Année politique Suisse 2010 : Grundlagen der Staatsordnung / Rechtsordnung
Strafrecht
Ende Juni gab der Bundesrat verschiedene Vorschläge zu einer
Revision des Strafrechtes in die Vernehmlassung. Er beurteilte insbesondere die 2007 eingeführte Geldstrafe, die damals die kurze Freiheitsstrafe ersetzt hatte, als wenig wirksam. Geldstrafen sollen deshalb künftig nur noch unbedingt ausgesprochen und die kurze Freiheitsstrafe (ab 3 Tage) wieder eingeführt werden. Um Gefängnisüberbelegungen zu vermeiden, sollen die Kantone den elektronisch überwachten Vollzug anwenden oder Strafen in Form von gemeinnütziger Arbeit aussprechen können. Zudem schlägt die Regierung eine Erhöhung der Altersgrenze im Jugendstrafgesetz von 22 auf 25 Jahre und die Revision der Bestimmungen zur Landesverweisung vor. Weiter soll der Tatbestand des Inzests, der kaum noch festgestellt wird, aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden, da er über den Tatbestand des Missbrauchs strafrechtlich nach wie vor erfasst werde. Für einigen Unmut sorgte ein Interview mit Bunderichter Wiprächtiger, der die Einschätzung des Bundesrats über die Unwirksamkeit von bedingten Geldstrafen nicht teilt und der Regierung vorwarf, sich politischem Druck zu beugen. Die Reaktionen der Kantone und der Parteien waren gespalten. Während die SP sich zur geplanten Wiedereinführung der kurzen Freiheitsstrafen kritisch äusserte, waren die Neuerungen der SVP zu wenig scharf. Die Grünen zeigten sich hingegen überzeugt, dass die Deliktzahl durch strengere Strafen nicht sinken würde. Die Bürgerlichen äusserten ihren Unmut über die Abschaffung des Inzests als Straftatbestand
[25].
Die bereits 2009 von der grossen Kammer angenommene Motion Joder (svp, BE), die eine
Verschärfung des Strafrechtes bei vorsätzlicher Körperverletzung verlangt, wurde in der Herbstsession auch vom Ständerat überwiesen. Somit liess auch die kleine Kammer das Argument des Bundesrats nicht gelten, dass der Strafrahmen eigentlich gross genug sei, von den Gerichten aber nicht immer ausgeschöpft werde
[26].
Im August kündigte ein Komitee aus der Deutschschweiz die Lancierung einer Initiative an, welche die
Todesstrafe für Sexualstraftaten mit Todesfolge fordert. Obschon das Begehren bereits einen Tag nach der offiziellen Registrierung durch die Bundeskanzlei wieder zurückgezogen wurde, wirbelte das Anliegen viel Staub auf
[27].
Die 2009 bereits vom Nationalrat angenommene Motion Fiala (fdp, ZH), die eine
Verschärfung des Strafrahmens für Kinderpornographie forderte, stiess auch im Ständerat auf Unterstützung. Die kleine Kammer anerkannte das Argument der Motionärin, dass das Internet die Verbreitung, den Konsum und die Herstellung von Kinderpornographie befördere. Allerdings wandelte der Ständerat die Motion in einen Prüfungsantrag um. Der Nationalrat akzeptierte diese Änderung und auch der Bundesrat, welcher der Motion zuerst skeptisch begegnet war, erklärte sich bereit, die Motion als Prüfungsantrag zu unterstützen
[28].
Im Berichtsjahr standen nach wie vor die Bekämpfung bzw. Schaffung von Instrumenten zur Ermittlung von Internetkriminalität im Vordergrund. Der Ständerat nahm den Entwurf des Bundesrats zur Umsetzung des Übereinkommens des Europarates über die
Cyberkriminalität einstimmig an. Das internationale Übereinkommen richtet sich gegen die Computer- und Netzwerkkriminalität. Damit erübrige sich aber laut der Kleinen Kammer die Motion Darbellay (cvp, VS), die eine rasche Ratifizierung des Übereinkommens verlangt hat und vom Nationalrat in der Frühjahrssession angenommen wurde
[29].
Obwohl der Bundesrat auf das Vorliegen vieler ähnlicher Vorstösse hinwies, nahm die kleine Kammer in der Herbstsession eine Motion Bischofberger (cvp, AI) an, die mehr Effizienz in den Bereichen
Jugendmedienschutz und Bekämpfung der Internetkriminalität verlangt
[30].
