Vergleich sehr teuer sei. Finanzminister Hans-Rudolf Merz verteidigte hingegen das Vorgehen des Bundesrats. Gemäss dem Schutzkonzept soll die Schweiz im Fall einer Grippeseuche schon im Jahr 2007 über Impfstoff für die gesamte Bevölkerung verfügen. Dafür sollen rund acht Millionen Dosen eines Präpandemie-Impfstoffs beschafft werden. Der Ständerat stimmte, wenn auch ebenfalls etwas murrend, zu
[9].
Von 2000 bis 2005 nahmen die Kosten des gesamten Schweizer Gesundheitssystems um 22% auf insgesamt 52,9 Mia Fr. zu. Die geringste Zunahme (+2,5%) wurde allerdings in den letzten beiden Jahren gemessen, was immerhin auf eine
leichte Bremswirkung schliessen lässt. Der Anteil der Gesundheitskosten am Bruttoinlandprodukt (BIP) stieg im untersuchten Zeitraum von 10,4 auf 11,6%. Im internationalen Vergleich hat die Schweiz damit das zweitteuerste Gesundheitswesen hinter den USA (mit einem Kostenanteil von 15,3% am BIP). Danach folgen Deutschland (10,9%) und Frankreich (10,5%). Eine besonders starke Zunahme von durchschnittlich 10,3% pro Jahr stellten die Statistiker bei der ambulanten Behandlung in den Spitälern fest, verglichen mit 3,2% für die stationäre Behandlung. Die Kosten der Institutionen für Betagte und Chronischkranke legten im Mittel um 4,9% pro Jahr zu, also etwas stärker als die generellen Gesundheitskosten mit einer durchschnittlichen Zunahme von 4,1% pro Jahr. Die gesamte Steigerung der Gesundheitskosten wurde zu 44% von der Krankengrundversicherung, zu 26% vom Staat und zu 20% von den privaten Haushalten finanziert. Die restlichen 10% verteilten sich auf die übrigen Sozialversicherungen (IV, Unfall- und Militärversicherung)
[10].
Der Bundesrat sprach sich gegen eine umfassende Berücksichtigung der Komplementärmedizin im Gesundheitswesen aus. Er empfahl die 2005 eingereichte
Volksinitiative "Ja zur Komplementärmedizin" dem Parlament ohne Gegenvorschlag zur Ablehnung. Er begründete dies damit, zahlreiche Forderungen der Initiantinnen und Initianten seien schon erfüllt und die Komplementärmedizin könne unter den geltenden gesetzlichen Rahmenbedingungen bereits angemessen berücksichtigt werden; sie habe inzwischen einen bedeutenden Platz im Versorgungssystem erreicht. Alternative Heilmethoden und Arzneimittel könnten jederzeit auf Antrag in den Leistungskatalog der Grundversicherung aufgenommen werden, müssten aber nachweisen, dass sie die Kriterien der Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit erfüllen. Eine darüber hinausgehende Berücksichtigung würde auf Kosten der herkömmlichen wissenschaftlichen Medizin gehen oder zu einem massiven Kostenschub im Gesundheitswesen führen
[11].
Siehe dazu unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung).
Anfang April demonstrierten über 10 000 Hausärzte auf dem Bundesplatz in Bern für bessere Arbeitsbedingungen und insbesondere für mehr Mitsprache bei der künftigen Ausgestaltung der Grundversicherung des Krankenversicherungsgesetzes; in diesem Sinn deponierten sie auch eine Petition mit über 300 000 Unterschriften. Zudem forderten sie eine vermehrte Berücksichtigung der
Allgemeinmedizin in der Ausbildung, eine Fachrichtung, die bisher nur an der Universität Basel angeboten wird
[12].
