Année politique Suisse 2011 : Allgemeine Chronik / Schweizerische Aussenpolitik
Leitlinien
Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement gab im Berichtsjahr
das Bundesgesetz über die Kompetenz zum Abschluss völkerrechtlicher Verträge von beschränkter Tragweite und über die vorläufige Anwendung völkerrechtlicher Verträge in die Vernehmlassung. Dieser Gesetzesentwurf entstand aus zwei Motionen der Aussenpolitischen Kommission des Ständerats (APK-SR) und der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrats (WAK-NR), welche Anpassungen im Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetzes sowie im Parlamentsgesetz forderten. Als Folge daraus wäre der Bundesrat beim Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen in Zukunft eingeschränkt, respektive könnte diese nur auf Ermächtigung abschliessen
[1].
Die
Demokratiebestrebungen in Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens war auch im Parlament ein Thema. Sowohl der Ständerat als auch der Nationalrat führten im Frühling eine Grundsatzdebatte und diskutierten verschiedenste Vorstösse zur Flüchtlingspolitik und zur Soforthilfe für die betroffenen Menschen vor Ort. Ebenfalls debattiert wurde über eine Sperrung der Vermögenswerte von Regierungsvertretern gewisser nordafrikanischer Länder. Die verschiedenen Vorlagen werden im Abschnitt bilaterale Beziehungen unten sowie in Teil I, Kapitel 7d (Flüchtlingspolitik) ausführlich diskutiert
[2].
Die Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) lancierte im August eine eidgenössische Volksinitiative mit dem Titel „
Für eine neutrale, weltoffene und humanitäre Schweiz (Neutralitätsinitiative)“. Diese zielt darauf ab, die Neutralität explizit in der Bundesverfassung festzuschreiben. Durch die angestrebte Verfassungsänderung sollen zudem Auslandeinsätze nur noch im Rahmen der Katastrophenhilfe möglich sein
[3].
Die Motion Darbellay (cvp, VS), welche verlangt, dass bei offiziellen Anlässen der Schweiz im Ausland oder bei Einladungen der Schweizer Botschaften
Schweizer Wein ausgeschenkt werden soll, wurde im Berichtsjahr im Ständerat behandelt. Der Nationalrat hatte der Vorlage im Vorjahr zugestimmt. Der Zweitrat schwächte die Motion dahingehend ab, dass keine Pflicht zum Ausschank von Schweizer Weinen besteht, sondern die Schweizer Vertretungen im Ausland nur zur Verwendung dieser Produkte angehalten werden. Im Namen der APK-SR argumentierte Ständerat Fournier (cvp, VS), dass es je nach Anlass durchwegs auch angemessen sei, Spezialitäten des Gastlandes zu verwenden. Der Änderung durch die kleine Kammer stimmte der Nationalrat in der Wintersession zu. Die Motion Hurter (svp, SH), welche ein ähnliches Vorhaben zum Inhalt hatte, wurde vom Ständerat ohne Änderung gutgeheissen, da der Motionstext keine direkte und explizite Verbindlichkeit vorsah
[4].
Der Ständerat überwies im Dezember ein Postulat seiner APK, welches die Regierung beauftragt, im nächsten aussenpolitischen Bericht über das
schweizerische Aussennetz Auskunft zu erteilen. Informiert werden soll darin über strategische Aspekte sowie über benötigte Ressourcen
[5].
