Année politique Suisse 1989 : Sozialpolitik / Soziale Gruppen
 
Ausländerpolitik
print
Modell für eine koordinierte Migrationspolitik
Im Vorfeld der sechsten Überfremdungsinitiative hatte sich die Vorsteherin des EJPD heftig dagegen gewehrt, Asyl- und Ausländerproblematik zu vermengen und die Zahl der Flüchtlinge — wie dies die Initiative wollte — einem globalen Ausländerkontingent zu unterstellen [1]. Genau diese Idee nun nahm der anfangs April vorgestellte und von einer interdepartementalen Arbeitsgruppe unter Führung des Delegierten für das Flüchtlingswesen (DFW) ausgearbeitete "Strategiebericht für eine Flüchtlings- und Asylpolitik der neunziger Jahre" wieder auf, indem er für eine "ganzheitliche Migrationspolitik" plädierte. Die traditionelle Unterscheidung in Flüchtlinge und Ausländer sollte durch Kontingente für sämtliche Einwanderer ersetzt werden, die alle ein bis zwei Jahre neu festgelegt werden könnten [2]. Diese Verquickung von Asyl- und Ausländerpolitik stiess sowohl bei den Kantonen wie bei den Parteien, den Sozialpartnern und den Flüchtlingsorganisationen auf breite Ablehnung. Opposition erwuchs diesem Modell aber auch innerhalb der Bundesverwaltung: neben dem Biga meldeten auch das Bundesamt für Ausländerfragen (BFA) und die Eidgenössische Kommission für Ausländerprobleme (EKA) grundsätzliche Bedenken an [3].
top
 
print
Fremdenfeindlichkeit
In einem am 14. September vom Fernsehen DRS ausgestrahlten Streitgespräch mit dem Schriftsteller Peter Bichsel, der wiederholt auf die Fremdenfeindlichkeit in der Schweiz hinwies, erwiderte Bundesrat Cotti: "Ich bitte Sie, nicht von Fremdenhass zu sprechen; es gibt solche Erscheinungen, aber die breite Bevölkerung ist nicht so" [4]. Eine Repräsentativumfrage zum Thema "Ausländer in der Schweiz", die im Auftrag der Schweizerischen Gesellschaft für politische und wirtschaftliche Forschung durchgeführt wurde, zeigte die diesbezüglich ambivalente Haltung der Schweizer. Mehr als 70% der Befragten teilten die Meinung, wonach das Leben in der Schweiz ohne Ausländer viel eintöniger wäre. Gleichzeitig erklärten sich aber auch rund drei Viertel mit der Aussage, für gereizte Reaktionen von Schweizern gegenüber Ausländern ein gewisses Verständnis zu haben, einverstanden. Frauen, Landbewohner und Deutschschhweizer erwiesen sich dabei als ausländerfeindlicher als Männer, Stadtmenschen und Westschweizer [5]. Auf fremdenfeindliche Ausschreitungen rechtsextremistischer Gruppierungen oder Einzelpersonen, bei denen im Berichtsjahr sechs Asylbewerber ihr Leben verloren, wird an anderer Stelle eingegangen (siehe oben, Teil I, 1b, Öffentliche Ordnung).
top
 
print
Ausländische Bevölkerung
Ende 1989 lebten – internationale Funktionäre, Saisonniers und Asylbewerber nicht mitgezählt – 1 040 325 Ausländer in der Schweiz, 3,4% mehr als ein Jahr zuvor. Der Anteil der ausländischen Wohnbevölkerung an der Gesamtbevölkerung stieg somit von 15,3 auf 15,6% an. Davon waren 74,2% (772 027) Niedergelassene und 25,8% (268 298) Jahresaufenthalter. Das grösste Kontingent stellten weiterhin die Italiener mit 36,6%, doch ist deren Anteil seit zwanzig Jahren deutlich rückläufig (1970: 53,6%). Der Anteil der Spanier und Türken ist seit Jahren relativ konstant (ca. 11 bzw. ca. 5%), während die Portugiesen gegenüber dem Vorjahr von 4,9 auf 7,1 und die Jugoslawen von 8,9 auf 11,6% zunahmen [6]. 631 811 Ausländerinnen und Ausländer gingen am Jahresende in der Schweiz ihrer Arbeit nach, 24 002 oder 3,9% mehr als im Vorjahr. Der Bestand der Grenzgänger nahm um 11,6% auf 167 259 zu. Ende August, im Zeitpunkt des saisonalen Höchststandes der Beschäftigung, standen 904 095 Ausländer – wovon 120 000 Saisonniers – im Erwerbsleben, was einer Zunahme gegenüber dem Vorjahr von 4,6% entspricht. Der nach wie vor hohe Stand der ausländischen Wohnbevölkerung ist vor allem auf die anhaltend günstige Konjunkturlage, die vermehrte Einwanderung, den Familiennachzug, den Geburtenüberschuss und die abnehmende Zahl von Einbürgerungen zurückzuführen [7].
