Année politique Suisse 1993 : Politique sociale / Santé, assistance sociale, sport
Gesundheitspolitik
Das Bundesamt für Gesundheitswesen (BAG), das im Berichtsjahr sein 100-Jahr-Jubiläum begehen konnte, legte erstmals einen ausführlichen Bericht über den Gesundheitszustand der schweizerischen Bevölkerung vor, der inskünftig periodisch alle drei Jahre neu erscheinen soll. Er ermöglicht einerseits einen internationalen Standortvergleich und ist andererseits als Arbeitsinstrument für die Kantone, die eigentlichen Kompetenzträger der Gesundheitspolitik, bestimmt. In Übereinstimmung mit der Weltgesundheitsorganisation WHO orientierten sich die Autoren an einem neuen Begriff der Gesundheit, welcher diese nicht mehr einfach nur als Abwesenheit von Krankheit definiert, sondern mit den Werten Wohlbefinden und Lebensqualität umschreibt. Darin enthalten ist neben der körperlichen Gesundheit gleichwertig auch das psychische Befinden und das soziale Wohlergehen des Individuums.
Der Gesundheitszustand der Schweizerinnen und Schweizer, so zeigte der Bericht, ist allgemein gut. Allerdings essen sie zu viel und zu fettreich, und im Erwachsenenalter verschafft sich die grosse Mehrheit weniger körperliche Bewegung als aus präventiver Sicht wünschenswert wäre. Dennoch kennt die Schweiz nach Island gesamteuropäisch die höchste Lebenserwartung. Diese verdoppelte sich innert 100 Jahren; heute werden Männer durchschnittlich 73,8 Jahre alt, Frauen 80,8 Jahre. Die Lebenserwartung hängt aber nicht nur vom Geschlecht, sondern ebenso sehr von der Gesellschaftsschicht ab: Personen der obersten Sozialschicht können ebenfalls mit einem sieben Jahre längeren Leben rechnen als Angehörige der untersten Schicht. Die Wohlhabenderen leben aber nicht nur durchschnittlich länger, sie sind auch weniger krank und empfinden häufiger soziales, psychisches und physisches Wohlbefinden.
Dieser positive Zustand wird allerdings durch Schatten getrübt. Vor allem die Situation der Jugendlichen lässt im Vergleich zu anderen Altersklassen und zu anderen Ländern Europas markante Mängel erkennen. So ist die
Selbsttötungsrate unter Schweizer Jugendlichen die höchste aller Industrieländer, und auch die tödlichen Unfälle machen einen verhältnismässig hohen Anteil an der Jugend-Mortalität aus. BAG-Direktor Thomas Zeltner forderte denn auch, dass in Zukunft Unfälle und Suizide mit derselben Entschlossenheit durch Präventionsprogramme angegangen werden sollen wie Drogen und Aids. Als ebenfalls düsteres Kapitel erachteten die Experten die Kindsmisshandlungen, deren Zahl auf 40 000 bis 45 000 pro Jahr geschätzt wird. Ein weiteres Defizit orteten sie bei den Herz-Kreislauf- und den Krebserkrankungen, die im mittleren Lebensalter die häufigsten Todesursachen bilden, sowie bei den Neurosen und Psychosen, die rund ein Drittel der krankheitsbedingten Rentenfälle ausmachen
[1].
Mit einem diskussionslos verabschiedeten Postulat seiner Kommission für Rechtsfragen beauftragte die grosse Kammer den Bundesrat, einen Bericht und Vorschläge zu unterbreiten, ob und wie die Aktivitäten und Massnahmen des Bundes im Kampf gegen die verschiedenen Gefährdungen der Gesundheit wie beispielsweise Drogen, Betäubungsmittel, Medikamentenmissbrauch, Alkohol, Tabak, Luftverschmutzung, Radioaktivität etc. besser koordiniert und aufgrund einer allgemeinen und übersichtlichen Strategie optimiert werden könnten
[2].
Das BAG beschaffte 65 Millionen
Kaliumiodidtabletten. Diese wurden in der
Umgebung der Kernkraftwerke an die Haushaltungen verteilt, in der übrigen Schweiz auf Stufe Gemeinde oder Kanton eingelagert. Die Einnahme von Kaliumiodid vermindert nach einem Kernkraftunfall mit Austritt von Radioaktivität das Risiko von späteren Schilddrüsenerkrankungen
[3].