Zu Beginn der Frühjahrssession befasste sich die kleine Kammer mit dem
aussenpolitischen Bericht 2010. Dieser war Ende 2010 vom Bundesrat präsentiert worden und definierte verschiedene Schwerpunkte der aussenpolitischen Strategie. Die Landesregierung erachtete darin insbesondere die Weiterführung des bilateralen Weges mit der Europäischen Union als wichtig. Sie unterstrich im Bericht aber auch die Notwendigkeit vermehrter globaler Einflussnahme durch die Schweiz, ohne dass das Land aber an nationaler Souveränität einbüsse. Als Instrument dazu sollen in erster Linie bilaterale Verträge dienen, aber auch eine engere Kooperation mit anderen Staaten im Rahmen von internationalen Organisationen und Gremien wie der G-20 sollte angestrebt werden. Ein weiteres Augenmerk richtete der Bundesrat im Bericht auf die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren. Bei der Behandlung im
Ständerat, welcher als Erstrat fungierte, standen die Europapolitik und insbesondere die institutionellen Fragen mit der EU im Zentrum der Debatte. Der Ständerat unterstützte den Bericht grundsätzlich und die vom Bundesrat gesetzten inhaltlichen Schwerpunkte stiessen mehrheitlich auf Zustimmung. Der
Nationalrat hatte sich bei der Diskussion des aussenpolitischen Berichts 2010 mit einem Minderheitsantrag seitens der SVP auseinanderzusetzen, welche den Bericht an den Bundesrat mit dem Auftrag zurückweisen wollte, klar darzustellen, wie die Schweiz mit dem internationalen Druck auf die schweizerische Gesetzgebung in Zukunft umzugehen plant. Wie bereits bei der Diskussion zum aussenpolitischen Bericht 2009 argumentierte Schlüer (svp, ZH), Fragen zur schweizerischen Souveränität seien nur unzureichend beleuchtet. Diese sei aber aufgrund aussenpolitischer Vorkommnisse rund um die Libyen-Affäre sowie dem Druck seitens der EU und den USA auf den Schweizer Finanzplatz in Bedrängnis geraten. Seine Argumente fanden jedoch bei allen anderen Fraktionen kein Gehör. Die Bedeutung Europas für die Schweiz und insbesondere der Steuerstreit und institutionelle Fragen seien zu wichtig, um den Bericht zurückzuweisen. Entsprechend wurde der Minderheitsantrag mit 103 zu 32 Stimmen aus der SVP verworfen Der Bericht wurde in der Folge von beiden Räten zur Kenntnis genommen
[6].
Wie das Eidgenössische Departement für äussere Angelegenheiten (EDA) im Februar bekannt gab, stieg die
Zahl der Auslandschweizer auf beinahe 700 000 an, wobei das Wachstum hauptsächlich auf den gestiegenen Anteil an Doppelbürgern zurückgeführt werden kann. Das bedeutende Gewicht der „fünften Schweiz“ widerspiegelte sich auch in den diversen Vorstössen im Parlament
[7].
Der auf die parlamentarische Initiative Meyer-Kaelin (cvp, FR) zurückgehende Gesetzesentwurf über die
politischen Rechte der Auslandschweizer stand im Februar im Nationalrat zur Debatte. Das Begehren war 2008 eingereicht worden und forderte eine Vereinfachung der Anmeldungserneuerung für im Ausland niedergelassenen Schweizer. So soll eine aktive Ausübung der politischen Rechte zukünftig automatisch zu einem Verbleib im Stimmregister führen; bisher mussten Auslandschweizer ihre Meldung im Stimmregister alle vier Jahre erneuern. Das Geschäft wurde im Nationalrat diskussionslos und einstimmig angenommen. In der Sommersession verabschiedete der Ständerat das Geschäft ebenfalls ohne Gegenstimme
[8].
Auslandschweizer sollen sich zukünftig
für alle Anliegen nur noch an eine für sie zuständige Bundesstelle wenden müssen. Dies forderte eine Motion Brunschwig Graf (fdp, GE), welche damit die bisherige Praxis kritisierte, wonach verschiedene Stellen in unterschiedlichen Departementen für Angelegenheiten der im Ausland wohnhaften Schweizer zuständig sind. Wo eine solche Zusammenführung nicht möglich sei, solle eine verbesserte Koordination angestrebt werden. Der Bundesrat unterstützte diese Motion, welche von beiden Räten angenommen wurde
[9].