Der Ständerat folgte dem Nationalrat und überwies die Motion Glanzmann (cvp, LU) für eine
Registrierungspflicht bei Wireless-Prepaid-Karten für Mobiltelefone ebenfalls. Diese Prepaid-Karten erlauben es im Prinzip, auf verbotene Internetinhalte zuzugreifen, ohne dass der Nutzer im Netz Spuren hinterlässt, die sich zurückverfolgen lassen. Aus diesem Grund soll eine Gesetzesgrundlage für eine Registrierungspflicht für Wireless-Prepaid-Karten geschaffen werden. Bei der Prüfung dieser Motion machte die Kommission für Rechtsfragen allerdings geltend, dass sie nur einen Teil des Problems anspreche und der Anonymität von Internetcafés damit nicht begegnet werden könne. Es müsse nach technischen und rechtlichen Lösungsansätzen gesucht werden, die dieses Problem beheben könnten. Die ständerätliche Kommission arbeitete in der Folge ein Postulat aus, das vom Bundesrat die Ausarbeitung einer Strategie zur Ermittlung von Internetstraftätern fordert. Vom Bundesrat unterstützt, wurde es von der kleinen Kammer überwiesen
[31].
Mit der Ablösung des Bundesgesetzes über die verdeckte Ermittlung durch die neue Strafprozessordnung am 1. Januar 2011 entsteht eine Gesetzeslücke, die es der Polizei nicht mehr erlaubt, verdeckte
präventive Fahndungen vorzunehmen. Weil verdeckte Ermittlungen nur noch bei konkretem Tatverdacht möglich sind, wird die Polizei eines wirksamen Instruments für die Bekämpfung von Internetkriminalität beraubt. Verschiedene Kantone reagierten mit einer Ergänzung des Polizeigesetzes. Im Dezember wurde deshalb von einigen Kantonen angeregt, die Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität, die bisher bei der Bundespolizei angesiedelt war, der Polizeiverordnung des Kantons Schwyz zu unterstellen, weil der Innerschweizer Kanton eine entsprechende Ergänzung in die gewünschte Richtung vorgenommen hatte. Da die Koordinationsstelle nun im Auftrag des Kantons Schwyz handelt, bleibt beispielsweise die verdeckte Fahndung nach Pädophilen im Internet weiterhin möglich
[32].
Ende 2010 legte das BFS zum zweiten Mal den
Jahresbericht der polizeilichen Kriminalstatistik vor, der dank der einheitlichen Erfassung aller Kantone vergleichbare detaillierte Aussagen zulässt. Gemäss Bericht wurden im Jahr 2010 429 324 Fälle mit 656 858 Straftaten gemeldet. Damit ging die Anzahl angezeigter Straftaten im Vergleich zum Vorjahr um 2% zurück
[33].
In der Wintersession überwies der Nationalrat ein Postulat Segmüller (cvp, LU), das den Bundesrat auffordert, einen
Bericht zur öffentlichen Sicherheit zu verfassen. Neben der Erfassung der Gewalt in der Schweiz soll der Bericht auch Strategien für die Prävention und Bekämpfung von Kriminalität in Form eines Massnahmenkatalogs enthalten. Der Bundesrat beantragte die Annahme des Vorstosses
[34].
Der Ständerat nahm zwei der drei Motionen zur internationalen Rechtshilfe an, die vom Nationalrat bereits 2009 überwiesen worden waren. Die Annahme einer Fraktionsmotion der FDP sowie der Motion Bischof (cvp, SO), die – im Zusammenhang mit der Auslieferung der Kundendaten der UBS an die USA – beide eine
Beschleunigung der internationalen Rechtshilfeverfahren forderten, war unbestritten. Die Motion der BDP, die eine Revision des Rechtshilfegesetzes verlangte, wurde hingegen abgelehnt mit der Begründung, dass die Anpassungen im Bereich der Amtshilfe abgewartet werden sollen
[35].
Die Räte befanden 2010 über das
Bundesgesetz über die Rückerstattung unrechtmässig erworbener Vermögenswerte politisch exponierter Personen, das aufgrund eines Postulats Gutzwiller (fdp, ZH) aus dem Jahr 2007 verfasst wurde. Die bisherige Praxis zur Abwehr unerwünschter Vermögenswerte stützte sich auf das Geldwäscherei- und das Rechtshilfegesetz. Das bisherige Rechtshilfeverfahren griff allerdings in Staaten ohne rechtsstaatliche Strukturen ins Leere und der Bundesrat musste sich bisher bei der Sperrung von Geldern auf eine Verordnung stützen. Mit dem neuen Gesetz sollte die Grundlage geschaffen werden, mit der Gelder ohne strafrechtliche Verfolgung eingezogen werden und der Bevölkerung des Herkunftsstaats zurückerstattet werden können. Der Ständerat stimmte dem Entwurf des Bundesrats mit zwei Ergänzungen zu, die zum einen die Sperrdauer für die Vermögenswerte verlängern und zum anderen als Ziel der Rückerstattung nicht nur die Verbesserungen der Lebensbedingungen der Bevölkerung, sondern auch die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit festlegten. Im Nationalrat hatte der Nichteintretensantrag der SVP keine Chance. In der anschliessenden Debatte wurden Minderheitsanträge sowohl der Ratslinken, die NGOs stärker einbinden wollte, wie auch der Ratsrechten, der das Gesetz insgesamt zu weit ging, abgelehnt. Im Ständerat wurde das Gesetz einstimmig und im Nationalrat mit 161 zu 32 Stimmen verabschiedet. Es soll bereits Anfang 2011 Anwendung finden, um das blockierte Vermögen des haitianischen Ex-Diktators
Duvalier dem von einem schweren Erdbeben heimgesuchten Inselstaat zurückzugeben
[36].