Der Bundesrat genehmigte den Leistungsauftrag 2007-2010 an
Swissmedic. Diverse Neuerungen sollen dazu beitragen, dass das viel kritisierte Heilmittelinstitut seine Aufgaben effizienter erfüllen kann. Der Auftrag besteht aus drei Teilen: Im ersten gibt der Bund die strategische Ausrichtung vor. Der zweite Teil regelt die zu erbringenden Leistungen und die finanziellen Rahmenbedingungen. Hier muss Swissmedic Abstriche machen. Der Bund reduziert seine jährliche Abgeltung schrittweise um 4%: von 16,6 Mio Fr. im Jahr 2007 auf 15,9 Mio Fr. im Jahr 2010. Im dritten Teil werden verschiedene praktische Punkte festgelegt. Neu übernimmt das Generalsekretariat des EDI vom BAG die Aufsichtsfunktion. Diese Regelung gewährleiste, dass das Institut unter der Aufsicht einer Behörde stehen wird, die nicht im Heilmittelbereich tätig ist. Mit der Neugestaltung des Leistungsauftrags kam der Bundesrat den Forderungen der Geschäftsprüfungskommission des Ständerats nach. Diese hatte eine einfachere und klarere Regelung der Kompetenzen und Verantwortlichkeiten zwischen Swissmedic und dem BAG verlangt.Swissmedic stand seit seiner Gründung im Jahr 2002 regelmässig in der Kritik. Vorgeworfen wurde dem Institut unter anderem zu grosse Bürokratie. Im Oktober wechselte das Institut fast die gesamte Direktion aus
[13].
2004 hatten beide Kammern zwei analogen
Standesinitiativen der Kantone Genf und Wallis Folge gegeben, welche eine Präzisierung von Art. 33 des Heilmittelgesetzes verlangten. Dort war im Sinn der Korruptionsbekämpfung die Bestimmung eingefügt worden, dass den Personen und Institutionen, welche Medikamente verschreiben oder abgeben, dafür von den Herstellern keine geldwerten Vorteile angeboten werden dürfen. Dies hatte dazu geführt, dass die Pharmaindustrie die bisherige Praxis, Spitalapotheken als Grosskunden Rabatte zu gewähren, aufhob, was zu beträchtlichen Mehrkosten für die Kantone und die Krankenkassen führte. Gemäss den Standesinitiativen sollten Rabatte wieder zugelassen werden, allerdings nur unter der Bedingung, dass diese direkt und vollumfänglich den Patienten zugute kommen müssen. Der mit der konkreten Neuformulierung des Gesetzestextes beauftragte Ständerat hatte die beiden Initiativen 2005 abgeschrieben, da sich durch direkte Verhandlungen zwischen Pharmaproduzenten und den Kantonen mittlerweile eine Rechtspraxis etabliert habe, welche die Spitalrabatte wieder zulasse
[14].
In der Kommission des Nationalrates setzte sich aber im Berichtsjahr die Auffassung durch, mit der Einigung zwischen den Herstellern und den Spitälern sei nur ein Teil des Problems gelöst worden. Die Lockerung der Bestimmung habe unter anderem auch dazu geführt, dass verschreibenden Ärzten vom Medikamentenversandhandel
Mengenrabatte und andere geldwerte Vorteile gewährt würden, welche der Transparenz entbehrten und zu einer Mengenausweitung führen könnten, weshalb es verfrüht wäre, diese Frage ad acta zu legen. Gegen eine Kommissionsminderheit aus SVP und FDP, die sich der Argumentation des Ständerates anschliessen wollte, folgte der Nationalrat der Mehrheit seiner Kommission und widersetzte sich mit 81 zu 67 Stimmen der Abschreibung. Der Ständerat beharrte auf der Abschreibung, weshalb es dabei bleibt; er nahm aber eine umfassendere Motion seiner SGK an, welche den Bundesrat beauftragt, eine Regelung vorzuschlagen, die Klarheit schafft über die Transparenz und das zulässige Ausmass von Rabatten, die im Rahmen der Verschreibung und Abgabe von Arzneimitteln und Medizinprodukten gewährt werden
[15].