Seit dem Inkrafttreten der Bestimmungen über den
fürsorgerischen Freiheitsentzug (FFE) im Jahre 1981, flackert immer wieder Kritik an den Modalitäten des FFE auf, dessen Ausmass heute auf rund 10 000 Fälle pro Jahr geschätzt wird. Gestützt auf eine vom Nationalfonds mitfinanzierte Studie erhob die Stiftung Pro Mente Sana konkrete Forderungen, welche in erster Linie eine Ausdehnung der Patientenrechte durch verbesserte Rekursmöglichkeiten sowie eine Mitsprache bei der Wahl der Therapieform anstreben. Im Parlament wurde dieses Anliegen von Nationalrätin Caspar-Hutter (sp, SG) aufgenommen. In einer Motion verlangte sie eine gründliche Überprüfung des FFE vor allem bei Drogensüchtigen und bei Frauen sowie einen Gesetzesentwurf zur Stärkung der Patientenrechte, insbesondere einen Rechtsschutz gegenüber Zwangsbehandlungen. Der Bundesrat verwies darauf, dass der FFE zum Vormundschaftsrecht gehört, welches im Rahmen der Gesamtrevision des Familienrechts ohnehin zur Diskussion steht. Auf seinen Antrag wurde die Motion lediglich als Postulat überwiesen
[4].
Eine Motion Wick (cvp, BS) betreffend die
Kassenpflicht von speziellen Diätetika für Invalide mit Geburtsgebrechen, für welche nach Erreichen des 20. Altersjahrs die Leistungen der Invalidenversicherung erlöschen, wurde auf Antrag des Bundesrates, der auf entsprechende Kontakte zwischen dem Bundesamt für Sozialversicherung und dem Konkordat der Krankenkassen verwies, nur als Postulat angenommen. Bei der Beratung des revidierten Krankenversicherungsgesetzes beschloss der Nationalrat, dass die Krankenversicherung inskünftig in solchen Fällen leistungspflichtig ist
[5].
Anfangs August nahm die Stiftung Exit in Burgdorf ihr
erstes Sterbehospiz offiziell in Betrieb. In dem Haus, welches zehn Patienten beherbergen kann, sollen – unter strenger Wahrung des Verbotes aktiver Sterbehilfe – die Achtung der Selbstbestimmung des Todkranken und das Recht auf einen menschenwürdigen Tod gelebt werden. Der Betrieb untersteht der Aufsicht der Gesundheitsdirektion des Kantons Bern
[6].
Eine
international angelegte Vergleichsstudie der Schweizer Rückversicherungsgesellschaft relativierte die oft zitierte Kostenexplosion im
Gesundheitswesen und zeigte, dass die Schweiz hier durchaus nicht an der Spitze liegt. Gemäss dieser Untersuchung wurden 1990 im Durchschnitt aller OECD-Länder 7,5% des Bruttoinlandproduktes für Gesundheitsausgaben verwendet. Die höchsten Ausgaben hatten dabei die USA mit 12,4% des BIP, gefolgt von Kanada (9,0%), Frankreich (8,9%), Deutschland (8,1 %), Italien (7,6%), der Schweiz (7,4%), Spanien (6,6%) und Grossbritannien (6,1%). Bei der Wachstumsrate der inflationsbereinigten Gesundheitsausgaben innerhalb der letzten 20 Jahre erreichte die Schweiz mit 3,5% pro Jahr den tiefsten Wert vor Grossbritannien (3,8%), Deutschland (4,0%), Frankreich, Italien und Kanada (je 5,0%), den USA (5,5%) und Spanien (6,3%). Mit Ausnahme von Kanada und den USA hat sich das Ausgabenwachstum in den 80er Jahren im Vergleich zu den 70er Jahren deutlich verlangsamt
[7].
Leere Staatskassen sowie der dringliche Bundesbeschluss gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung, welcher eine Plafonierung der in den Kantonen ausgehandelten Tarife und Preise für medizinische Leistungen vorschreibt, tragen dazu bei, dass sich die Kantone stärker als in der Vergangenheit mit
kostendämmenden Massnahmen im Gesundheitswesen auseinandersetzen. Die Schweizerische Sanitätsdirektorenkonferenz (SDK) als politisches Koordinationsorgan der kantonalen Gesundheitsdirektoren führte erstmals eine gesamtschweizerische Umfrage über die in diesem Zusammenhang geplanten oder bereits eingeleiteten Schritte durch und erliess gestützt darauf neun Empfehlungen an die Kantone. Danach sollen unter anderem der Informationsaustausch zwischen den kantonalen Gesundheitsbehörden sowie die Zusammenarbeit im Spitalbereich auf regionaler Ebene über die Kantonsgrenzen hinweg verstärkt werden. Durch die Zusammenlegung von Leistungseinheiten und die Neuverteilung von Leistungsaufträgen sollen die regionalen Versorgungsstrukturen optimiert werden. Die SDK selber will eine aktivere Rolle bei der Entwicklung von Modellen für die Globalbudgetierung der Betriebsaufwendungen der Spitäler übernehmen, welche die heute gebräuchliche automatische Übernahme der Defizite durch den Staat ersetzen soll. Im weiteren wurde den Kantonen empfohlen, teilstationäre Einrichtungen und Spitex zu fördern sowie die Schaffung von ärztlichen Gruppenpraxen nach dem sogenannten HMO-Modell (Health Maintenance Organization) nach Möglichkeit zu erleichtern und zu unterstützen
[8].