Für viel Wirbel sorgte im Berichtsjahr die
Affäre Polanski. Der Regisseur war im September 2009 in Auslieferungshaft genommen worden, weil gegen ihn aufgrund einer 1978 begangenen Vergewaltigung einer Minderjährigen in den USA ein Haftbefehl bestand. Nach Hinterlegung einer Kaution wurde die Haft in Hausarrest umgewandelt, Die USA stellte in der Folge ein Auslieferungsgesuch, dem der Bundesrat aber im Juli einen abschlägigen Entscheid erteilte. Bundesrätin Widmer-Schlumpf begründete den Entscheid mit Mängeln im Auslieferungsbegehren
[37].
Der Nationalrat folgte dem Antrag seiner Kommission für Rechtsfragen nicht, die einer
Petition des Verbandes Schweizerischer Polizeibeamter keine Folge geben wollte. Die Petenten fordern Verschärfungen im Strafgesetzbuch, um der zunehmenden Gewalt gegen Polizeibeamte entgegenzuwirken. Die grosse Kammer wies die Petition an die Kommission zurück, mit dem Auftrag, einen entsprechenden Vorstoss auszuarbeiten
[38].
Die 2009 vom Nationalrat angenommene Motion Segmüller (cvp, LU), die einen von Kantonen und Bund koordinierten
Ausbau des Bestandes der Polizeikräfte forderte, wurde vom Ständerat abgelehnt. Die kleine Kammer folgte – mit einem knappen Stimmenmehr (18 zu 14 Stimmen) dem Argument des Bundesrates, dass es sich hier um eine rein kantonale Aufgabe handle
[39].
Die Geschäftsprüfungskommission des Ständerates legte einen Bericht zur
Einsatzgruppe Tigris vor, einer kleinen Einheit von 14 Personen, die in einem eng definierten Bereich gerichtspolizeiliche Aufgaben der Bundeskriminalpolizei (BKP) übernimmt, aber keine Interventionsgruppe analog zu den kantonalen Elite-Eingreiftruppen ist. Gestützt auf ihren Bericht empfiehlt die ständerätliche GPK den Entwurf eines Bundespolizeigesetzes. In seiner Stellungnahme zum GPK-Vorschlag verweist der Bundesrat auf die laufende
Vernehmlassung des Bundesgesetzes über polizeiliche Aufgaben des Bundes (PolAG). Dieses stiess allerdings auf teilweise massive Kritik. Zwar wurde die Idee der Vereinheitlichung geltenden Rechts begrüsst, insbesondere die Ermöglichung der Sammlung von Personendaten zwecks Erkennung und Bekämpfung des organisierten Verbrechens wurde aber beanstandet. Ein weiteres Problem stellt die Zusammenarbeit zwischen Grenzwacht und Polizei dar. Im Rahmen des Schengen-Abkommens übernimmt das Grenzwachtkorps immer häufiger auch polizeiliche Aufgaben, was nicht nur in Polizeikreisen auf Kritik stösst
[40].
Über das Bundesgesetz über die Sicherheitsorgane der Transportunternehmungen im öffentlichen Verkehr berichten wir unten, Teil I, 6b (Chemin de fer).
Zur Anpassung der Bestimmungen über die Strafbehörden des Bundes an die neue schweizerische Strafprozessordnung und zur Reorganisation der Aufsicht über die Bundesanwaltschaft siehe unten, Teil I, 1c (Gerichte).
Der Ständerat nahm eine Motion Frick (cvp, SZ) an, die eine
Vereinfachung des administrativen Verfahrens bei Bagatelldelikten anstrebt. Sie beauftragt den Bundesrat abzuklären, welche einfachen Gesetzesverstösse unter das Regime eines Ordnungsbussenverfahrens fallen könnten statt wie bisher in aufwändigen und teuren Strafverfahren abgehandelt werden zu müssen
[41].
