Auf die sechs Sitze, die bei den Nationalratswahlen 2023 im Kanton Thurgau zu vergeben waren, bewarben sich 210 Personen auf 36 Listen – und damit deutlich mehr als vor vier Jahren (135 Kandidierende auf 23 Listen). Grund dafür waren vor allem die zahlreichen Unterlisten, welche die GLP (7 Listen) und die Mitte (10 Listen) eingereicht hatten. Gegenüber den letzten Nationalratswahlen gesunken war hingegen der Frauenanteil, der neu bei 37.6 Prozent lag (2019: 43.7%).
Von der bisherigen Thurgauer Delegation in Bundesbern (bestehend aus drei Mitgliedern der SVP und je einem Mitglied der Mitte, der SP und den Grünen) traten die beiden Nationalrätinnen Edith Graf-Litscher (sp, TG) und Verena Herzog (svp, TG) nicht zur Wiederwahl an. Die mediale Aufmerksamkeit galt in der Folge insbesondere diesen beiden frei gewordenen Sitzen. Die Sozialdemokraten versuchten, den Sitz ihrer abtretenden Nationalrätin mit Kantonsrätin Nina Schläfli zu sichern, und taten sich dafür erneut mit den Grünen und den Grünliberalen zu einer «ökologischen Allianz» (TZ) zusammen. Die SVP musste ohne ihre langjährige Verbündete, die EDU, antreten. Diese schloss sich stattdessen mit der Gruppierung Aufrecht – hervorgegangen aus der Protestbewegung gegen die Corona-Massnahmen – zusammen. Erklärt hatte die EDU diesen Schritt mit strategischen Überlegungen; sie versprach sich bei den Grossratswahlen 2024 von den Stimmen der neuen Partnerin zu profitieren. Neben Aufrecht trat neu auch die massnahmenkritische Bewegung Mass-voll mit einer Liste an, jedoch ohne eine Listenverbindung einzugehen. Die FDP bevorzugte eine Zusammenarbeit mit der Mitte und der EVP, nachdem sie bei den letzten Nationalratswahlen ihren Sitz in einer Listenverbindung mit der SVP verloren hatte. Bei der angepeilten Rückeroberung dieses Sitzes zeichnete sich ein listeninterner Zweikampf zwischen dem alt-Nationalrat Hansjörg Brunner und Kantonsrätin Kris Vietze, welche auch für den Ständerat kandidierte, auf den ersten beiden Listenplätzen ab. Die Medien sprachen diesbezüglich von einem Kampf zwischen dem Gewerbe – Brunner war Präsident des Thurgauer Gewerbeverbands – und der Industrie – Vietze war Präsidentin der kantonalen Industrie- und Handelskammer. Von den vier wiederantretenden Bisherigen – Diana Gutjahr (svp), Manuel Strupler (svp), Christian Lohr (mitte) und Kurt Egger (gp) – schrieben die Medien dem Mitte-Nationalrat Lohr die grössten Wahlchancen zu; seine Wiederwahl «scheint so sicher wie das – wenn auch immer weniger zu hörende – Amen in der Kirche», war etwa in der Thurgauer Zeitung zu lesen.
Im Vorfeld der Wahlen sorgte der Thurgauer Gewerbeverband für eine Kontroverse, als er ausschliesslich Kandidierende von der FDP, SVP, Mitte und EDU zur Wahl empfahl, nicht aber seine Verbandsmitglieder Kurt Egger und Peter Dransfeld (beide Grüne) sowie Ueli Fisch und Stefan Leuthold (beide GLP). Letzterer, bis dahin im Vorstand des Frauenfelder Gewerbeverbands, trat als Reaktion gar aus dem Verband aus. Ferner veröffentlichte die Thurgauer Zeitung die bei der EFK offengelegten Wahlkampfbudgets, die aufgrund der neuen Transparenzregeln bei diesen Wahlen zum ersten Mal ausgewiesen werden mussten. Dabei verfügte die stimmenstärkste Partei – die SVP – mit CHF 239'000 auch über das grösste Budget, dicht gefolgt von der FDP mit einem Budget von CHF 232'000. Alle anderen Parteien wiesen deutlich bescheidenere finanzielle Mittel aus; der SP standen CHF 120'000, der Mitte und der GLP je CHF 70'000 und den Grünen CHF 50'000 zur Verfügung. Die EDU, Aufrecht Thurgau und die EVP lagen mit CHF 25'000, CHF 15'000 und CHF 5'000 unter der Deklarationsschwelle von CHF 50'000, dies teilten sie auf Anfrage der Zeitung mit. Das Budget von Mass-voll lag wohl ebenfalls unter der Schwelle, jedoch liessen sie die Anfrage nach genauen Zahlen unbeantwortet. Mit CHF 150'000 verfügte Kris Vietze von der FDP, die sowohl für den National- als auch den Ständerat antrat, über das höchste Budget aller Kandidierenden, wobei CHF 50'000 von ihr selbst finanziert wurden. Den zweiten Platz belegte Pascal Schmid von der SVP; sein Wahlkampfbudget in der Höhe von CHF 129'000 stammte gemäss eigenen Aussagen von über 300 Unternehmen und vielen Einzelpersonen aus dem «breiten bürgerlichen Spektrum».