Im Rahmen einer Univox-Umfrage der Schweizerischen Gesellschaft für praktische Sozialforschung (GfS) wurde der Frage nachgegangen, in welchen Bereichen der Gesundheitsversorgung die Schweizer Bevölkerung am ehesten zu Einsparungen bereit wäre. 78% der Befragten sprachen sich grundsätzlich für Sparmassnahmen aus. Bei der Nennung von konkreten Schritten bröckelte der Sparwille allerdings rasch ab. Einzig für eine Zweitkonsultation durch einen Vertrauensarzt der Versicherung vor einer Operation fand sich eine Mehrheit der befragten Personen
[9].
Für die Bestrebungen der Krankenkassen, durch Zusammenschlüsse und Nutzung bestehender Synergien zu einer Kosteneindämmung beizutragen, siehe unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung).
Als Grund für die Kostensteigerung im Gesundheitsbereich wird oft auch die zunehmende
Ärztedichte genannt. Gemäss der Statistik der Vereinigung der Schweizer Ärzte (FMH) verdoppelte sich diese in den letzten 20 Jahren. Die grösste Dichte an freipraktizierenden Ärzten weist Basel-Stadt auf (328 Einwohner je Arzt), die kleinste Appenzell Innerrhoden (1400). Der gesamtschweizerische Durchschnitt liegt bei 624. Fast zwei Drittel der FMHMitglieder sind Spezialärzte
[10]. Von verschiedener Seite wird deshalb immer wieder gefordert, bei der Ausbildung von Medizinstudenten einen Numerus clausus oder ähnliche Restriktionen einzuführen. Im Berichtsjahr verlangte eine von 110 Nationalrätinnen und Nationalräten unterzeichnete Motion Pidoux (fdp, VD), der Bundesrat solle seine Kompetenz bei den Medizinalprüfungen zu einer sinnvollen Lenkung der Arztedichte nutzen. Der Bundesrat verwies auf die Kantonshoheit bei der Zulassung zum Universitätsstudium sowie auf entsprechende Empfehlungen der Schweizerischen Hochschulkonferenz und beantragte mit Erfolg Umwandlung in ein Postulat. Der Ständerat überwies eine ähnlichlautende Motion Simmen (cvp, SO) ebenfalls nur in der Postulatsform
[11].
In der Frage, wer primär für die Kostensteigerung im Gesundheitswesen verantwortlich sei, hatten im Vorjahr bei der parlamentarischen Beratung des zweiten Massnahmenpakets gegen die Kostensteigerung im Gesundheitswesen auch die
Arzthonorare zu Diskussionen Anlass gegeben. Die FMH bestritt die damals von Bundesrat Cotti genannten Zahlen (jährliches Durchschnittseinkommen von 273 000 Fr.) und liess eine eigene Studie ausarbeiten, welche markant tiefere Zahlen auswies (187 000 Fr.). Allerdings fusste diese Untersuchung lediglich auf den Angaben von rund 8000 freipraktizierenden Ärzten. Nicht erfasst wurden die Einkommen der Spitalärzte und all jener Mediziner, die neben ihrer freien Praxistätigkeit von einem Spital einen Lohn erhalten. Die FMH-Studie bestätigte die bereits früher vermutete enorme Bandbreite bei den Ärzteeinkommen. Ärzte und Ärztinnen, die technische Leistungen wie Operationen anbieten, verdienen bis fünfmal mehr als Mediziner, die vorwiegend intellektuelle Leistungen erbringen wie etwa (Kinder-)Psychiater oder Allgemeinpraktiker. Zu den Spitzenverdienern gehören die Urologen, die Orthopäden und die Gynäkologen
[12].