Weitere
Unterstützung für Schweizer im Ausland forderte ein Postulat Abate (fdp, TI), welches der Nationalrat im September an den Bundesrat überwies. Damit wird die Regierung aufgefordert, einen Bericht über das konsularische Angebot für Auslandschweizer zu erstellen und darin die Wirksamkeit und Effizienz dieser Strukturen, insbesondere hinsichtlich möglicher Krisenfälle darzulegen
[10].
Die Motion Segmüller (cvp, LU), welche der Nationalrat Ende 2009 gutgeheissen hatte, verlangte vom Bundesrat eine bessere
Informationspolitik für Auslandschweizer. Dazu sollten organisatorische und gegebenenfalls gesetzgeberische Schritte getätigt werden, um die „fünfte Schweiz“ mit breiten politischen Informationen zu versorgen. Der Ständerat votierte im Dezember 2011 ebenfalls für dieses Anliegen
[11].
In der Aprilsession beriet der Nationalrat die Volksinitiative
„Für die Stärkung der Volksrechte in der Aussenpolitik (Staatsverträge vors Volk!)“. Dieses von der Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) eingereichte Volksbegehren fordert eine Ausweitung des obligatorischen Referendums auf völkerrechtliche Verträge, die wichtige Bereiche zum Inhalt haben, oder die Schweiz verpflichten, Bestimmungen mit rechtssetzendem Charakter zu übernehmen oder aber rechtssetzende Kompetenzen an internationale Institutionen abzugeben. Ebenfalls müssten Verträge dem Volk zur Abstimmung vorgelegt werden, wenn sie einen finanziellen Mehraufwand von einmalig mehr als CHF 1 Mia. oder mehrere Beträgen an über CHF 100 Mio. mit sich bringen würden. Der
Nationalrat diskutierte zudem über den vom Bundesrat vorgelegten direkten Gegenentwurf, welcher die Mitwirkung des Volkes auf völkerrechtliche Verträge mit Verfassungsrang beschränken möchte. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates empfahl seinem Rat die Ablehnung der Initiative bei gleichzeitiger Annahme des Gegenentwurfs. Als Hauptkritikpunkt der Initiative wurde ihre unklare Formulierung genannt, es sei nicht eindeutig nachzuvollziehen, welche Bereiche „wichtig“ seien. Als Befürworter machte sich Nationalrat Fehr (svp, ZH) für die Initiative stark, er sprach sich vor allem aufgrund der vermehrten Übernahme von internationalem Recht für eine Stärkung der Volksrechte im aussenpolitischen Bereich aus. Ungeachtet dieser Argumentation folgte die Mehrheit des Nationalrates der Kommission und schätzte den Initiativtext als zu unpräzise ein. Der Minderheitsantrag Fehr (svp, ZH), welcher Nichteintreten zum Gegenentwurf forderte, wurde nur von der SVP und der BDP unterstützt und war folglich ohne Chance. Ebenfalls abgelehnt wurden vier unterschiedliche Anträge von Mitgliedern der SVP-Fraktion zur Anpassung des bundesrätlichen Gegenentwurfs. Der
Ständerat folgte der grossen Kammer im Dezember und empfahl die Volksinitiative mit grosser Mehrheit zur Ablehnung. Kritisiert wurden nicht nur die unklare Formulierung des Volksbegehrens, sondern auch die mangelnde Verhältnismässigkeit. Nach Ansicht der Kommissionsmehrheit würde die Anzahl der Volksabstimmungen pro Jahr um geschätzte dreissig bis vierzig Prozent steigen. Im Gegensatz zum Nationalrat entschied die kleine Kammer mit 32 zu 2 Stimmen deutlich, nicht auf den Gegenentwurf der Regierung einzutreten. Als Kritikpunkte wurde von Ständerat Schwaller (cvp, FR) nicht nur die unklare Formulierung des Gegenentwurfs angebracht, sondern er lehnte diesen auch aus taktischen Gründen ab. Die Opposition gegen die Volksinitiative würde dadurch zersplittert, wie man bereits beim Abstimmungskampf um die Ausschaffungsinitiative gesehen hätte. Dieser Argumentation schloss sich der Nationalrat im Dezember an und lehnte den Kompromissvorschlag des Bundesrates schliesslich ebenfalls ab. Nach der Schlussabstimmung in beiden Kammern wird die Initiative im Juni 2012 zur Volksabstimmung kommen
[12].