Im Berichtsjahr hatte der Ständerat noch einige Vorstösse des Nationalrats zu behandeln, welche die grosse Kammer im Rahmen der Sondersession zur Kriminalität und zur Verschärfung des Strafrechts im Jahr 2009 eingereicht hatte. Die kleine Kammer blieb der Linie, die sie bereits Ende 2009 eingeschlagen hatte treu. Zwar wurde anerkannt, dass das Sanktionssystem im Strafgesetzbuch nicht durchgängig befriedigend sei. Anstelle von vorschnellen Detailkorrekturen müsse aber eine umfassende Revision angestrebt werden. Die meisten 2009 im Nationalrat eingereichten Motionen hatte der Ständerat deshalb bereits in der Wintersession in Prüfungsanträge umgewandelt oder abgelehnt. Entsprechend hatten im Berichtsjahr die beiden Motionen Rickli (svp, ZH), welche eine
Erhöhung des Strafmasses bei Vergewaltigungen sowie ein
höheres Strafmass für die Vergewaltigung von Kindern verlangten, im Ständerat keine Chance. Sowohl der Ordnungsantrag, die Motionen an die Kommission zurückzuweisen als auch die beiden Motionen selbst wurden abgelehnt. Das gleiche Schicksal ereilte die Motion Stamm (svp, AG), die eine
unmittelbare Haft- und Freiheitsstrafe forderte, wenn der Täter auf frischer Tat ertappt worden und deshalb zweifelsfrei bekannt gewesen wäre
[42].
Allerdings überwies die kleine Kammer zwei weitere in der erwähnten Sondersession vom Nationalrat angenommene Motionen (Darbellay, cvp, VS und Stamm, svp, AG), die über bilaterale Abkommen, insbesondere mit Balkanstaaten, den
Strafvollzug von Ausländern in den jeweiligen Herkunftsländern ermöglichen soll
[43].
Der Bundesrat reagierte auf die politischen Forderungen nach Verschärfungen im Strafrecht. In der Anfang September in die Vernehmlassung geschickten Vorlage zur
Harmonisierung der Strafrahmen etwa wird eine Anhebung der Höchststrafe bei vorsätzlicher schwerer Körperverletzung auf zwei Jahre und von fahrlässiger Tötung von drei auf fünf Jahre vorgeschlagen. Eine zweite Vorlage nimmt das Anliegen der im Frühjahr von der Opferhilfeorganisation Roadcross lancierten Raserinitiative auf, das Freiheitsstrafen für Autoraser verlangt
[44].
Das Bundesgericht hat im Berichtsjahr entschieden, den Grundsatz zu streichen, nach dem automatisch
Strafminderung erhält, wer zuvor noch nie straffällig geworden ist. Lediglich in Ausnahmefällen solle diese Praxis noch angewandt werden
[45].
Die beiden Motionen Galladé (sp, ZH), die verlangen, dass die Altersobergrenze für
erzieherische und therapeutische Massnahmen im Jugendstrafrecht wieder von 22 auf 25 erhöht wird und die vom Nationalrat bereits im Sommer 2009 überwiesen worden waren, fanden auch in der kleinen Kammer Zustimmung, nachdem Jugendanwälte und -strafrichter in diesem Punkt die Rückkehr zum alten Jugendstrafrecht befürwortet hatten
[46].
Die im Sommer 2009 vom Nationalrat angenommene Motion Fiala (fdp, ZH), welche einen besonderen Strafbestand
Stalking forderte, wurde vom Ständerat in der Herbstsession abgelehnt. Die kleine Kammer folgte damit dem Argument des Bundesrats, dass Nachstellung bereits strafrechtlich geregelt sei
[47].
Der Ständerat hatte 2009 die vom Nationalrat angenommene Motion Heim (sp, SO) in einen Prüfungsantrag umgewandelt. Die Motion hatte eine Verschärfung der Gesetzesbestimmungen gegen
häusliche Gewalt und insbesondere die unwiderrufliche Wiederaufnahme der Strafuntersuchung bei einem Rückfall des Täters verlangt. Der Nationalrat war mit der Überweisung als Prüfungsauftrag einverstanden
[48].
Die Kantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt reichten eine Standesinitiative ein, welche die Schaffung einer gesetzlichen Grundlage für einen definitiven Einsatz von
elektronischen Fussfesseln verlangt. Der Bundesrat hatte bereits 1999 eine entsprechende Ausnahmeregelung für Versuche in den Kantonen Basel-Stadt, Bern, Genf, Solothurn, Tessin und Waadt bewilligt. Fussfesseln für gewalttätige Partner fordert auch eine vom Nationalrat angenommene Motion Perrin (svp, NE). Die elektronische Überwachung von Gewalttätern soll insbesondere Frauen vor häuslicher Gewalt schützen
[49].