Für die kostendämmenden Vorschläge, welche die Kartellkommission im Zusammenhang mit der Totalrevision des Krankenversicherungsgesetzes einbrachte, siehe unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung).
Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) publizierte die erste gesamtschweizerische Spitex-Statistik. Danach bezahlte die AHV 1992 im Rahmen der offenen Altershilfe fast 100 Mio Fr. an rund 1000 verschiedene Spitex-Organisationen in der Schweiz. Seit 1990 sind die Ausgaben der AHV für Spitex beträchtlich gestiegen: 1990/91 um 58% und 1991/92 um 16%. An der Statistik fiel auf, dass das Netz der beitragsberechtigten Spitex-Organisationen in der Deutschschweiz im Vergleich zur Romandie und zum Tessin dichter ist
[13].
Aus dem Vergleich der Daten aus den Betriebszählungen 1985 und 1991 ging hervor, dass in diesem Zeitraum das Gesundheitswesen zu den Wirtschaftszweigen mit der
höchsten Zunahme an Beschäftigten gehörte (+27% gegenüber einer 15 %igen Zunahme des Gesamtbestandes der Beschäftigung). Auffallend war die Rekordzunahme (+65%) des Bestandes der Teilzeitbeschäftigten, die 1991 mehr als ein Drittel (36%) der Arbeitnehmer im Gesundheitswesen ausmachten (gegenüber 28% 1985). Der Anteil an der Gesamtbeschäftigung in der Schweiz erreichte 1991 9,3%
[14].
Bei der Revision des Krankenversicherungsgesetzes entbrannte eine heftige Kontroverse um die
Stellung der Psychotherapeuten. Der Ständerat wollte bei der heute geltenden Regelung bleiben, wonach Psychotherapeuten nur im Rahmen der Praxis eines Psychiaters Leistungen der sozialen Krankenversicherung erbringen dürfen. Der Nationalrat nahm eine liberalere Haltung ein. Auch er lehnte es ab, die Psychotherapeuten als eigenständige, unabhängige Leistungserbringer ins Gesetz aufzunehmen, hiess aber eine Bestimmung gut, wonach der Bundesrat sowohl die Zulassung der selbständig tätigen Psychotherapeuten wie auch die Ausbildungskriterien der von Ärzten angestellten Psychotherapeutinnen und -therapeuten regeln soll. Dies eröffnet nichtmedizinischen Psychotherapeuten die Möglichkeit, zwar nach wie vor nur auf Überweisung eines Arztes, aber in eigener Praxis kassenpflichtige Leistungen zu erbringen. Der Ständerat schloss sich in diesem Punkt dem Nationalrat an
[15].
Das EDI setzte eine Arbeitsgruppe ein, welche die (eurokompatiblen) Möglichkeiten einer
gesetzlichen Verankerung der Weiterbildung von Ärzten, Zahnärzten, Tierärzten und Apothekern auf Bundesebene prüfen soll. Untersucht wird auch die Schaffung einer gesetzlichen Regelung der Ausbildung von Chiropraktoren, nichtärztlichen Psychotherapeuten sowie anderer universitärer Berufe des Gesundheitswesens
[16].
Der Formulierung des Bundesrates im revidierten Krankenversicherungsgesetz, wonach die Leistungen innerhalb der Grundversicherung wirksam, zweckmässig und wirtschaftlich sein müssen, fügte der Ständerat die Bestimmung bei, dass die Wirksamkeit nach wissenschaftlichen Methoden nachzuweisen sei. Er folgte damit den Argumenten der Schulmediziner, welche warnten, dass die Kosten der in der Regel günstigeren Komplementärmedizin lediglich zusätzlich zu denjenigen der Schulmedizin hinzukämen, was die Kosten im Gesundheitswesen weiter ansteigen lasse. Der Nationalrat lehnte den ständerätlichen Zusatz ab. In der Differenzbereinigung hielt die kleine Kammer an ihrer Meinung fest
[17].
Der Kanton Zürich lehnte im Januar erneut
den Beitritt zum revidierten interkantonalen Heilmittelkonkordat ab. Damit verstärkte sich der Trend hinzu einer Bundeslösung. Für diese sprachen sich unter anderem die exportorientierte Pharmaindustrie, entwicklungspolitische Kreise und Konsumentinnenorganisationen sowie — neben Basel-Stadt und Bern, die dem Konkordat nur befristet beigetreten sind — die Kantone Appenzell-Innerrhoden, Genf, Glarus, Luzern, Obwalden, Schwyz und Zug aus. Gegen eine Bundeskompetenz, wie sie der Bundesrat im ersten Eurolex-Paket vorgesehen hatte, wandten sich weiterhin die Kantone Basel-Land, Solothurn, St. Gallen, Thurgau, Uri, Waadt und Wallis
[18].