Im Vorjahr hatte der Ständerat auf Antrag des Bundesrates nur jenen Punkt einer Motion Sommaruga (sp, BE) angenommen, der auch für die Festsetzung der
Preise von Generika den Vergleich mit den für die Bestimmung der Preise für Medikamente auf der kassenpflichtigen Spezialitätenliste beigezogenen Ländern verlangte. Diskussionslos stimmte nun auch der Nationalrat zu
[16].
Ständerat Eugen David (cvp, SG) forderte in einem Postulat dazu auf, die Wirtschaftlichkeit von teuren
Krebsmedikamenten zu überprüfen. Er kritisierte, dass der Preis eines Medikamentes auch dann nicht geändert wird, wenn sich der Umsatz vervielfacht hat. Das widerspreche grundlegenden ökonomischen Prinzipien. Weiter zeigte sich David besorgt, dass wegen der hohen Preise nicht mehr die ganze Bevölkerung von den Fortschritten in der Krebsforschung profitieren könnte. Der Bundesrat beantragte die Annahme des Postulats. Er sei sich der problematischen Preisentwicklung bei den Onkologika bewusst. Eine Analyse der Kosten der Herstellerfirmen sei deshalb notwenig. Je nach Ergebnis würden allfällige Massnahmen zur Preisdämpfung zu prüfen sein
[17].
Im Einverständnis mit dem Bundesrat nahm der Nationalrat ein Postulat Robbiani (cvp, TI) an, welches anregt, es sei zu veranlassen, dass die Hersteller von Medikamenten verpflichtet werden, die
Wirkstoffe und Hilfsmittel anzugeben, welche Allergien oder andere unerwünschte Wirkungen hervorrufen können. Dadurch würde die Heilmittelgesetzgebung der Lebensmittelgesetzgebung angeglichen
[18].
Das neue System zur Abgeltung der Leistungen in Apotheken kann im Januar 2007 eingeführt werden. Der Bundesrat genehmigte Ende Jahr den
Tarifvertrag zwischen Apothekerverband und Krankenversicherern, forderte aber Verbesserungen. Auch nach dem neuen Modell müssen die Patientinnen und Patienten für die Beratung bezahlen. Die Stiftung für Konsumentenschutz und der Preisüberwacher kritisierten dies. Bundesrat Couchepin verteidigte die Abgabe vor den Medien: Es sei wichtig, dass die Apotheken Teil der Qualitätskontrolle seien. Neu wird die bisherige Patienten-Pauschale durch eine Abgabe ersetzt, die pro Medikamentenbezug anfällt. Diese Regelung biete Verbesserungen für Patienten, die selten ein Medikament benötigten. Der Bundesrat habe die Tarifpartner jedoch aufgefordert, das System nochmals eingehender zu beleuchten und die Vertragsgenehmigung bis Ende 2008 befristet
[19].
Zum ersten Mal veröffentlichte das BFS eine
Statistik über die medizinisch unterstützte Fortpflanzung. In den Jahren 2002 bis 2004 liessen sich im Durchschnitt pro Jahr 3600 Frauen mit einer Methode der künstlichen Befruchtung behandeln. Bei einem Drittel dieser Frauen führte die In-vitro-Fertilisation zu einer Schwangerschaft. Bei etwa zwei Dritteln der so entstandenen Schwangerschaften kam es zu einer Geburt
[20].
Wie kaum anders zu erwarten war, stützten die beiden zur
Standortfrage der hochspezialisierten Medizin in Auftrag gegebenen Gutachten die Sicht der jeweiligen Mandanten. Die „Berner“ Expertise vertrat die Auffassung, dass in der Schweiz nicht nur zwei Universitätskliniken (Zürich und Lausanne) modernste Spitzenmedizin, insbesondere Transplantationen, anbieten sollen, sondern auch Bern, Basel und Genf, wobei sich die fünf Spitäler in einem oder zwei Netzwerken zusammenschliessen müssten, um auszuhandeln, wer welchen Eingriff durchführt. Das „Zürcher“ Gutachten kam zum entgegengesetzten Schluss und empfahl eine Zentralisierung auf zwei Standorte
[21].
