Année politique Suisse 1991 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Parlament
Nach der im Herbst 1990 erfolgten Überweisung der
parlamentarischen Initiativen Petitpierre (fdp, GE)
und Rhinow (fdp, BL) für eine weitere Reform des Parlaments, machten sich Kommissionen beider Räte unverzüglich an die Arbeit. Im Sinne einer Arbeitsteilung befasste sich die Nationalratskommission mit der Parlamentsreform und diejenige des Ständerates mit den ebenfalls im Vorjahr überwiesenen Vorstössen Petitpierres und Rhinows für eine Regierungsreform
[26].
Bereits im Mai konnte die Nationalratskommission ein erstes Paket von Reformvorschlägen präsentieren. Dieses hat den Vorzug, rasch – d.h. ohne Verfassungsänderungen – realisierbar zu sein und steht primär im Zeichen einer Professionalisierung der Parlamentsarbeit. Die angestrebten Neuerungen betreffen folgende fünf Bereiche: Permanenz und Kontinuität der parlamentarischen Tätigkeit, Mitwirkung an der Aussenpolitik, Koordination beider Räte, Führung und Planung sowie Arbeitsbedingungen der Parlamentarier. In einer zweiten, späteren Phase will sich die Kommission namentlich mit der Delegation von Entscheidungskompetenzen in Kommissionen, den Beziehungen des Parlaments zur Offentlichkeit sowie Fragen, welche sich möglicherweise aus einer grundlegenden Regierungsreform oder aus dem europäischen Integrationsprozess ergeben, befassen.
Formal beantragte die Kommission eine Teilrevision des Geschäftsverkehrsgesetzes und des Geschäftsreglements des Nationalrats, eine Teilrevision des Entschädigungsgesetzes, die Schaffung eines neuen Bundesgesetzes über die Infrastrukturkosten der Fraktionen und der Mitglieder der eidgenössischen Räte sowie Bundesbeschlüsse zu den beiden letzterwähnten Gesetzen.
Damit das Parlament kontinuierlich arbeiten und die Sachkenntnisse seiner Mitglieder besser nutzen kann, sollen ständige, regelmässig tagende Kommissionen geschaffen werden, welche sämtliche Gebiete der Bundespolitik abdecken. Die nichtständigen Kommissionen, welche bisher bei rund der Hälfte aller wichtigen Gesetzgebungsarbeiten zum Zuge kamen, sollen nur noch ausnahmsweise gebildet werden. Zur Unterstützung seiner Arbeit sollte das Parlament zudem auch ausserparlamentarische Expertenkommissionen einsetzen können. Da sich mit der wachsenden Bedeutung supranationaler Organisationen wie GATT oder EG die Grenzen zwischen Innen- und Aussenpolitik immer mehr verwischen, soll der Einfluss des Parlaments auf die Aussenpolitik vergrössert werden. Dabei möchte die Kommission die verfassungsmässige Kompetenzordnung nicht antasten, sondern einen intensiven Konsultationsprozess zwischen Parlament, Bundesrat und Verwaltung etablieren. Die Planung und Koordination der Tätigkeiten der beiden Kammern soll vor allem durch eine Aufwertung der 1984 geschaffenen Koordinationskonferenz verbessert werden; zudem soll der Nationalrat seine beiden Führungsorgane, das Büro und die Fraktionspräsidentenkonferenz zusammenlegen. Das Differenzbereinigungsverfahren zwischen den beiden Ratskammern soll verkürzt werden, indem bereits nach zwei statt nach drei Verhandlungsrunden eine Einigungskonferenz in Funktion tritt.
Da die Zeitnot der Ratsmitglieder ein wesentliches Hemmnis für die effiziente Bewältigung der immer anspruchsvoller werdenden parlamentarischen Arbeit darstellt, beantragte die Kommission eine massive Erhöhung der Entschädigungen. Die vorgeschlagene Erhöhung des Grundbeitrags von 12 000 auf 80 000 Fr. und der Sitzungsgelder von 300 auf 400 Fr. pro Tag (zusammen ca. 120 000 Fr./Jahr), Beiträge an die Altersvorsorge und die Bezahlung einer Überbrückungshilfe beim Ausscheiden aus dem Parlament würden es den Abgeordneten erlauben, sich voll auf ihr politisches Mandat zu konzentrieren. Damit würden in der Schweiz ähnliche Verhältnisse geschaffen wie in anderen Staaten, indem für die Parlamentarier die Ausübung einer zusätzlichen Erwerbsarbeit nicht mehr notwendig, aber auch nicht verboten ist.