top
 
print
Zulassungspolitik
Die Fremdarbeiterpolitik stand – wie schon in den vergangenen Jahren – gleich doppelt unter Beschuss. Vornehmlich aus humanitären Gründen (Verbot des Familiennachzugs, weitgehend fehlende soziale Sicherheit) machen sich Gewerkschaften und ihnen nahestehende Kreise schon seit geraumer Zeit für die Abschaffung des Saisonnierstatuts stark. Dieses Bestreben stand denn auch im Zentrum der diesjährigen Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft Mitenand, an deren Spitze neu die Baselbieter SP-Nationalrätin Angeline Fankhauser trat. Die Gewerkschaften bekämpfen aber auch die Ausdehnung der Kurzarbeitsbewilligungen, da damit das Saisonnierstatut unterlaufen und ein neues Subproletariat geschaffen werde. Unterstützung fanden sie beim Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK) und bei der Schweizerischen Bischofskonferenz (SBK), die sich sowohl gegen das Saisonnierstatut wie gegen den Ausbau der Kurzarbeitsbewilligungen aussprachen [8]. Wenn auch aus anderen – mehr volkswirtschaftlichen und europapolitischen – Überlegungen heraus, erachtete Biga-Direktor K. Hug das Saisonnierstatut auf die Dauer ebenfalls als kaum haltbar. Da sich die Schweizer Wirtschaft immer stärker auf die moderne Technologie ausrichte, sei über kurz oder lang eine Verlagerung von den ungelernten Saisonniers hin zu hochqualifizierten ausländischen Berufs- und Kaderleuten anzustreben. Eine namhafte Erhöhung des Biga-Kontingents für qualifizierte ausländische Arbeitskräfte — ohne gleichzeitige Veränderung des gesamten Ausländerbestandes — verlangte auch ein überwiesenes Postulat Bremi (fdp, ZH) [9].
Andererseits fordert die Wirtschaft — allen voran Hotellerie und Gewerbe — immer mehr ausländische Arbeitskräfte. Unter dem Druck der Kantone und der Wirtschaftsverbände gab der Bundesrat — erstmals seit Bestehen der zahlenmässigen Beschränkungen — auf den 1. April die Restkontingente in allen Kategorien frei. Eine weitere Erhöhung der Kontingente lehnte er aber aus längerfristigen wirtschaftlichen und bevölkerungspolitischen Gründen ab [10]. Im Oktober verabschiedete er eine revidierte Verordnung über die Begrenzung der Zahl der Ausländer (BVO) sowie die Ausländerregelung 1989/90. Damit wurde die automatische Ausschöpfung der Kontingente für Jahresaufenthalter und Saisonniers eingeführt, die kontingentierten Kurzaufenthaltsbewilligungen angehoben und das Biga-Kontingent für qualifizierte Arbeitskräfte von 12 auf 18 Monate erstreckt. Den weiteren Wünschen von 15 Berg- und Tourismuskantonen, die Ende März in einer gemeinsamen Eingabe eine flexiblere Fremdarbeiterpolitik gefordert hatten — nur eine Bewilligung für Winter- und Sommersaison im gleichen Betrieb, Verlängerung der Kurzaufenthaltsdauer von drei auf vier Monate und eine Verkürzung der Karenzfristen —, kam die Regierung einzig bei der zeitlichen Erstreckung der Kurzarbeitsbewilligungen nach. Um dem Gerangel der Kantone um Kontingente ein Ende zu setzen, machte er die beabsichtigte 20%ige Umverteilung rückgängig und blieb beim alten Verteilschlüssel [11].