Der Nationalrat überwies ein Postulat Rickli (svp, ZH), welches den Bundesrat dazu auffordert, die
Kosten des Strafvollzugs in der Schweiz zu evaluieren. Obwohl die Regierung den Aufwand für einen solchen Bericht als erheblich einstuft, weil der Straf- und Massnahmenvollzug kantonal geregelt sind und deshalb eine kohärente Gesamtschau nur in enger Zusammenarbeit mit den Kantonen möglich sei, akzeptierte sie, dass ein solcher Bericht durchaus einem allgemeinen Interesse entspreche und beantragte deshalb die Annahme des Postulats
[50].
Für Kontroversen sorgte der Protest des Walliser Hanfbauern Bernard
Rappaz, der mit einem rund hunderttägigen Hungerstreik einen Unterbruch seines Strafvollzugs erzwingen wollte. Die Frage, ob ein bewusstloser sich im
Hungerstreik befindender Häftling
zwangsernährt werden dürfe, beschäftigte Ethik- und Rechtsexperten, aber auch die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren. Auch der Entscheid von Regierungsrätin Kalbermatten (VS, sp), die Haftstrafe aufgrund der Weigerung der Ärzte im Berner Inselspital, Rappaz unter Zwangsernährung zu stellen, in einen Hausarrest umzuwandeln, warf hohe Wellen. Das Bundesgericht wies Rappaz‘ Gesuch auf Haftunterbruch am 26. August schliesslich zurück und leitete aus der polizeilichen Gewaltklausel eine Billigung der Zwangsernährung als letztes legitimes Mittel zum Schutz von Leib und Leben ab. In der Urteilsbegründung wandte sich das Gericht auch gegen ethische Bedenken von Ärzten. Mehrere Bundesrichter forderten das Parlament daraufhin auf, eine einheitliche gesetzliche Grundlage für den Umgang mit Zwangsernährung zu schaffen. Nachdem Rappaz wieder in Haft genommen wurde, trat er erneut in den Hungerstreik. Im November weigerten sich die Ärzte des Genfer Unispitals jedoch, eine Zwangsernährung einzuleiten. Der Walliser Grosse Rat lehnte ein Gnadengesuch Rappaz‘ ab und das Bundesgericht verweigerte ein drittes Mal einen Antrag auf Haftunterbuch. Der Europäische Menschengerichtshof, der den Fall auf Antrag des Hanfbauern untersuchen will, forderte ein Ende des Hungerstreiks. Dieser Forderung kam der Walliser am 24.12. nach. Gleich zwei CVP-Bundesparlamentarier aus dem Kanton Wallis reagierten im Berichtsjahr auf den Vorfall. Roberto Schmidt reichte eine Motion ein und Viola Amherd verfasste eine parlamentarische Initiative. Beide Vorstösse fordern eine einheitliche Regelung im Umgang mit Zwangsernährung
[51].
Der Bundesrat konkretisierte die
Unverjährbarkeitsinitiative und schickte den Entwurf im Mai in die Vernehmlassung. Das 2008 angenommene Volksbegehren fordert, dass Sexualverbrechen an Kindern nicht verjähren können. Umstritten an der Umsetzung war die Altersgrenze. Der Bundesrat setzte diese bei zehn Jahren an, also zum Zeitpunkt, zu dem nach Einschätzung medizinischer Experten die Pubertät beginnt. Die Verfasser der Initiative forderten jedoch 14 Jahre als Altersgrenze. Das Problem der Rückwirkung regelte der Bundesrat so, dass Unverjährbarkeit für all jene Vergehen gelten solle, die zum Zeitpunkt der Annahme der Initiative noch nicht verjährt waren. Hier hatten die Initiantinnen die rechtlich heikle Forderung nach Rückwirkung für alle sexuellen Handlungen an Kindern gefordert. Die Parteien stimmten den Vorschlägen des Bundesrates in der Vernehmlassung mehrheitlich zu. Einzig die SVP lehnte den Entwurf ab und forderte eine Altersgrenze von 16 Jahren
[52].
Der Nationalrat war bezüglich der Schaffung eines
nationalen Registers für verurteilte Pädophile bzw. für Sexual- und schwere Gewalttäter gespalten. Bereits 2009 hatte die grosse Kammer einer entsprechenden Motion Rickli (svp, ZH) äusserst knapp mit 88 zu 87 Stimmen zugestimmt. Eine ähnliche lautende parlamentarische Initiative der Zürcher SVP-Politikerin wurde im Berichtsjahr wieder nur knapp angenommen (89:80). Beide Vorlagen wurden vom Ständerat dann allerdings abgelehnt mit der Begründung, dass bereits genügend Informationen in alternativen Registern vorhanden seien und dass die Vorstösse aufgrund ihres Diskriminierungspotenzials zu weit gingen
[53].