Die Kommission möchte ebenfalls die zur Verfügung gestellte Infrastruktur den Verhältnissen, wie sie in anderen europäischen Ländern herrschen, anpassen. Neben einem
Ausbau der allgemeinen Parlamentsdienste – insbesondere die Einrichtung eines eigenen Übersetzungsdienstes – schlug sie vor, jedem Ratsmitglied einen eigenen Arbeitsplatz sowie einen Kredit von jährlich 60 000 Fr. zur
Einstellung von persönlichen Mitarbeitern zur Verfügung zu stellen und den bereits bisher gewährten Infrastrukturbeitrag von 18 000 auf 24 000 zu steigern. Bei einer Realisierung all dieser Vorschläge würden die Kosten für das Parlament (inkl. Parlamentsdienste) von gegenwärtig rund 30 auf 74 Mio Fr. pro Jahr steigen
[27].
Der
Bundesrat begrüsste in seiner Stellungnahme die allgemeine Stossrichtung der Reformvorlage. Im Einzelnen äusserte er sich hingegen skeptisch zur Einsetzung von parlamentarischen Expertenkommissionen. Am deutlichsten fiel seine Kritik bezüglich der vorgeschlagenen Ausgestaltung der Mitwirkung des Parlaments bei der Aussenpolitik aus. Er lehnte insbesondere die Vorschrift, dass der Bundesrat bei der Formulierung von Verhandlungsmandaten die Meinung von Parlamentskommissionen berücksichtigen müsse, als unzulässige Kompetenzverschiebung ab. Er sprach sich auch dagegen aus, dass Parlamentarier als Beobachter an internationalen Verhandlungen auf Regierungsebene teilnehmen
[28].
Der Nationalrat befasste sich in der Sommersession mit dem Reformpaket. Kornmissionssprecher Hubacher (sp, BS) betonte, dass es nicht darum gehe, ein Berufsparlament zu schaffen, sondern die Arbeitsbedingungen eines Milizparlaments zu optimieren. Trotzdem begründeten Stucky (fdp, ZG) und Nebiker (svp, BL) ihre von der Mehrheit der SVP-Fraktion unterstützten Rückweisungsanträge unter anderem mit dem Argument, dass die Vorschläge zumindest tendenziell eine Abkehr vom Milizparlament darstellten. Sowohl in bezug auf die erwartete Verfügbarkeit der Parlamentarier für die Mitarbeit in den ständigen Kommissionen, als auch in bezug auf die Entschädigung werde die Ausübung des politischen Mandats eindeutig vor die Berufstätigkeit gestellt. Der Rat lehnte die Rückweisungsanträge mit 118 zu 31 Stimmen ab.
In der Detailberatung wurde auf die Möglichkeit der Einsetzung von Expertenkommissionen durch das Parlament verzichtet. Der Übergang zu einem System mit ausschliesslich ständigen Kommissionen hiess der Rat gegen den Widerstand der SVP gut. Ein Antrag auf eine Amtszeitbeschränkung für Kommissionsmitglieder wurde mit dem Argument abgelehnt, dass es bei diesem neuen System ja gerade darum gehe, vom akkumulierten Wissen der Parlamentarier zu profitieren. Erst in zweiter Lesung des Geschäftsreglementes wurde dann auch der Kommissionsvorschlag gutgeheissen, dass eine Kommission die Anhörung von Interessenvertretern und Experten (sog. Hearings) öffentlich durchführen kann. Beim Ausbau des parlamentarischen Einflusses auf die Aussenpolitik trug der Nationalrat den Einwänden der Exekutive weitgehend Rechnung. Er beschloss, die vom Bundesrat vorzunehmende Konsultation von Parlamentskommissionen auf die generellen Richtlinien von Verhandlungsmandaten zu beschränken und auf die Entsendung von begleitenden parlamentarischen Beobachtern an Regierungskonferenzen zu verzichten
[29].