Ähnlich gespalten zeigte sich das Parlament. In der Herbstsession machte der Ständerat klar, dass er in diesem Bereich von einer Beschneidung der Kantonshoheit nicht wissen will. Obgleich Bundesrätin Dreifuss den Vorstoss begrüsste, da sich ihrer Meinung nach in den Verhandlungen mit der EU eine
Bundeslösung aufdränge, lehnte die kleine Kammer mit deutlichem Mehr eine Motion Weber (Idu, ZH) ab, welche die Heilmittelkontrolle dem Bund übertragen wollte. Nur einen Tag später nahm hingegen der Nationalrat diskussionslos eine Motion seiner Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit an, die vom Bundesrat verlangt, ein Bundesgesetz vorzulegen, welches die interkantonale Heilmittelkontrolle ersetzen kann
[19].
Auch die Kantone zeigten sich in dieser Frage weniger föderalistisch als der Ständerat. Die Interkantonale Vereinigung für die Kontrolle der Heilmittel (IKV), welcher die kantonalen Sanitätsdirektoren angehören, gab an ihrer Herbstkonferenz praktisch einstimmig
grünes Licht für Verhandlungen mit dem Bund über die Schaffung eines schweizerischen Arzneimittel-Institutes, welches neben der Kontrolle der Heilmittel auch den Handel mit Blutpräparaten und weitere Problembereiche beaufsichtigen soll
[20].
Der Bundesrat will das
Preisgefälle zwischen hiesigen und ausländischen Medikamenten in den Griff bekommen. Er gab den Auftrag zu den entsprechenden Verordnungsänderungen. Dabei ist auch ein Preisvergleich mit dem Ausland vorgesehen, wie ihn der Preisüberwacher im Vorjahr gefordert hatte, sowie eine Überprüfung der Patentdauer. Gleichzeitig soll die Verwendung von Generica — den kostengünstigeren Nachahmerpräparaten — gefördert werden
[21]. Die Apotheker wehrten sich gegen die geplanten Preissenkungen, die ihrer Ansicht nach zu einem Apothekensterben und damit zum Wegfall einer bedeutenden Dienstleistung im Gesundheitswesen führen würden. Vehement wiesen die Apotheker auch den Vorschlag einzelner Krankenkassen zurück, ihren chronischkranken Versicherten die Medikamente direkt abzugeben. Die Kassen argumentierten, bei der Abgabe von Langzeitpräparaten sei die Apotheker-Marge nicht mehr durch das Beratungsgespräch gerechtfertigt
[22].
Aus der Entwicklung der Umsatzzahlen in Arztpraxen und Apotheken schloss der schweizerische Apothekerverein, dass Ärzte und Ärztinnen
vermehrt Medikamente in Selbstdispensation verkaufen, um so die Ausfälle auszugleichen, die ihnen auf Tarifebene durch den dringlichen Bundesbeschluss gegen die Kostensteigerung in der Krankenversicherung entstehen. Die Apotheker appellierten deshalb an die Parlamentarierinnen und Parlamentarier, im revidierten Krankenversicherungsgesetz die Selbstdispensation rigoros einzuschränken und eine entsprechende Bundeskompetenz einzuführen. Diese war im bundesrätlichen Vorschlag enthalten gewesen, im Ständerat jedoch zugunsten der Kantonshoheit aus der Vorlage gekippt worden. Der Nationalrat kehrte wieder zum Entwurf des Bundesrates zurück, doch hielt der Ständerat in der Differenzbereinigung an der föderalistischen Lösung fest
[23].
Im Berichtsjahr wurden dem BAG
684 neue Aids-Fälle gemeldet. Darunter befanden sich 531 Männer und 153 Frauen. In 240 Fällen handelte es sich um homo- oder bisexuelle Männer (35,1 %) und in 293 Fällen um Drogensüchtige (42,8%, davon 198 Männer und 95 Frauen). Aids ist heute zur zweithäufigsten Todesursache der 25- bis 44jährigen geworden
[24].
Laut einer Umfrage des BAG haben sich bis Herbst 1992 in der Schweiz fast die Hälfte aller Einwohnerinnen und Einwohner im Alter von 17 bis 45 Jahren einem oder mehreren
Aids-Tests unterzogen. Damit liegt der Anteil der getesteten Personen (47%) erheblich höher als in anderen Ländern (Frankreich 22,2%, Grossbritannien 15,3%). Mit 55% liessen sich die Männer deutlich mehr testen als Frauen (39%), was unter anderem auf die Tests bei der Blutspende im Militärdienst zurückgeführt wurde
[25].