Der Ständerat lehnte im Berichtsjahr eine Erhöhung der Mindeststrafe von fünf Jahren Haft bei
Gruppenvergewaltigungen ab, wie sie von einer parlamentarischen Initiative der SVP verlangt wurde, die noch 2009 vom Nationalrat angenommen worden war. Damit folgte die kleine Kammer ihrer Rechtskommission, die argumentierte, dass Gerichte über einen Entscheidungsspielraum verfügen müssen, um sämtlichen Umständen eines Falls Rechnung zu tragen
[54].
Die ständerätliche Kommission für Rechtsfragen folgte dem Ansinnen des Bundesrats und modifizierte die 2009 vom Nationalrat überwiesene Motion Aubert (sp, VD). Die vom Bundesrat auszuarbeitende allgemeine
Meldepflicht für Misshandlungen und sexuelle Vergehen an Kindern soll neu klar umschriebene Ausnahmen zulassen. Die kleine Kammer nahm die veränderte Motion schliesslich diskussionslos an
[55].
Das
Alarmsystem bei Entführungen von Kindern soll laut der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren und dem Bundesamt für Polizei per 1. Januar 2011 funktionstüchtig sein. Die KKJPD testete im Berichtsjahr erfolgreich Massnahmen, die im Entführungsfall die rasche Information mit Radio und Fernsehen, Autobahn-Anzeigetafeln sowie Durchsagen an Flughäfen und Bahnhöfen zulassen. Zudem wurde mit den Mobilfunkanbietern ein SMS-Dienst ausgehandelt, über den allen freiwillig registrierten Handy-Besitzern Foto und Personenbeschreibung eines allfälligen Opfers zugesendet werden kann
[56].
Viel zu reden gab die Ausschaffungsinitiative der SVP, die zum Ziel hat, straffälligen Ausländern automatisch das Aufenthaltsrecht zu entziehen. Die Räte entschieden sich gegen eine Ungültigkeitserklärung und rangen sich nach langer Diskussion zu einem direkten Gegenentwurf durch, der die Schwere der Tat mitberücksichtigt. In der Volksabstimmung vom 28. November wurde die Initiative angenommen und der Gegenvorschlag verworfen. Im Dezember bildete Bundesrätin Sommaruga eine Arbeitsgruppe, die bis im Juni 2011 darlegen soll, wie die Initiative auf Gesetzesstufe umgesetzt werden soll. Eine ausführliche Berichterstattung zur Initiative folgt unten im Kapitel zur Ausländerpolitik (Teil I, 7d).
Die kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren regten ein Konkordat an, welches das Verhängen von
schweizweiten Rayonverboten ermöglichen soll. Erhält ein Hooligan Rayonverbot, darf er sich nicht mehr in der Nähe von Sportstätten aufhalten. Ein solches Verbot galt bisher nur für genau definierte Regionen und soll neu schweizweit Geltung haben. Gewalttätige Fans werden im Polizeiinformationssystem Hoogan eingetragen. Die Kontrollen der Verbote, die für drei Jahre gelten, sollen von den Fussball- und Eishockeyclubs vorgenommen werden. Mit einer Mustervereinbarung beschlossen die kantonalen Polizeidirektoren zudem, die Sportvereine zu mehr
Gewaltprävention zu verpflichten. Gefängniszellen im Stadion, verstärkter Polizeieinsatz und alkoholfreies Bier sollen helfen, die Sicherheit in den Sportstadien zu erhöhen. Die gegen das Konkordat eingereichten Beschwerden wurden vom Bundesgericht im Oktober und im November abgewiesen. Es machte geltend, dass die Bestimmungen nicht wie von den Beschwerdeführenden reklamiert, gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstossen, da Rayonverbote, Meldeauflagen und Polizeigewahrsam keinen strafrechtlichen Charakter hätten
[57].
Der Ständerat überwies in der Frühjahrssession zwei Motionen, die ein Verbot von
gewaltbeinhaltenden Computerspielen fordern. Während die Motion Hochreutener (cvp, BE) den Verkauf verbieten will, fordert die Motion Allemann (sp, BE) ein grundsätzliches Verbot der Herstellung, des Verkaufs und der Weiterverbreitung. Der Nationalrat hatte beide Motionen bereits 2009 angenommen. Alle Jungparteien hatten sich gegen ein Verbot ausgesprochen. Auch der Bundesrat hatte beide Motionen abgelehnt. Problematisch dürfte die Umsetzung eines Verbots insbesondere bei Online-Spielen werden
[58].