Umstrittener waren die Vorschläge zur materiellen Besserstellung der Nationalräte und zu den Entschädigungen für persönliche Mitarbeiter. Neben den bereits in der Eintretensdebatte formulierten Einwänden gegen eine Entwicklung in Richtung Berufsparlament gaben die Gegner vor allem zu bedenken, dass eine derart massive Erhöhung beim Volk auf Unverständnis stossen und ein Referendum provozieren würde. Auf Antrag Fischer (svp, AG) wurde die Grundentschädigung von 80 000 auf 50 000 Fr. reduziert; zugestimmt wurde der Erhöhung des Taggeldsatzes auf 400 Fr. sowie dem Beitrag an die Altersvorsorge und der Auszahlung einer Überbrückungshilfe.
Hari (svp, BE) und Schmidhalter (cvp, VS) bekämpften auch die Einstellung von persönlichen Mitarbeitern. Ihre Anträge, einen reduzierten Beitrag zur Einstellung wissenschaftlicher Mitarbeiter durch die Fraktionen zu bewilligen, fand aber keine Mehrheit. Der für diese persönlichen Mitarbeiter – welche gemäss einem gutgeheissenen Antrag Haller (sp, BE) nicht nur für die parlamentarische Arbeit, sondern auch für die berufliche Entlastung eingesetzt werden können – zur Verfügung stehende Beitrag wurde allerdings von 60 000 auf 40 000 Fr. reduziert
[30].
Im
Ständerat, der sich in der Herbstsession mit dem Reformpaket befasste, waren Befürchtungen nicht zu überhören, dass damit das Milizsystem mit seinen nebenamtlichen Politikern begraben werde. Zwar wurde kein Nichteintretensantrag gestellt, aber bei den bewilligten Mitteln kam es zu weiteren Kürzungen. Die Bezahlung einer Übergangsentschädigung an zurücktretende oder nicht wiedergewählte Parlamentarier wurde sogar ganz gestrichen. Besonders umstritten war der Grundsatz einer Entschädigung für persönliche Mitarbeiter. Nachdem ein Streichungsantrag Reichmuth (cvp, SZ) mit 19 zu 10 unterlegen war, halbierte der Rat den vom Nationalrat bewilligten Betrag auf 20 000 Fr. In der Frage der Vereinfachung der Parlamentsarbeit beschloss der Ständerat die Beibehaltung des dreistufigen Differenzbereinigungsverfahrens. Bei der Revision ihres eigenen Geschäftsreglements beschloss die kleine Kammer, für Ständeräte eine Amtszeitbeschränkung von sechs Jahren für den Einsitz in die ständigen Kommissionen festzulegen
[31].
Der Nationalrat schloss sich weitgehend der kleinen Kammer an. Vorerst beharrte er zwar auf der
Verkürzung des Differenzbereinigungsverfahrens von drei auf zwei Phasen und auf dem Beitrag für persönliche Mitarbeiter von 40 000 Fr. Er gab dann aber in der Frage der Differenzbereinigung nach und stimmte dem Kompromissvorschlag des Ständerats für einen Beitrag für persönliche Mitarbeiter von 30 000 Fr. zu. Aber auch in der Volkskammer blieb diese neue Entschädigung bis zuletzt grundsätzlich umstritten. Ein Streichungsantrag Stucky (fdp, ZG) unterlag zwar, vermochte aber immerhin 39 Stimmen auf sich zu vereinigen
[32].
Während der Debatte im Parlament hatte kein Gegner offen mit dem
Referendum gedroht. Verschiedentlich waren freilich Anträge auf Kürzungen der vorgeschlagenen Entschädigungen mit dem Argument begründet worden, dass damit ein Referendum verhindert werden könne. Die vorgenommenen Reduktionen genügten aber offenbar nicht: Ende Oktober kündigten vier Studenten der Handelshochschule St. Gallen an, dass sie mit der Unterschriftensammlung für Volksabstimmungen über alle drei Teile der Vorlage (Geschäftsverkehrs-, Entschädigungs- und Infrastrukturgesetz) beginnen würden. Einige bürgerliche Parlamentarier – unter ihnen die Nationalräte Blocher (svp, ZH) und Stucky (fdp, ZG) – sowie der Schweizerische Gewerbeverband sicherten sofort ihre Unterstützung zu. Trotz der politischen Unerfahrenheit des Referendumskomitees wurde die Kampagne gegen das als Schritt in Richtung Berufsparlament charakterisierte Reformpaket äusserst professionell organisiert: mit der Öffentlichkeitsarbeit und der UnterschriftenSammlung wurde ein St. Galler Werbebüro betraut
[33].
