Streit zwischen Gewerkschaften um den Dienstleistungssektor und Gründung der Unia

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Die bisher vor allem im Bau und in der Chemie verankerte GBI will vermehrt auch in den Dienstleistungssektor vordringen, da es hier mit der gewerkschaftliche Organisation – vor allem auch der Frauen – am schlechtesten bestellt ist. Ein ausserordentlicher Verbandskongress beauftragte am 25. Juni die Leitung, bis 1996 Vorschläge für eine diesbezügliche Gesamtstrategie und konkrete Aktionen auszuarbeiten. Die traditionellerweise im Dienstleistungssektor tätige Gewerkschaft Verkauf, Handel, Transport und Lebensmittel (VHTL) reagierte sofort und heftig auf diese Absichtserklärung. Ihrer Meinung nach sei es nicht zumutbar, dass die seit der Rezession im Baugewerbe unter Mitgliederschwund leidende GBI versuche, den anderen, ebenfalls im SGB organisierten Gewerkschaften die Mitglieder abzujagen.

In Ausführung eines letztjährigen Verbandsbeschlusses machte sich die Leitung der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) an die Konkretisierung des Vorhabens, im Tertiärsektor Fuss zu fassen. Gemeinsam mit dem SMUV kündigte sie an, eine neue Gewerkschaft für das Personal der Bereiche Verkauf, Banken und Versicherungen ins Leben rufen zu wollen. Nach Ansicht der Promotoren ist die bisher – neben diversen Angestelltenverbänden – in diesen Sparten tätige SGB-Gewerkschaft Verkauf, Handel, Transport, Lebensmittel (VHTL) mit ihren gut 20'000 Mitgliedern zu schwach und zu wenig attraktiv, um unter den Angestellten des Dienstleistungssektors eine aktive Mitgliederwerbung zu betreiben. Die VHTL zeigte sich über dieses Vorgehen verärgert und forderte den SGB zum Eingreifen auf. Unterstützt wurde sie dabei auch vom Schweizerischen Kaufmännischen Verband. Im September stimmten die Delegierten der VHTL dann gegen eine Fusion mit einer anderen Organisation (im Gespräch war der VPOD) und lehnten auch ein Mitmachen beim Projekt von SMUV und GBI ab. Der SGB reagierte auf diesen Bruderzwist mit der Einsetzung einer Schiedskommission. Ende November gab die SGB-Leitung auf Anraten dieser Kommission den beiden grossen Gewerkschaften SMUV und GBI recht. Sie erlaubte ihnen die Gründung einer neuen Gewerkschaft für den Dienstleistungsbereich, wobei die Mitgliederwerbung allerdings einige Domänen mit starker VHTL-Präsenz (z.B. Migros, Coop, privates Transportgewerbe) ausklammern soll.

Der gewerkschaftsinterne Konkurrenzkampf um die Vertretung der Beschäftigten des privaten Dienstleistungssektors hielt im Berichtsjahr an. Einen Tag bevor der SMUV und die GBI die formelle Gründung der neuen Gewerkschaft Unia für diesen Sektor ankündigten, gab der bereits in diesem Bereich tätige VHTL bekannt, dass er die Zusammenarbeit mit den beiden nicht dem SGB angehörenden Angestelltenverbänden SKV (Schweizerischer Kaufmännischer Verband) und SBPV (Bankpersonalverband) intensivieren werde. Der Schwerpunkt der Tätigkeit der neuen Gewerkschaft Unia soll im Detailhandel liegen, wo von den rund 300'000 Beschäftigten nur etwa 6% verbandlich organisiert sind. Die Mitgliederwerbung bei den Angestellten einiger der branchenstärksten Firmen (Migros, Coop, Usego) ist der Unia allerdings gemäss einem SGB-Schiedsspruch aus dem Vorjahr untersagt. Erste Erfolge konnte die Unia in ihrem Wettbewerb mit dem VHTL bereits erzielen. Die bisher unabhängige lokale Genfer Gewerkschaft «Actions» (knapp 6'000 Mitglieder) schloss sich der Unia an, ebenso der Tessiner Regionalsekretär des VHTL mit einem Teil der rund 500 Mitglieder zählenden Kantonalsektion. Der SGB nahm an seiner Delegiertenversammlung vom 23. September in Bern die Unia in seine Reihen auf. Gleichzeitig stimmte er auch dem Beitritt der rund 375 Mitglieder zählenden Gewerkschaft der professionellen Fussballspieler (Profoot) zu.