Der Bundesrat hat im Juni beschlossen, die Europaratskonvention zum
Schutze von Kindern vor sexueller Ausbeutung und sexuellem Missbrauch zu unterzeichnen. Hinsichtlich des Schutzalters geht die Konvention allerdings weiter als das bestehende Strafrecht in der Schweiz. Neu soll deshalb auch in der Schweiz die Inanspruchnahme sexueller Dienste von Sechzehn- bis Achtzehnjährigen strafbar sein. Die Motion Kiener-Nellen (sp, BE), die genau dies fordert und vom Nationalrat bereits 2009 gutgeheissen worden war, wurde deshalb auch im Ständerat angenommen
[59].
Das Bundesamt für Sport prüfte im Berichtsjahr im Auftrag von Bundesrat Maurer den Entwurf einer neuen gesetzlichen Regelung, mit welcher
Korruption auch in Sportverbänden verfolgt werden könnte. Da das geltende Strafgesetz keine Verfolgung von Sportverbänden vorsieht, konnte die Schweizer Justiz bis anhin trotz Verdachts nicht gegen den Weltfussballverband (FIFA) vorgehen
[60].
Der Nationalrat befasste sich in der Sommersession als Erstrat mit der im Februar 2009 mit 106 037 gültigen Unterschriften eingereichten
Waffenschutzinitiative. Die Initiative fordert, dass Waffenbesitz nur mit einem Bedarfs- und Fähigkeitsausweis gestattet ist, dass die Armeewaffen im Zeughaus statt zu Hause aufbewahrt werden und dass ein zentrales Waffenregister erstellt wird. Der Bundesrat hatte die Initiative bereits Ende 2009 zur Ablehnung empfohlen. In der Ratsdebatte wurden von den die Initiative befürwortenden Vertretern der SP und der Grünen insbesondere Sicherheitsaspekte vorgebracht. Es wurde argumentiert, dass ein Verbot der Aufbewahrung von (Armee-)Waffen zu Hause vor allem Tötungsdelikte aus dem Affekt, häusliche Gewalt oder Suizide vorbeugen könne. Darüber hinaus könne ein zentrales Waffenregister der Verbrechensbekämpfung dienen. Die Ratsmehrheit empfahl die Initiative allerdings mit dem Hinweis auf das aktuell genügende Waffengesetz zur Ablehnung. Krimineller Waffenmissbrauch könne mit einem Fähigkeitsausweis nicht verhindert werden und das Schützen- und Jagdwesen würden unnötig eingeschränkt. Den Initianten wurde von der Ratsrechten zudem vorgeworfen, mit ihrem Vorhaben eine Abschaffung der Armee auf Raten anzustreben. Die gleichen Argumente wurden auch im Ständerat diskutiert. Beide Räte empfahlen den Bürgern, die Initiative abzulehnen. Die geschlossen stimmende SP, die Grünen und die Grünliberalen unterlagen bei den Schlussabstimmungen rechtsbürgerlichen Mehrheiten, im Nationalrat mit 119 zu 69 und im Ständerat mit 30 zu 11 Stimmen. Lanciert wurde der Abstimmungskampf im Dezember des Berichtsjahrs. Bundesrätin Sommaruga musste gegen die Initiative und auch gegen ihre eigene Partei antreten, obwohl sie selbst als Ständerätin das Begehren noch unterstützt hatte
[61].
Im Juli wies eine an der Universität Zürich durchgeführte Studie auf einen engen Zusammenhang zwischen
Suizid und Verfügbarkeit von Waffen hin. Im Dezember wies das BFS Zahlen aus, die zeigten, dass Todesfälle durch Schusswaffen zwischen 2007 und 2008 von 291 auf 259 gesunken waren
[62].
Eine parlamentarische Initiative Reymond (svp, GE) wollte die im Rahmen der Schengen-Anpassung übernommene
EU-Waffenrichtlinie vereinfachen. Die Richtlinie sieht vor, dass alle ausländischen Personen, die in der Schweiz (und in allen anderen Schengen-Staaten) eine Waffe erwerben wollen, eine Wohnsitzbestätigung vorweisen müssen. Die Initiative Reymond wollte diese Regelung nur für Staatsangehörige von Schengen-Ländern, nicht aber für Ausländer anderer Staaten anwenden. Er scheiterte im Nationalrat allerdings mit seinem Vorhaben
[63].
[25]
AB SR, 2010, S. 869; siehe
SPJ 2009, S. 24; Presse vom 1.7.10; Interview mit Wiprächtiger: NLZ, 6.7.10; Reaktionen: TA, 7.7.10; Reaktionen der Parteien: NZZ, 30.10 und Presse vom 11.12.10.
[26]
AB SR, 2010, S. 869; siehe
SPJ 2009, S. 24.
[27] Presse vom 21. bis 26.8.10; siehe auch oben Teil I, 1a (Verfassung).
[28]
AB SR, 2010, S. 596 f.;
AB NR, 2010, S. 1927 f.; siehe
SPJ 2009, S. 24.