Die Realisierung des im Reformpaket enthaltenen Vorschlags, dass sämtliche Parlamentarier im
Bundeshaus über einen eigenen Arbeitsplatz verfügen sollen, erfordert
zusätzliche Raumkapazitäten. Die nationalrätliche Kommission für Parlamentsreform liess zuerst zwei Machbarkeitsstudien für die Unterbringung neuer Büroräume erstellen und beauftragte dann den Tessiner Stararchitekten Mario Botta, seinen Entwurf für einen Erweiterungsbau weiter zu entwickeln
[34].
Mit relativ knappem Mehr lehnte der Nationalrat eine parlamentarische Initiative Jeanprêtre (sp, VD) für vermehrte Transparenz in bezug auf die Einkommensverhältnisse der Ratsmitglieder ab. Die Initiantin hatte verlangt, dass die Abgeordneten nicht nur ihre beruflichen Aktivitäten und Mandate deklarieren sollen, sondern auch die daraus erzielten Einkünfte
[35].
Das Büro des Nationalrates unterbreitete dem Plenum seinen Vorschlag für die Realisierung der 1987 überwiesenen Motion der SP-Fraktion für die
Installierung eines elektronischen Abstimmungssystems. Sie schlug darin eine auf 1,6 Mio Fr. budgetierte Anlage vor, welche grösstmögliche Flexibilität ermöglicht. Die von der Kommission formulierten Anwendungsregeln sehen vor, dass das individuelle Stimmverhalten nur dann gespeichert und transparent gemacht werden soll, wenn dies von 30 Ratsmitgliedern verlangt wird (analog zur heutigen Namensabstimmung). In allen anderen Fällen würde die Anlage vom Präsidenten zwar eingesetzt werden können, aber nur als reine Zählmaschine funktionieren. Der Vorlage erwuchs sowohl wegen der budgetierten Kosten als auch wegen der restriktiven Vorschriften über den vorgesehenen Einsatz Opposition. Zwei Rückweisungsanträge von Blocher (svp, ZH) wegen der Kosten und von Leuenberger (sp, SO) wegen der Einsatzmöglichkeiten fanden knappe Zustimmung
[36].
Bei der Behandlung des
Vorgehens bei der politischen Planung stellte sich der Ständerat bezüglich der Beratung der Richtlinien des Bundesrates zur Legislaturplanung gegen die Entscheide des Nationalrats. Er lehnte es ab, die Legislaturplanung durch die Fraktionen anstelle einer Kommission vorberaten zu lassen und die Richtlinienmotionen durch Planungserklärungen der Fraktionen zu ersetzen. Die Volkskammer fügte sich in der Differenzbereinigung diesem Verdikt. Da sie sich von der Vorberatung durch die Fraktionen aber eine Straffung der Plenumsdebatte verspricht, verankerte sie in ihrem eigenen Ratsreglement die Bestimmung, dass die Fraktionen die Richtlinien vorberaten und ihre Stellungnahmen der Kommission mitteilen
[37].
Der Nationalrat überwies eine parlamentarische Initiative Ruf (sd, BE), welche fordert, dass für die
Behandlung von parlamentarischen Initiativen — ähnlich wie bei den Volksinitiativen — eine zeitliche Gesamtfrist und ein verbindlicher Zeitplan für die einzelnen Phasen der Bearbeitung festzulegen sind
[38].
Der Bundesrat blieb bei seiner ablehnenden Haltung zum
Vorschlag der GPK für die Bildung einer annähernd mit den Kompetenzen einer parlamentarischen Untersuchungskommission ausgestatteten Delegation. Das Recht dieser Delegation, die Offenlegung aller Akten auch gegen den Willen des Bundesrates durchzusetzen, würde seiner Meinung nach den Meinungsbildungsprozess der Regierung und ihre Stellung dem Parlament gegenüber zu sehr beeinträchtigen. Dem ursprünglichen Anliegen der Puk EJPD, die Oberaufsicht über die Bundesanwaltschaft zu verbessern, widersetzte sich der Bundesrat nicht. Er möchte aber, dass diese Aufgabe, wie von einer parlamentarischen Initiative der Puk EMD vorgeschlagen, durch eine spezielle Kommission der beiden Räte wahrgenommen wird. Bezüglich dieser als Sicherheitsdelegation bezeichneten Spezialkommission brachte er gegenüber dem Puk-Vorschlag zwei Einwände an: erstens müsse im Bereich der Nachrichtendienste die Anonymität der Quellen gewährleistet bleiben und zweitens sollte die Delegation nicht mehr als sechs Mitglieder umfassen
[39].