Nach mehrjähriger Vorarbeit schickte der Bundesrat im Februar
einen Verfassungsartikel und einen Gesetzesentwurf in die Vernehmlassung, welche die Forschung am Menschen erstmals umfassend regeln. Das primäre Ziel des Gesetzes ist der Schutz der Würde und der Persönlichkeit. Es regelt so heikle Bereiche wie die Forschung an Kindern, Schwangeren und Embryonen im Mutterleib. Embryonen in vitro fallen nicht unter den Geltungsbereich des Gesetzes; für diese gelten weiterhin die Regeln des Stammzellenforschungsgesetzes, welche unter anderem das therapeutische Klonen verbieten. Versuche an Personen, die selber nicht urteilsfähig sind, sollen zugelassen sein, aber mit Auflagen. Hier unterscheidet der Gesetzesentwurf klar zwischen Eigen- und Fremdnutzen, d.h. die Auflagen sind weniger streng, wenn es beispielsweise um die Erforschung von Erbkrankheiten innerhalb einer Familie geht, als wenn die Wissenschaftler dabei ein übergeordnetes Forschungsprojekt verfolgen. Erstmals geregelt wird auch die Forschung an Verstorbenen, wobei es analog zur Entnahme von Organen der Zustimmung des Betroffenen zu Lebzeiten bedarf resp. der Einwilligung seiner nächsten Angehörigen. Das Gesetz regelt zudem den Umgang mit menschlicher Herkunft, wie etwa den Zugang zu Biobanken. Ethikkommissionen müssen die wissenschaftliche Qualität von Forschungsprojekten prüfen. Schliesslich sieht der Gesetzesentwurf die Schaffung eines Forschungsregisters vor, in dem alle Studien und Ergebnisse aufgeführt werden müssen
[22].
Die
Nationale Ethikkommission (NEK) hatte kurz zuvor ihre
Stellungnahme zum geplanten Gesetz veröffentlicht. Der Schutz von keimendem menschlichem Leben und von betroffenen Frauen in ihrer Verletzbarkeit gegenüber Fremdinteressen ist das Grundanliegen der Kommission. Dem Embryo gebühre Schutzwürdigkeit, seine Würde nehme jedoch erst mit seiner Entwicklung graduell zu. Heilversuche an Ungeborenen seien äusserst streng zu beurteilen. Die Kommission hält „verbrauchende“ Embryonenforschung (Untersuchungen, die eine gesunde Weiterentwicklung des Embryos gefährden oder verunmöglichen) für zulässig, jedoch nur an überzähligen Embryonen aus der künstlichen Befruchtung im Blastozytenstadium (bis zu sechs Tage alt). Das therapeutische Klonen will die NEK zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erlauben, wobei dem Vernehmen nach nur eine Minderheit der Kommission dies aus grundsätzlichen Überlegungen ablehnte
[23].
[1]
Lit. OECD;
CHSS, 2007, S. 38-43 (ausführliche Zusammenfassung); Presse vom 20.10.06. Zur KVG-Revision siehe unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung).
[2] Presse vom 12.4.06. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR zu einer Ip. Darbellay (cvp, VS):
AB NR, 2006, S. 495.
[3]
AB NR, 2006, S. 211; siehe
SPJ 2005, S. 182. Der NR nahm im Einverständnis mit dem BR ein Postulat Heim (sp, SO) an, das ihn auffordert, Modelle positiver Anreize zur Förderung der Qualitätssicherung in der ambulanten und stationären Gesundheitsversorgung sowie die dafür notwendigen rechtlichen Grundlagen zu prüfen (
AB NR, 2006, S. 490).
