Allgemeine Chronik
Überblick
In den äusseren Bedingungen für das politische Leben der Schweiz liessen sich 1984 gewisse Entlastungen feststellen. Das Verhältnis zwischen den Weltmächten zeigte nach dem personellen Wechsel in der Sowjetunion eine leichte Tendenz zur Entspannung. Auf wirtschaftlichem Gebiet brachte der Aufschwung in den USA auch der Schweiz eine Verbesserung der Konjunktur, von der allerdings einzelne Produktionszweige und eine relativ kleine, aber wachsende Zahl von Beschäftigungslosen ausgeschlossen blieben. Anderseits erfuhren die Beziehungen zu verschiedenen Staaten einige Trübungen, vor allem im Zusammenhang mit der Einführung von Strassenverkehrsabgaben; diese Reibungen weisen auf die Risiken hin, die unser Land mit der Wahrung seiner Souveränität in einer sich zunehmend verflechtenden Welt eingeht.
Obwohl zu Anfang des Jahres starke Kräfte in der Sozialdemokratischen Partei zum Rückzug aus dem Bundesrat drängten, blieb das Konkordanzsystem nach der sogenannten Zauberformel erhalten. Die traditionellen Schichten der einstigen Arbeiterpartei versprachen sich mehr Nach- als Vorteile von einer Rückkehr in die Opposition. Die Lösung der anstehenden Probleme wurde aber weiterhin von den verschiedenen Spannungsverhältnissen behindert. Neben die gewohnten Auseinandersetzungen um staatliche Leistungen und sozialen Ausgleich, die sich hauptsächlich in der Gestaltung der öffentlichen Finanzen auswirken, treten mehr und mehr die neuen Kontroversen um die Erhaltung der Umwelt, die Gleichberechtigung der Geschlechter und ein zeitgemässes Verhältnis zwischen nationaler Sicherheit und internationaler Öffnung.
Als Hemmnisse für Neuerungen erwiesen sich nicht nur die im politischen System angelegten Bremsen des Referendums und des Föderalismus, sondern stärker als bisher auch ein Mangel an Bereitschaft, rechtmässig zustande gekommene Erlasse zu befolgen. So fanden zwar die neuen Strassenverkehrsabgaben eine Mehrheit bei Volk und Ständen, ihre Durchsetzung erschien aber nicht allein wegen Retorsionsmassnahmen des Auslandes, sondern ausserdem wegen der Androhung von Widersetzlichkeiten aus Kreisen des Transportgewerbes gefährdet. Neue Volksinitiativen drohten überdies die plebiszitären Entscheide wieder umzustossen. In ähnlicher Weise wurden vom Bundesrat verfügte Geschwindigkeitsbeschränkungen in Frage gestellt.
Ausser der finanziellen Belastung des Strassenverkehrs, die auch der Sanierung des Bundeshaushalts dienen soll, erhielt endlich eine Verfassungsgrundlage für Radio und Fernsehen die Zustimmung des Souveräns. Weitere wichtige Entscheide, die bereits in Kraft treten konnten, betrafen die Beschaffung eines neuen Kampfpanzers, die das Parlament ohne Referendumsmöglichkeit verabschiedete, sowie ein Sofortprogramm gegen das Waldsterben, das der Bundesrat aus eigener Kompetenz in mehreren Schritten beschloss. Das erste Paket von Massnahmen zur Neuverteilung der Aufgaben zwischen Bund und Kantonen wie auch das Programm für die definitive Einführung verschiedener Regelungen zur Entlastung der Bundeskasse passierten, wenngleich mit Abstrichen, die parlamentarischen Beratungen; ein wesentlicher Teil dieser Beschlüsse bedurfte aber noch der Zustimmung von Volk und Ständen. Immerhin erschien damit die Wiederherstellung des Budgetgleichgewichts nähergerückt. Der von den eidgenössischen Räten gutgeheissene Beitritt der Schweiz zur UNO wartet gleichfalls noch auf den Entscheid des Souveräns. Und schliesslich wurden die lange umkämpfte Revision des Eherechts und die in Wirtschaftskreisen missliebige Innovationsrisikogarantie trotz ihres Kompromisscharakters mit dem fakultativen Referendum angefochten.
Andere bedeutsame Reformen kamen nur langsam voran. Die Bereitschaft zu einer Revision des Bankengesetzes wurde durch die starke Verwerfung einer entsprechenden sozialdemokratischen Initiative etwas gedämpft. In der Krankenversicherungsfrage suchte man aus der Vielfalt von Vorstössen und Volksbegehren den Ausweg mit einem reduzierten «Sofortprogramm». Die geringe Neigung des Parlaments, zusätzliche Aufgaben an die Hand zu nehmen, kam bei der Beratung der Richtlinien für die neue Legislaturperiode zum Ausdruck: der Bundesrat wurde zu einer stärkeren Abstufung der Prioritäten verpflichtet. Wo allerdings ausserordentliche Entwicklungen die Bevölkerung beunruhigen, sei dies nun das Waldsterben oder der Andrang von Drittweltflüchtlingen, kann sich das Gesetzgebungstempo beschleunigen.
Von den sechs zum Entscheid gelangenden Volksbegehren vermochte keines durchzudringen. Nahe an ein Volksmehr kam die Initiative der Nationalen Aktion, die den Grundstücksverkauf an Ausländer im Prinzip verhindern wollte; sie bewirkte immerhin eine Verschärfung der geltenden Regelungen. Nur knapp verworfen wurden auch die beiden Energieinitiativen, deren eine auf weite Sicht eine völlige Abkehr von der Atomkraft gebracht hätte. Geringeren Erfolg ernteten die Begehren für einen Zivildienst aufgrund des sogenannten Tatbeweises, für eine strengere Kontrolle des Bankwesens und für eine Mutterschaftsversicherung mit Elternurlaub. Die breiteste Unterstützung gewannen somit die auf Umweltfragen bezogenen Volksinitiativen.
Die neuen Probleme und Polaritäten des politischen Lebens machen allen traditionellen Parteien zu schaffen, nicht nur den Sozialdemokraten, die freilich im Ringen um ihren zukünftigen Kurs am meisten Wähler verloren haben. Dass auch die Interessenverbände von solchen Desintegrationserscheinungen nicht verschont bleiben, zeigte namentlich das Auftreten dissidenter Gruppen im Kampf gegen Einschränkungen im Strassenverkehr. Selbst die Bestellung der Landesregierung erfolgt nicht mehr immer nach reinem Parteienkalkül. Als die Bundesversammlung mit Elisabeth Kopp die erste Frau und zugleich eine für Umweltfragen offene Politikerin in die Landesregierung wählte, wurden Konstellationen wirksam, die sich nicht mit den parteipolitischen Formationen deckten.