Das Parlament trug den Einwänden des Bundesrats nur in bezug auf die Delegationsgrösse und einen Teil der Kompetenzen, nicht aber in bezug auf den Aufgabenbereich Rechnung. Der Ständerat beschloss die Bildung einer ständigen aus je drei Mitgliedern der Geschäftsprüfungskommissionen der beiden Räte gebildeten
Geschäftsprüfungsdelegation. Diese hat erstens den
Dauerauftrag, die Tätigkeit im Bereich des Staatsschutzes und der Nachrichtendienste zu überwachen. Zweitens können ihr mit qualifiziertem Mehr (2/3) beider Geschäftsprüfungskommissionen Aufträge zur näheren Untersuchung konkreter Fragen in anderen Verwaltungsbereichen erteilt werden. Im Rahmen dieser Aufgaben sollen Beamte nicht nur als Auskunftspersonen, sondern auch als Zeugen befragt und zur Herausgabe von Akten verpflichtet werden können. Den Bedenken des Bundesrats im Hinblick auf sein Funktionieren als Kollegialbehörde und seine freie Meinungsbildung wurde insofern Rechnung getragen, als auf Einsicht in Akten hängiger Geschäfte, die seiner unmittelbaren Meinungsbildung dienen, verzichtet wurde
[40].
Der Nationalrat wollte noch einen Schritt weiter gehen. Er beschloss gegen den Widerstand von Bundesrat Koller, auch die
Kompetenzen der GPK auszuweiten und das Recht des Bundesrates, die Akteneinsicht zu verweigern, auf bestimmte Fälle (als geheim klassierte Akten, Bundesratsprotokolle und im Bundesrat umstrittene Anträge zu hängigen Geschäften) zu limitieren. Die Vertreter der kleinen Fraktionen und der SP kämpften vergeblich für eine Vergrösserung der Delegation von sechs auf acht oder neun Mitglieder, damit in ihr alle Fraktionen vertreten sein können
[41].
In der
Differenzbereinigung beschloss der Ständerat, die vom Nationalrat verabschiedete Kompètenzerweiterung der GKP von der Frage der Schaffung einer Geschäftsprüfungsdelegation abzutrennen, damit letztere zügig zu Ende beraten werden kann. Der Nationalrat schloss sich diesem Vorgehen an. Bei den Kompetenzen der Delegation setzte sich die vom Nationalrat vorgenommene Erweiterung durch, dass nicht nur Beamte des Bundes, sondern auch Privatpersonen als Zeugen einvernommen werden können
[42].
Auch 1991 musste sich das Parlament mit einer Reihe von Ersuchen von Strafverfolgungsbehörden um Aufhebung der Immunität einzelner seiner Mitglieder beschäftigen. Gleich gegen sechs Nationalräte und Nationalrätinnen hatte das EMD Strafanzeige wegen
Hausfriedensbruchs anlässlich einer Protestaktion gegen den in Neuchlen-Anschwilen (SG) geplanten Waffenplatz eingereicht. Auf Antrag der vorberatenden Kommissionen lehnten beide Kammern eine Aufhebung der Immunität ab, da ein eindeutiger Zusammenhang zwischen der Aktion (Durchführung einer Pressekonferenz auf dem umzäunten Areal) und der politischen Tätigkeit der Beschuldigten bestehe
[43].
Auch bei der
Verleumdungsklage eines – in der Zwischenzeit vom Bundesrat ausgewiesenen –
afrikanischen Diplomaten gegen Nationalrat Spielmann (pda, GE) hob das Parlament die Immunität nicht auf. Da Spielmann seine Anschuldigungen nicht nur in der Parteizeitung "Voix Ouvrière" publiziert, sondern in diesem Zusammenhang auch eine Motion eingereicht hatte, war für die Mehrheit beider Räte ein direkter Zusammenhang mit seinem politischen Mandat gegeben. In beiden Fällen hatte eine starke Minderheit der Kommission des Nationalrats für eine Abschaffung der Praxis der sogenannt relativen Immunität votiert. Diese schützt Parlamentarier vor Strafverfolgung, wenn ihre inkriminierten Aktivitäten zwar ausserhalb des Ratsbetriebs stattfinden, aber in einem Zusammenhang mit dem politischen Mandat stehen
[44].