Derartige freiwillige Tests geben laut BAG nur unzureichende Angaben über die Ausbreitung des HIV in der Allgemeinbevölkerung. Auf seinen Antrag setzte der Bundesrat im Spätsommer eine Verordnung in Kraft, welche inskünftig
anonyme Massentests in ausgewählten Spitälern der Schweiz zulässt. Diese Tests werden ausschliesslich mit Blutproben durchgeführt, die Patientinnen und Patienten zu anderen medizinischen Zwecken entnommen werden. Die Proben werden anonymisiert und von vorgegebenen Teststellen – die mit den Entnahmestellen nicht identisch sein dürfen – auf HIV untersucht. Aus Datenschutzgründen kann keine getestete Person über ein allfällig positives Resultat in Kenntnis gesetzt werden. Patientinnen und Patienten haben das Recht, die Teilnahme am Test zu verweigern. Von diesen Massentests verspricht sich das BAG wertvolle Hinweise auf die Entwicklung der HIV-Infektion in der Bevölkerung, welche erlauben würden, auf mögliche Veränderungen durch gezielte Präventionsmassnahmen zu reagieren. Die "Aids-Hilfe Schweiz" und der Dachverband "People with Aids" kritisierten demgegenüber, in der Prävention dringend benötigte Mittel würden so für statistische Untersuchungen ausgegeben, deren Resultate durch die freiwilligen Tests tendenziell bereits bekannt seien
[26].
Im Frühjahr setzte Bundesrat Cotti eine dreiköpfige Arbeitsgruppe ein mit dem Auftrag, abzuklären, unter welchen Umständen und in welchem Umfang Patienten durch
Transfusionen von Blutpräparaten möglicherweise mit dem HI-Virus infiziert wurden. Nach Angaben des Departements des Innern (EDI) sollen die Experten feststellen, ob bei den meist vor dem Jahr 1985 erfolgten Infektionen die gesetzlichen Bestimmungen eingehalten wurden bzw. der ärztlichen Pflicht nachgelebt wurde. Überprüft werden soll namentlich die Arbeitsteilung zwischen den Bundesämtern für Gesundheitswesen (BAG) und Sozialversicherung (BSV), der Interkantonalen Kontrollstelle für Heilmittel (IKS) und dem Roten Kreuz (SRK). Ziel ist laut EDI, für die Zukunft Verantwortlichkeit und Strukturen festzulegen, die eine rasche Reaktion der Behörden im Bereich der Blutprodukte sicherstellen
[27].
Diese Fragestellung erhielt durch den Blutskandal in Deutschland, wo in noch ungewissem Ausmass ungenügend kontrollierte Blutkonserven in die Spitäler gelangten, neue Aktualität, besonders als bekannt wurde, dass nicht auszuschliessen sei, dass einzelne dieser Blutpräparate auch in die Schweiz eingeführt worden seien. Keine der darauf angesprochenen Behörden (IKS, BAG, Kantonsärzte bzw. -apotheker) konnte mit letzter Klarheit die Frage beantworten, ob, wann und wo problematische Blutpräparate importiert und allenfalls verwendet worden seien. Diese völlig unklaren Kompetenzen erhärteten den Ruf nach einer zentralisierten Kontrollinstanz
[28].
Erste Resultate der Ende des Vorjahres vom SRK angekündigten "
Look-back"-Studie zur Ermittlung jener Personen, die vor 1985 durch eine verseuchte Blutkonserve mit dem HI-Virus kontaminiert wurden, zeigten, dass von den zwei Millionen Bluttransfusionseinheiten, die den Schweizer Spitälern zwischen 1982 und 1985 ausgeliefert wurden, 303 eventuell HIV-verseucht waren, wobei vorerst unklar blieb, wie viele von ihnen an Patienten abgegeben wurden. Zudem hatte das SRK im gleichen Zeitraum über 80 möglicherweise HIV-infizierte Blutkonserven nach New York, Griechenland und Saudiarabien exportiert. Im Spätsommer gestand das SRK erstmals ein, noch während zehn Monaten nach der Einführung eines zuverlässigen Aids-Tests unkontrollierte Blutpräparate abgegeben zu haben. Das SRK schloss nicht aus, dass von den zwischen Juli 1985 und April 1986 ausgelieferten 5800 Fläschchen mit Gerinnungspräparaten unter Umständen rund tausend mit dem HI-Virus kontaminiert gewesen seien. Es begründete sein damaliges Vorgehen mit einem drohenden Versorgungsengpass bei den für Hämophile lebenswichtigen Produkten
[29].