Dass der Bundesrat mit seinem Festhalten am Stabilisierungsziel Rückhalt in der Bevölkerung finden würde, zeigte eine Umfrage, bei der sich 70% der Schweizerinnen und Schweizer für eine Stabilisierung oder Reduktion der Einwanderung aussprachen. Nur 10% votierten für den Wegfall sämtlicher Beschränkungen. 45% waren für eine Beibehaltung des Saisonnierstatuts, 46% dagegen, wobei 35% dafür humanitäre Gründe angaben [12].
top
 
print
Gesellschaftliche Integration
Der Bundesrat entsprach dem Wunsch, den der spanische Premierminister Felipe Gonzales anlässlich seines offiziellen Besuches in Bern 1988 geäussert hatte, und setzte die Aufenthaltsdauer zur Erlangung der Niederlassungsbewilligung für spanische Gastarbeiter von 10 auf 5 Jahre herab. Gleichlautende Vereinbarungen sollen — ebenfalls unter Wahrung des Reziprozitätsprinzips — mit Deutschland, Osterreich und Portugal getroffen werden [13].
Während die Diskussionen um die Einführung des Stimm- und Wahlrechts für Ausländer auf kommunaler oder kantonaler Ebene weiterhin an Ort treten, gewährte der Bundesrat der ausländischen Wohnbevölkerung einen erleichterten Zugang zu ihren politischen Rechten in ihrem Herkunftssland. So beschloss er, ein seit 1920 geltendes Verbot aufzuheben und den Ausländern zu erlauben, sich von der Schweiz aus brieflich an Wahlen oder Abstimmungen in ihrem Heimatland zu beteiligen. Nach wie vor bleibt es aber untersagt, Urnen in den Botschaften oder Konsulaten aufzustellen [14].
Einen wesentlichen Bestandteil der Integrationsproblematik bilden die Kinder und Jugendlichen der 2. Generation. Im Schuljahr 1988/89 besuchten 122 000 Schüler ausländischer Herkunft (17,5% der Volksschüler) die obligatorische Schule, wo sie in den Sonderschulen, den niedrigen Schultypen der Oberstufe und in den weniger begehrten Bereichen der nachobligatorischen Ausbildung deutlich übervertreten waren. Dabei wurde klar, dass nicht der Pass über die Chancen eines Kindes im schweizerischen Bildungssystem entscheidet, sondern in erster Linie die sprachliche Integration. Deshalb hat in den letzten Jahren auch ein pädagogisches Umdenken stattgefunden: während früher voll auf Assimilation gesetzt wurde, wird heute bewusst die zweisprachige und interkulturelle Erziehung der Migrantenkinder gefördert, bei welcher der Muttersprache ebensolche Bedeutung beigemessen wird wie der Zweitsprache, und bei der die angestammte Kultur des ausländischen Schülers in die Unterrichtsgestaltung einbezogen wird [15]. Für die bereits im Erwerbsleben integrierten jungen Ausländer und Ausländerinnen wurde hingegen der Umstand, das schweizerische Bügerrecht nur durch Verzicht auf dasjenige des Heimatstaates erlangen zu können, als hauptsächlichste Hemmschwelle für eine völlige Integration betrachtet [16].
 
[1] Siehe SPJ 1988, S. 211 ff. Denselben Standpunkt nahm BR Kopp auch noch in einem am Tag ihres Rücktritts unterzeichneten Schreiben an die Gewerkschaft Bau und Holz (GBH) ein, in welchem sie zum Vorschlag des Genfer Polizeidirektors, türkischen Asylbewerbern das Saisonnierstatut zu gewähren, ablehnend Stellung nahm (Bund und BaZ, 26.1.89; zum Genfer Vorschlag siehe auch SPJ 1988, S. 217 f.).
[2] Presse vom 5.4.89; A. Koller, "Situation im Asylbereich", Documenta, 1989, Nr. 2, S. 10 ff.; L'Hebdo, 6.4.89 (Arbenz).