[29] AB SR, 2010, S. 1020 f. AB NR, 2010, S. 551 (Mo. Darbellay); siehe
SPJ 2009, S. 24 und auch unten Teil I, 8c (neue Kommunikationstechnologien); Internetkriminalität in der Presse: SoZ 24.01.10.
[30]
AB SR, 2010, S. 825 f.; zu ähnlichen Vorstössen siehe
SPJ, 2009, S. 24.
[31] Mo. Glanzmann:
AB SR, 2010, S. 356; siehe
SPJ 2009, S. 24; Po. RK-SR:
AB SR, 2010, S. 595.
[32] Presse vom 15.12.10.
[33] Zur Einführung der neuen Statistik vgl. Presse vom 23.2.10;
Lit. Bundesamt für Statistik.
[34]
AB NR, 2010, S. 2163.
[35]
AB SR, 2010, S. 595 f.; siehe
SPJ 2009, S. 25.
[36]
AB SR, 2010, S. 697 ff. und 1012;
AB NR, 2010, S. 1179 ff. und 1677;
BBl 2010, S. 3309 (Botschaft);
AB NR, 2007, S. 1713 (Gutzwiler); siehe
SPJ 2008, S. 26 und
SPJ 2007, S. 24; Duvalier:
NZZ, 14.9.10.
[37] Presse vom 8.1 bis 17.7.10.
[38]
AB NR, 2010, S. 1647 f. Zur Delegiertenversammlung des Verbandes und den Forderungen vgl. Presse vom 8.-12.6.10.
[39]
AB SR, 2010, S. 354 f.; siehe
SPJ 2009, S. 25.
[40]
BBl, 2010, S. 2391 (GPK) und 2399 (Stellungnahme BR); Presse vom 16.3.10.
[41]
AB SR, 2010, S. 1345.
[42] Mo. Rickli:
AB SR, 2010, S. 1026 ff.; siehe
SPJ 2009, S. 26; Mo. Stamm
AB SR 2010, S. 872.
[43] Beide Motionen:
AB SR, 2010, S. 868. Siehe
SPJ 2009, S. 26 f.
[46]
AB SR, 2010, S. 870. Siehe
SPJ 2009, S. 27;
SZ, 12.3.10.
[47]
AB SR, 2010, S. 869 f.; siehe
SPJ 2009, S. 27.
[48]
AB SR, 2009, S. 1306 f.;
AB NR, 2010, S. 130 f.; siehe
SPJ 2009, S. 27.
[49] Einreichung der Standesinitiative: Presse vom 10.9.10; zum Thema Fussfesseln:
NZZ, 29.1.,
SN 28.6.10; Mo. Perrin:
AB NR, 2010, S. 92 und
TA, 24.2.10.
[50]
AB NR, 2010, S. 2163.
[51] Presse vom 15.4 bis 25.12.10; Bundesgerichtsentscheid: Presse vom 27.8.10; Urteilsbegründung: Presse vom 26.10.10.
[52] Presse vom 27.5. und vom 6.10.10.
[53]
AB NR 2009, S. 1007 (Motion);
AB NR 2010, S. 1231 ff. (Initiative);
AB SR 2010, S. 1022 ff.; siehe
SPJ 2009, S. 27.
[54]
AB SR, 2010, 351 ff.; siehe
SPJ 2009, S. 27.
NLZ, 21.10.10.
[55]
AB SR, 2010, S. 1025; siehe
SPJ 2009, S. 27f.
[56]
TA, 2.3.10;
BaZ, 13.04.10.
[57]
BZ, 12.2, 13.2.10; Presse vom 17.4 und vom 9.7.10; Bundesgericht:
NZZ und
NLZ, 14.10. und 9.12.10.
[58]
AB SR, 2010, S. 355 ff.
TA, 18.3 und 19.3.10;
LT, 19.3.10; siehe
SPJ 2009, S. 29; vgl. auch unten, Teil I, 8c (Neue Kommunikationstechnologien).
[59]
AB SR, 2010, S. 1030 f. Siehe
SPJ 2009, S. 29.
[60] Presse vom 26.10.10.
[61]
AB NR, 2010, S. 1090 ff. und 1674;
AB SR, 2010, S. 757 ff. und 2009;
BBl 2010, S. 137 ff. und 6553 ff.; siehe
SPJ 2009, S. 29; Presse vom 29.7.10; zum militärischen Aspekt siehe unten, Teil I, 3 (Armement).
[62] Lit: Ajdacic-Gross und Presse vom 1.8. bis 6.8.10; BFS: Presse vom 29.12.10.
[63]
AB NR, 2010, S. 254 ff.; siehe
SPJ 2009, S. 30.
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