Bei einer Wahlbeteiligung von 46.6 Prozent (+4.2 Prozentpunkte) konnte die SP am Wahlsonntag den Sitz der abtretenden Edith Graf-Litscher durch die Wahl von Nina Schläfli verteidigen, obwohl sie von den Thurgauer Parteien am meisten Prozentpunkte an Wählendenanteilen verlor (-2.4 Prozentpunkte) und noch auf einen Anteil von 10.2 Prozent kam. Damit blieb sie jedoch die stärkste Partei innerhalb der «ökologischen Allianz». Das nationale Abebben der «grünen Welle» war auch im Thurgau zu spüren, denn Kurt Egger gelang die Wiederwahl nicht und die Grünen konnten ihren Sitz bei einem Wählendenanteil von 8.5 Prozent (-2.1 Prozentpunkte) nicht verteidigen. Auch die GLP verlor 1.5 Prozentpunkte und fiel mit 6.6 Prozent Wählendenanteilen fast auf den Stand von vor der «Klimawahl» 2019 zurück. Hingegen steigerte die SVP ihren Wählendenanteil um 3.6 Prozentpunkte auf 40.3 Prozent. Sie erzielte in allen 80 Thurgauer Gemeinden am meisten Stimmen und konnte – dank Proporzglück, wie die Medien erklärten – den Sitz der nicht zur Wiederwahl angetretenen Verena Herzog durch die Wahl von Pascal Schmid verteidigen. Somit belegt die Volkspartei mit ihren beiden wiedergewählten Bisherigen, Diana Gutjahr und Manuel Strupler, auch zukünftig die Hälfte der Thurgauer Nationalratsmandate. Erfolgreich war auch die Thurgauer FDP, die nach vierjähriger Abwesenheit wieder in Bern vertreten sein wird. Mit einem Wählendenanteil von 10.7 Prozent (-0.8 Prozentpunkte) eroberte sie den Sitz der Grünen durch die Wahl von Kris Vietze, die mit knappen 456 Stimmen Vorsprung auf Hansjörg Brunner die meisten Stimmen in der Partei holte. Wiedergewählt wurde Christian Lohr, dem wie schon 2015 und 2019 der Titel «Panaschierkönig» (TZ) verliehen wurde. Seine Partei, die Mitte, legte 2.6 Prozentpunkte zu und kam neu auf einen Wählendenanteil von 15.3 Prozent. Somit konnte sie die 2019 von der BDP erzielten Wählendenanteile (2.3%) übernehmen. Anders als auf nationaler Ebene hatten die thurgauischen Kantonalsektionen der CVP und BDP nicht fusioniert, stattdessen hatte sich die CVP Thurgau umbenannt und die BDP Thurgau aufgelöst. Ihre Anteile ganz oder fast halten konnten die EDU (2023: 2.8%; keine Veränderung) sowie die EVP (2023: 2.4%; -0.3 Prozentpunkte). Eher bescheiden schnitten die beiden neu angetretenen massnahmenkritischen Listen – Aufrecht Thurgau (2023: 1.9%) und Mass-Voll (2023: 1.1%) – ab. Damit stellt die SVP in der 52. Legislatur drei Nationalratsmitglieder für den Kanton Thurgau sowie die Mitte, die FDP und die SP je einen. Wie bereits in der vorangegangenen Legislatur besteht die Thurgauer Delegation aus drei Männern und drei Frauen.