[3] BaZ, 21.8.89 (SVP); L'Hebdo, 31.8.89; Vat. und BZ, 1.9.89; Bund, 4.9.89; NZZ, 5.9.,15.9. und 22.12.89; BaZ, 8.9.89. Zur den Migrationen siehe Lit. Straubhaar und Lit. Kälin / Moser; WoZ, 24.2.89 und TA, 4.4.89; BZ, 29.4.89 (Bericht über ein internationales Symposium in Bern); TA, 6.11.89 und SGT, 13.9.89 (Interviews mit H.-J. Hoffmann-Nowotny).
[4] LNN, 27.11.89.
[5] Bund, 11.11.89. Mehrheitlich wurden die Gründe für rassistisches Verhalten in der sozialen Verunsicherung des Einzelnen gesehen (TA, 17.10. und 11.11.89; Bund, 21.10.89; LNN, 9.12.89; BaZ, 18.12.89). Es wurde auch auf die sexuelle Komponente hingewiesen, die dazu führt, dass Ausländer, Homosexuelle und Aidsinfiszierte in einen Topf geworfen werden (Vr, 7.4.89; JdG, 31.5.89; TA, 7.6.89).
[6] BA für Ausländerfragen, Die Ausländer in der Schweiz, Statistischer Bericht, Bern 1989.
[7] Schriftliche Information des BA für Ausländerfragen; Gesch.ber. 1989, S. 192 ff.; Presse vom 28.1.89.
[8] Arbeitsgemeinschaft Mitenand: BaZ, 31.3. und 10.4.89; TA, 10.4.89; NZZ, 12.4.89. Gewerkschaften: SGB, 2, 12.1. und 32, 26.10.89; TW, 24.2.89; Ww, 7.9.89; Bund, 19.10.89. Kirchen: NZZ, 30.8.89.
[9] Presse vom 7.1.89 und 6.1.90; K. Hug, "Arbeitsmarktpolitik mit veränderten Vorzeichen", in Schweizer Monatshefte, 69/1989, S. 987 ff.; Die Volkswirtschaft, 62/1989, Nr. 5, S. 8 ff.(mehrere Artikel zur Ausländerpolitik). Postulat: Amtl. Bull. NR, 1989, S. 1736. Siehe dazu auch oben, Teil I, 7a (Arbeitsmarkt).
[10] AS, 1989, S. 501 ff.; Presse vom 23.3.89.
[11] AS, 1989, S. 2234 ff.; Presse vom 29.6. und 19.10.89. Kantone: NZZ, 4.1. und 25.5.89; Presse vom 3.30.89.
[12] SHZ, 28.9.89.
[13] NZZ und TLM, 21.4.89 (Spanien); schriftliche Information aus dem BA für Ausländerfragen (übrige).
[14] Presse vom 13.4.89. Keinen Nutzen aus diesem Entscheid ziehen vorerst die Italiener und die Jugoslawen, denen Gesetze des eigenen Landes eine persönliche Stimmabgabe vorschreiben.
[15] Schriftliche Information aus dem BA für Ausländerfragen (Schülerstatistik); NZZ, 23.11.89 (Stand und Perspektiven der zweisprachigen Erziehung); CdT, 5.4.89 (Zusammenarbeit mit den italienischen Behörden); Arbeitsgruppe des EDI, Zustand und Zukunft der viersprachigen Schweiz, Bern 1989, S. 98 ff. Zur menschenunwürdigen Situation der heimlich in die Schweiz eingereisten Kinder von Saisonniers siehe Ww, 25.5.89 und NZZ, 11.12.89.
[16] Zur Situation der 2. Generation siehe Eidg. Kommission für Jugendfragen, Fremdsein in der Schweiz, Bern 1989 (Auswertung eines Wettbewerbs unter Jugendlichen); Lit. Rakic / Terenziani und Lit. Calabria et al; BaZ, 25.9.89 (Äusserungen des Präsidenten der Federazione Colonie Libere Italiane). Zum Doppelbürgerrecht siehe oben, Teil I, 1b (Stimm- und Bürgerrecht).