[6] Presse vom 16.12.06. Siehe auch die Beantwortung einer Frage bezüglich E-Health im NR (
AB NR, 2006, S. 1745). Ebenfalls mit Zustimmung des BR wurde ein Postulat Stump (sp, AG) überwiesen, das die Regierung ersucht, die Grundlagen für einen optimalen Einsatz von Telemedizin zu schaffen und die entsprechenden Berichte erarbeiten zu lassen (
AB NR, 2006, S. 490).
[7]
AB NR, 2006, S. 767 f. Für die Versichertenkarte vgl.
SPJ 2004, S. 194 f. Für Datenschutzprobleme im Gesundheitsbereich siehe die Antwort des BR auf eine noch nicht behandelte Ip. aus dem NR (Geschäft 06.3040);
TA, 2.2.06.
[8]
BBl, 2006, S. 5605 ff.;
AB NR, 2006, S. 1185 f. und 1606;
AB SR, 2006, S. 674 f. und 926;
AS, 2006, S. 4137 f.
[9]
AB NR, 2006, S. 1663 ff.;
AB SR, 2006, S. 1090 ff. Siehe dazu auch die Stellungnahmen des BR zu einer Ip. im SR (
AB SR, 2006, S. 479), zu einer Ip. im NR (
AB NR, 2006, S. 2037) sowie zu zwei Fragen im NR (
AB NR, 2006, S. 158 und 310).
[10] Presse vom 21.2.07. Zur Entwicklung in der Schweiz zwischen 1960 und 2000 siehe
SPJ 2003, S. 206.
[11]
BBl, 2006, S. 7591 ff.; Presse vom 31.8.06. Die GPK des NR beschloss, die Umstände zu überprüfen, die 2005 zum umstrittenen Entscheid von BR Couchepin geführt hatten, fünf komplementärmedizinische Methoden wieder aus dem Leistungskatalog der Grundversicherung nach KVG zu nehmen (Presse vom 9.11.06). Siehe
SPJ 2005, S. 183.
[12] Presse vom 3.4.2006. Siehe dazu die Stellungnahme des BR zu einem (zurückgezogenen) Postulat Sommaruga (sp, BE) (Geschäft 06.3354) sowie zu einem noch nicht behandelten Postulat Humbel Näf (cvp, AG) und zu einer Ip. im NR (Geschäfte 06.3357 und 06.3166).
[13] Presse vom 20.10. und 21.11.06. Siehe dazu auch die Antwort des BR auf eine noch nicht behandelte Ip. im NR (Geschäft 06.3041). Da er sich der Probleme bei Swissmedic durchaus bewusst war, stimmte der BR einem Postulat der SGK-NR zu, das von ihm einen Bericht über die Zulassungspraxis des Instituts verlangt (
AB NR, 2006, S. 1575). Zu Fragen des Patentrechts und von Parallelimporten siehe oben, Teil I, 4a (Wettbewerb) sowie die Antwort des BR auf eine Frage im NR (
AB NR, 2006, S. 1748).
[14]
AB SR, 2005, S. 595 ff. Siehe
SPJ 2004, S. 174 f.
[15]
AB NR, 2006, S. 418 ff.;
AB SR, 2006, S. 1123 ff.
[16]
AB NR, 2005, S. 211. Siehe dazu auch die Antwort des BR auf eine Interpellation im SR (
AB SR, 2006, S. 725). Vgl.
SPJ 2006, S. 184.
[17]
AB SR, 2006, S. 966.
[18]
AB NR, 2006, S. 1575.
[19] Presse vom 22.12.06.
[21] Presse vom 22.11. und 16.12.06. Siehe
SPJ 2005, S. 185 f.
[22] Presse vom 2.2.06. Siehe
SPJ 2005, S. 186.
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