Nicht einig waren sich National- und Ständerat in der Beurteilung des Gesuchs um die Aufhebung der Immunität von
Nationalrätin Jeanprêtre (sp, VD) zwecks Eröffnung eines Verfahrens wegen
Amtsgeheimnisverletzung. Die Angeschuldigte hatte in einem Zeitungsartikel zur Fichen-Affäre nicht nur über die Registriertätigkeiten der Bundesanwaltschaft geschrieben, sondern auch ähnliche Vorkommnisse auf Kommunalebene zitiert, welche ihr in ihrer früheren Funktion als Exekutivmitglied der Gemeinde Morges (VD) zu Ohren gekommen waren. Gegen den Antrag der Kommissionsmehrheit verneinte eine knappe Mehrheit des Nationalrats einen engen Zusammenhang zwischen dem Nationalratsmandat und dem Zeitungsartikel. Da in diesem Fall kein Anspruch auf Immunität besteht, ist auch keine Aufhebung erforderlich. Der Nationalrat beschloss deshalb, auf das Gesuch nicht einzutreten, d.h. den Gerichtsbehörden freie Hand zur Eröffnung eines Ermittlungsverfahrens zu erteilen. Der Ständerat korrigierte jedoch diesen Entscheid. Da Jeanprêtre ihre Aussagen zu einem nationalen Thema, das auch im Nationalrat behandelt worden sei, gemacht habe, erkannte er auf einen Zusammenhang mit der Ausübung des Nationalratsmandats. Er trat deshalb auf das Gesuch ein und beschloss, ihm nicht stattzugeben
[45].
Nicht gegeben war diese relative Immunität nach Ansicht beider Parlamentskammern hingegen im Fall
Ziegler (sp, GE) gegen den Genfer Geschäftsmann Gaon, welchen Ziegler in einem seiner Bücher als Spekulanten und Schieber bezeichnet hatte. Die vorberatenden Kommissionen waren zwar zum Schluss gekommen, dass die inkriminierten Äusserungen in einem engen Zusammenhang mit der politischen Tätigkeit Zieglers stehen und deshalb die Immunität nicht aufgehoben werden soll. Der Nationalrat folgte in der Frühjahrssession aber mit 97 zu 72 Stimmen der Kommissionsminderheit, welche argumentiert hatte, dass Ziegler seine Äusserungen in seiner Funktion als Professor und Publizist gemacht habe und sie daher nicht in Zusammenhang mit seinem politischen Mandat stehen. Da in solchen Fällen kein Anspruch auf Immunität besteht, sei, auch wenn das Parlament in der bisherigen Praxis diese Bestimmung nicht konsequent angewendet habe, auf das Gesuch nicht einzutreten und damit der Genfer Justiz freie Hand zur Beurteilung der Verleumdungsklage gegen Ziegler zu erteilen. Der Ständerat schloss sich mit 16:15 Stimmen diesem Entscheid an
[46].
In Kommentaren sprachen linke Kreise von einem Angriff auf die Meinungsfreiheit und Rache an einem missliebigen Politiker. Die Befürworter des Beschlusses betonten den Aspekt der Rechtsgleichheit. Es sei stossend, so argumentierten sie, dass ein Parlamentarier das Privileg besitzen soll, über andere Personen Behauptungen in die Welt zu setzen, ohne dafür gegebenenfalls vor Gericht den Wahrheitsbeweis antreten zu müssen. Ziegler wurde in der Folge vom Genfer Generalprokurator zu einer Busse von 1000 Fr. wegen übler Nachrede verurteilt, legte gegen diesen Entscheid jedoch Berufung ein
[47].
Mehr Verständnis fand Ziegler bei seinen Ratskollegen im Fall der Ehrverletzungsklage des Bieler Geschäftsmannes Simonian. Hier konnte der Angeschuldigte nachweisen, dass er die in einem Buch publizierte Anschuldigung, bei der Firma des Simonian handle es sich um ein Geldwäschereiunternehmen, bereits zuvor im Nationalratssaal vorgebracht hatte. Nach bisheriger Rechtsauslegung besteht in derartigen Fällen, d.h. bei der Wiederholung von Ratsvoten, ein absoluter Immunitätsschutz. Sowohl der National- als auch der Ständerat traten deshalb in diesem Fall auf das Gesuch ein und lehnten die Aufhebung der Immunität des streitbaren Genfer Nationalrats ab
[48].