Noch bevor konkrete Zahlen aus dem "Look-back" vorlagen, stellte das
SRK den neu gegründeten
Aids-Solidaritätsfonds vor, der mit einem Aufpreis von knapp 5% auf Blutkonserven finanziert wird. Laut dem Fonds-Reglement erhält Beiträge, wer erwiesenermassen mit dem Aids-Virus infizierte Blut- oder Plasmapräparate des SRK-Blutspendedienstes erhalten hat, indirekt durch einen Empfänger eines infizierten Präparates angesteckt wurde oder gegenüber einer direkt oder indirekt angesteckten Person unterhaltspflichtig ist. Die SRK-Beiträge sollen den Betroffenen in Ergänzung zu Versicherungs- und Fürsorgeleistungen die Weiterführung eines menschenwürdigen Lebens ermöglichen. Die SRK-Entschädigungen werden ohne Rechtspflicht im Sinne einer sozialen Massnahme erbracht
[30].
Ein Gutachten des Bundesamtes für Justiz kam zum Schluss, dass die
Abgabe steriler Spritzen im Strafvollzug rechtlich zulässig und als aidspräventive Massnahme sogar geradezu geboten sei. Das Gutachten war im Auftrag des BAG erstellt worden, welches bereits zwei Jahre zuvor die mangelnde Aids-Prophylaxe in den Strafanstalten kritisiert hatte
[31].
1991 hatte das Basler Stimmvolk mit deutlichem Mehr einem sehr restriktiven Gesetz über die Reproduktionsmedizin zugestimmt. Weil dieses Gesetz im Widerspruch zum 1992 von Volk und Ständen angenommenen Art. 24decies der Bundesverfassung steht, welcher die In-vitro-Fertilisation (IvF) und die Befruchtung mit Spendersamen ausdrücklich vorsieht, erreichten neun Beschwerdeführer vor Bundesgericht mit einem unter Berufung auf die persönliche Freiheit eingereichten Rekurs, dass das Gesetz in den zentralen Punkten aufgehoben werden muss
[32].
In eine andere Richtung weist die 1992 lancierte
Volksinitiative "für menschenwürdige Fortpflanzung", deren Zustandekommen die Initianten am Ende des Berichtsjahres bekannt geben konnten. Die Initiative will einerseits die Zeugung von Retortenbabies verbieten, andererseits die künstliche Befruchtung mit Spendersamen verhindern
[33].
Das Eidgenössische Versicherungsgericht (EVG) bestätigte seine bereits früher geäusserte Auffassung, wonach
künstliche Befruchtung mit IvF und Embryotransfer nicht zu den Pflichtleistungen der Krankenkassen gehören. Begründet wurde der neue Entscheid damit, dass trotz inzwischen offensichtlich gestiegenen Erfolgsquoten immer noch keine genügenden Erkenntnisse über die Wirksamkeit der Methode vorliegen. Das EVG verwies auch auf den neuen Verfassungsartikel, welcher der Eidgenossenschaft die Kompetenz verleiht, die Fortpflanzungs- und Gentechnologie zu regeln. Damit liege es nun am Parlament, ein Bundesgesetz zu erlassen und darin die Leitplanken für die künstliche Befruchtung zu setzen. Dabei werde möglicherweise auch die Frage entschieden, ob die Kosten für IvF und Embryotransfer von den Krankenkassen zu übernehmen sind oder nicht
[34].
Für die Gentechnologie im ausserhumanen Bereich siehe oben, Teil I, 4c (Expérimentation animale) und unten, Teil I, 8a (Recherche).
[1] Lit. Weiss; Presse vom 25.8.93. Mit dem Gesundheitsbericht wurde ein Postulat des ehemaligen SP-Nationalrates Longet (GE) aus dem Jahre 1986 erfüllt.
[2] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 908 f.
[3] Gesch.ber. 1993, S. 78.
[4] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 567 f.; Suisse, 29.1.93; NZZ, 9.10.93. Nach einem Bundesgerichtsentscheid ist die Zwangsmedikation — insbesondere mit Psychopharmaka — auf dringende Notfälle und eigentliche Akutsituationen zu beschränken (NZZ, 27.7.93; LNN, 22.12.93).