Der Bundesrat sperrte im Zusammenhang mit den politischen Unruhen in gewissen Ländern Nordafrikas vorsorglich die bei Schweizer Finanzinstituten deponierten Vermögenswerte politisch exponierter Personen vorsorglich (vgl. unten, Bilaterale Beziehungen).
Das Parlament nahm in diesem Zusammenhang eine Motion Leutenegger Oberholzer (sp, BL) an, welche eine Gesetzesvorlage im Sinne eines Bundesgesetzes für die
Blockierung von Geldern gestürzter Potentaten verlangt. Darin sollen die Kriterien für ein derartiges Vorgehen klar vorgeschrieben werden. Ebenso fordert das Begehren die eindeutige Festlegung der Kompetenzen innerhalb der Bundesverwaltung. Ihren Vorstoss begründete die Motionärin durch die Sperrung der Vermögenswerte der gestürzten Machthaber Ägyptens und Tunesiens 2011, welche der Bundesrat aufgrund eines Verfassungsartikels rechtmässig, aber ihrer Ansicht zufolge erst spät ausführte
[13].
Während des Berichtsjahres genehmigte das Parlament verschiedene Doppelbesteuerungsabkommen (DBA), welche den Informationsaustausch nach dem Standard der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) vorsehen. Diese sind unten detailliert aufgeführt (Bilaterale Beziehungen).
[1] Mo. 10.3354 (APK-SR), Mo. 10.3366 (WAK-NR):
BBl, 2011, S. 9017 ff.; Medienmitteilung Bundesrat vom 1.12.11; vgl.
SPJ 2010, S. 73; vgl. auch Teil I, Kapitel 1c (Regierungsreform).
[2]
NZZ, 3.3.11;
TA, 17.3.11.
[3]
BBl, 2011, S. 6673 ff.;
BaZ, 13.9.11;
NZZ, 14.9.11.
[4] Mo. 10.3820 (Darbellay), Mo. 10.3838 (Hurter):
AB SR,
2011, S. 818 ff.;
AB NR,
2011, S. 2256; vgl.
SPJ 2010, S. 73.
[5] Po. 11.3760:
AB SR,
2011, S. 1295.
[6] BRG 10.111:
AB SR,
2011, S 57 ff.;
AB NR,
2011, S. 343 ff. und 515 ff.;
BBl, 2011, S. 1013 ff. und 2449 ff.;
NZZ, 18.3.11; vgl.
SPJ 2010, S. 74.
[7] Medienmitteilung EDA, 17.2.11;
NZZ, 24.2.11.
[8] Pa. Iv. 08.522:
AB NR, 2011, S. 90 ff. und 1287;
AB SR, 2011, S. 363 ff. und 706;
BBl, 2011, S. 4839 ff.,
NZZ, 1.6.11.
[9] Mo. 11.3203:
AB NR,
2011, S. 1263
; AB SR,
2011, S. 819 ff.
[10] Po. 11.3572:
AB NR, 2011, S. 1844.
[11] Mo. 09.3852:
AB NR, 2011, S. 816.
[12] BRG 10.090:
AB NR,
2011, S. 669 ff., 2084 ff. und 2281;
AB SR,
2011, S. 844 ff. und 1307;
BaZ, 14.4.11;
NZZ, 15.12. und 16.12.11; vgl.
SPJ 2010, S. 48 und 74 f.
[13] Mo. 11.3151:
AB NR,
2011, S. 1263;
AB SR,
2011, S. 1293 ff.
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