BRG 01.074: Neugestaltung des Finanzausgleichs

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In der Sommersession befasste sich der Nationalrat als Zweitrat mit der „Neuausgestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen“ (NFA). Die grundsätzlich einen starken Zentralstaat bevorzugende linke Kommissionsminderheit verlangte, auf die Vorlage nicht einzutreten, oder aber sie an den Bundesrat zurückzuweisen mit dem Auftrag, die gesamte Sozialpolitik von der neuen Kompetenzverteilung auszunehmen. Die beiden Anträge wurden nach einer langen Eintretensdebatte mit 114:52 resp. 113:55 Stimmen abgelehnt. In der Detailberatung setzte sich praktisch überall die von der Kommissionsmehrheit unterstützte Ständeratsfassung durch. Insbesondere bestätigte der Rat gegen den Widerstand der SP den Beschluss des Ständerats, das in der Schweiz seit jeher praktizierte Subsidiaritätsprinzip erstmals explizit in die Verfassung aufzunehmen. Trotz staatsrechtlicher Bedenken von linker und bürgerlicher Seite beharrte er mit 94:75 Stimmen darauf, renitente Kantone mit einem Allgemeinverbindlichkeitsbeschluss zu zwingen, sich an der gemeinsamen Aufgabenlösung mit Lastenausgleich zu beteiligen; einzelne Kantone müssen in diesen Fällen Gesetze übernehmen, welche sie selbst in einer Volksabstimmung abgelehnt haben. Bei der neuen Kompetenzverteilung war, wie bereits im Ständerat, der Bereich der Behindertenpolitik am umstrittensten. Konkret kritisierte die Linke, unterstützt von Behindertenorganisationen, den Rückzug des Bundes aus der Mitfinanzierung (über die IV) von Schulen, Werkstätten und Heimen für Behinderte. Sie befürchtete, dass die Kantone nicht Willens oder nicht in der Lage wären, die bisherigen staatlichen Leistungen ohne Einschränkungen fortzuführen. Bei diesem Thema ergab sich im Nationalrat der einzige Abstimmungserfolg für die Linke. Mit Hilfe des Freisinns wurde die Möglichkeit geschaffen, dass gegen kantonale Regelungen, welche als ungenügend erachtet werden, an das Bundesgericht appelliert werden kann. Anders waren die Fronten bei der Festlegung der Beteiligung der reichen Kantone am Lastenausgleich. Hier verlief die Konfliktlinie quer durch das bürgerliche Lager, wo sich die SVP und weitere bürgerliche Abgeordnete aus den wohlhabenderen Kantonen einerseits und CVP- und FDP-Vertreter aus den ärmeren Kantonen sowie die Linke andererseits gegenüber standen. Die zweite Gruppe setzte sich durch und näherte die Obergrenze der Beteiligung der reichen Kantone, welche die kleine Kammer auf 75% der eingesetzten Bundesmittel beschränkt hatte, wieder dem bundesrätlichen Vorschlag einer gleich starken Beteiligung an. Der Rat beschloss, dass dieser Beitrag bis zu 100% ausmachen kann. Gegen den Antrag der Kommissionsmehrheit hielt er an der bisherigen Regelung fest, dass 8 Kantone – und nicht wie vom Ständerat beschlossen lediglich 5 – das fakultative Referendum ergreifen können. In der Gesamtabstimmung verabschiedete der Nationalrat die neuen Verfassungsbestimmungen gegen die Opposition der SP und der GP mit 75:42 Stimmen.

In der Beratung des zur NFA gehörenden Finanzausgleichsgesetzes machte der Nationalrat gegen den Widerstand von SVP und FDP die explizite zeitliche Limitierung des Härteausgleichs, wie sie der Ständerat eingeführt hatte (Abbau um jährlich 5% nach vier Jahren), wieder rückgängig. In der Differenzbereinigung schlug der Ständerat eine Kompromisslösung vor, welche zwar eine Terminierung des Härteausgleichsfonds vorsieht, mit dem Abbau um jährlich 5% jedoch erst nach acht Jahren beginnt. Trotz Protesten der SVP und FDP, für welche diese Übergangsregelung viel zu lange dauerte, stimmte der Nationalrat dem Kompromissvorschlag zu. In der Gesamtabstimmung (121:52 im Nationalrat und 38:3 im Ständerat) ergaben sich dieselben Fronten wie bei der NFA. Das neue Gesetz wird erst nach dem obligatorischen Referendum über die NFA publiziert werden