[5] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 566 und 1862 f.
[7] "Gesundheitswesen in acht Ländern: Ausgabenwachstum als Problem der Sozialversicherungssysteme und Privatversicherer", in Sigma, 1993, Nr. 1; Bund, 18.2.93. Zur Kostenentwicklung im Gesundheitswesen und deren Ursachen siehe auch BaZ, 23.8., 30.8., 6.9. und 13.9.93.
[8] Bund, 4.10.93 und 11.1.94.
[9] Schweiz. Gesellschaft für praktische Sozialforschung (GIS), Univox: Sozialversicherung, Adliswil 1993.
[10] NZZ, 14.5.93; BaZ, 13.9.93.
[11] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1392; Amtl. Bull. StR, 1993, S. 1098 ff. Siehe dazu auch die Stellungnahme des BR in Amtl. Bull. NR, S. 657.
[13] Pressemitteilung des BSV vom 16.9.93.
[14] Bundesamt für Statistik, Beschäftigte im Gesundheitswesen, Bern 1993.
[15] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1852 ff.; Amtl. Bull. StR, 1993, S. 1063 ff. Siehe dazu auch die Ausführungen von BR Dreifuss in Amtl. Bull. StR, 1993, S. 741 ff.
[17] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1844 ff.; Amtl. Bull. StR, 1993, S. 1056 ff.
[18] BZ, 15.5.93; BaZ, 24.9.93. Siehe auch SPJ 1992, S. 211.
[19] Amtl. Bull. StR, 1993, S. 743 ff.; Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1918.
[20] Presse vom 19.1 1.93.
[21] Presse vom 17.2.93; NZZ, 17.4.93, Bund, 19.8.93. Siehe dazu auch die Ausführungen des BR in Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1917. Vgl. auch SPJ 1990, S. 208 und 1992, S. 211 f. Eine Studie des österreichischen Bundesinstituts für Gesundheitswesen über die Medikamentenpreise im internationalen Vergleich wies nach, dass die Schweiz die höchsten Arzneimittel-Preise aller OECD-Staaten hat (Bund, 7.9.93). Zu den Generica cf. Presse vom 9.6.93.
[22] Preissenkungen: NQ, 19.2.93; Presse vom 13.5.93; Ww, 16.9.93; Bund, 24.9.93. Langzeitpräparate: Presse vom 2.9.93; SHZ, 16.9.93.
[23] Amtl. Bull. NR, 1993, S. 1849 ff.; Amtl. Bull. StR, 1993, S. 1059 ff. Vgl. A. Dummermuth, Selbstdispensation: Vergleich und Auswirkungen unter besonderer Berücksichtigung der Kantone Aargau und Luzern, Lausanne (IDHEAP) 1993; TA, 13.9.93; SGT, 7.10.93; BZ, 13.12.93. Für die Debatten um das neue Krankenversicherungsgesetz siehe unten, Teil I, 7c (Krankenversicherung). Zum Streit um die Einschränkung der Selbstdispensation im Kanton Bern vgl. Bund, 11.5., 7.8., 23.10., 27.10., 3.11. und 10.12.93; NZZ, 12.7.93.
[24] 24 Heures, 30.10.93; Presse vom 1.2.94.
[25] BAG-Bulletin, 1993, S. 262 ff.; Presse vom 21.4.93.
[26] Presse vom 7.7.93. Siehe auch SPJ 1992, S. 213.
[27] Presse vom 24.3.93; NQ, 23.4.93; Ostschweiz, 22.5.93; TG, 7.8.93. Siehe dazu auch die Stellungnahme des BR in Amtl. Bull. NR, 1993, S. 2013 f. und 2054.
[28] Presse vom 5.11. und 16.11.93; BZ, 18.11.93. Die SRK-Bluspendezentren verpflichteten sich, ihr frischgefrorenes Blutplasma ab 1994 durch die Verwendung einer neuen Testmethode noch HIV-sicherer zu machen (Bund, 20.11.93; NZZ, 27.11.93).
[29] BZ, 29.1.92; Presse vom 30.4., 15.5., 5.6. und 9.8.93; Ww, 20.5.93; NQ, 26.8.93; NZZ, 23.9.93. Siehe auch SPJ 1992, S. 213.
[31] BZ und LNN, 24.3.93. Siehe auch SPJ 1991, S. 213.
[32] Presse vom 23.12.93. Siehe auch SPJ 1991, S. 214 f. und 1992, S. 213 ff.
[33] Bund, 27.12.93. Siehe auch SPJ 1992, S. 215.
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