In der Differenzbereinigung lehnte der Ständerat die vom Nationalrat geschaffene Möglichkeit ab, Entscheide der Kantone im Bereich der Massnahmen zur Wiedereingliederung von Behinderten in letzter Instanz bis vor das Bundesgericht ziehen zu können. Obwohl er zugestand, dass es im Hinblick auf die Volksabstimmung taktisch sinnvoll wäre, diesen Passus beizubehalten, lehnte er ihn aus grundsätzlichen Überlegungen ab, da er den Zielen der aktuellen Justizreform widerspreche. Bei der Höhe der Beteiligung der reichen Kantone am Lastenausgleich sprach er sich gegen die Obergrenze von 100% der Bundesbeiträge aus und erhöhte sein Angebot von 75% auf 80%. In beiden Fragen gab die grosse Kammer auf Antrag ihrer Kommissionsmehrheit nach. In der Schlussabstimmung hiess der Nationalrat die NFA gegen den Widerstand der SP und der GP mit 126:54 Stimmen gut; in der kleinen Kammer lautete das Ergebnis 38:2.

Bei einer tiefen Beteiligung von lediglich 36,9% nahmen Volk und Stände am 28. November 2004 die Verfassungsänderung zur Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA) mit 64,4% Ja-Stimmen an. Abgelehnt wurde die Vorlage nur in den Kantonen Zug (83% Nein), Schwyz (56%) und Nidwalden (53%).


Abstimmung vom 28. November 2004

Beteiligung: 36,9%
Ja: 1 104 565 (64,4%) / 18 5/2 Stände
Nein: 611 331 (35,6%) / 2 ½ Stände

Parolen:
– Ja: CVP (2*), FDP (1*), SVP (6*), LP, EVP, EDU, FP, Lega; economiesuisse, SGV, ZSA, SBV, Gemeindeverband, Städteverband, Tourismusverband, Verband öffentlicher Verkehr.
– Nein: SP (9*), GP, CSP, PdA (1*); SGB, Travail.Suisse, Pro Mente Sana, Sehbehinderte, Hörgeschädigte.
– Stimmfreigabe: SD.
* In Klammer Anzahl abweichender Kantonalsektionen

Im Abstimmungskampf am umstrittensten war die vollständige Zuweisung der Finanzierung der Behindertenheime und -integrationsmassnahmen an die Kantone. Ein Teil der Behindertenorganisationen befürchtete infolge des Wegfalls der Bundessubventionen einen Leistungsabbau und bekämpfte deshalb die NFA. Unterstützt wurde sie dabei von der SP, den Grünen und den Gewerkschaften, welche die Nein-Parole ausgaben, wobei sechs Kantonalsektionen der SP (BE, BL, FR, NW, TG, UR) Annahme empfahlen und zwei die Stimme freigaben (BS, SZ). Die Modernisierung des interkantonalen Finanzausgleichs mit seiner neuen Berechnungsbasis (steuerbare Einkommen und Vermögen) und dem Lastenausgleich zugunsten von Gebirgskantonen und Kantonen mit Grossstädten war an sich nicht bestritten. Da sie aber eine Mehrbelastung von einigen Geberkantonen – und dort möglicherweise Steuererhöhungen – mit sich brachte, regte sich Widerstand. In diesen Kantonen (BL, NW, SZ, ZG, ZH) bekämpfte deshalb auch die SVP die Vorlage.

Gemäss Vox-Analyse am stärksten auf den Stimmentscheid ausgewirkt hat sich das Vertrauen in den Bundesrat. Von den sozialen Merkmalen hatte nur das Haushaltseinkommen einen gewissen Einfluss auf das Abstimmungsverhalten (Gutsituierte nahmen die Vorlage eher an als ärmere Bevölkerungsschichten). Auffallend ist, dass wesentlich mehr Befragte als bei anderen Abstimmungen spontan angaben, der Empfehlung von Bundesrat und Parlament gefolgt zu sein.