Am 7. und B. Februar trafen sich im Nationalratssaal auf Einladung der weiblichen Parlamentsmitglieder rund 250 Frauen zu einer "
Frauensession", an welcher über die Stellung der Frau in Politik und Gesellschaft diskutiert wurde. Am 2. und 3. Mai fanden die offiziellen parlamentarischen Feierlichkeiten zum 700-Jahr-Jubiläum der Eidgenossenschaft statt. Ebenfalls im Rahmen der 700-Jahr-Feier wurde am 25. September eine "Jugendsession" durchgeführt
[49].
Eine parlamentarische Initiative Ziegler (sp, GE), den föderalistischen Gedanken dadurch zu stärken, dass die Parlamentssessionen nicht mehr ausschliesslich in Bern, sondern nach einem Rotationssystem auch in anderen Schweizer Städten abgehalten werden, lehnte der Nationalrat mit 97 zu 6 Stimmen ab
[50].
[26] Vgl. SPJ 1990, S. 39 ff. Zur weiter angewachsenen Arbeitsbelastung des Parlaments siehe Lit. Dokumentationszentrale, S. 261 ff., zur Informationsbeschaffung und -verarbeitung siehe Lit. Frischknecht.
[27] BBl, 1991, III, S. 617 ff.; Presse vom 11.4., 13.4. und 17.5.91 (Kommission). Siehe auch die Ausführungen der StR-Kommission namentlich zu den ständigen Kommissionen (BBl, 1991, IV, S. 358 ff.). Vgl. auch Lit. Riklin / Möckli.
[28] BBl, 1991, III, S. 812 ff. Vgl. allgemein dazu auch Lit. Häner, Sciarini und Thürer. Siehe auch unten, Teil I, 2 (Principes directeurs).
[29] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1181 ff.; Presse vom 20.6.91. Zweite Lesung Geschäftsreglement NR: Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1599 ff. Zu den Beschlüssen für eine Verbesserung der Position der italienischen Sprache im Parlament siehe unten, Teil I, 8b (Das Verhältnis zwischen den Sprachgruppen).
[30] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1208 ff.; Presse vom 20.6. und 21.6.91.
[31] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 679 ff. und 714 ff.; Presse vom 20.9.91. Vgl. auch BBl, 1991, IV, S. 358 ff. (Stellungnahme der StR-Kommission) sowie Amtl. Bull. SIR, 1991, S. 23 ff. (Bericht der Verwaltungskommission über die Parlamentsdienste).
[32] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1597 ff., 1781 f. und 2038 f.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 809 ff., 892 und 922; BBl, 1991, III, S. 1373 ff. (Koordination der Räte, Einwirkung auf Aussenpolitik), 1379 f. (Entschädigung) und 1381 f. (persönliche Mitarbeiter); Presse vom 24.9.91. Eine part. Initiative Ruf (sd, BE), welche die Spesenpauschale durch ein Abrechnungssystem ersetzen wollte, wurde abgelehnt (Amtl. Bull. NR, 1991, S. 706 ff.).
[33] NZZ, 1.11.91; Bund, LNN und SGT, 7.11.91; LNN, 28.11.91.
[34] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1163 ff.; NZZ und Bund, 30.8.91; TA, 7.9.91; BZ, 10.10.91.
[35] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1290 ff. Vgl. SPJ 1989, S. 33.
[36] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 183 ff. Blocher unterstützte den Antrag Leuenberger ebenfalls. Vgl. SPJ 1990, S. 29.
[37] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 426 f.; Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1616 f. Vgl. SPJ 1990, S. 42.
[38] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 180 ff.
[39] BBl, 1991, I, S. 1467 ff. Zu den GPK-Vorschlägen siehe SPJ 1990, S. 41. Siehe allgemein dazu auch Lit. Mastronardi.
[40] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 458 ff.
[41] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1542 ff.
[42] Amtl. Bull. StR, 1991, S. 786 ff. und 891 f.; Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1827 ff., 2120 ff., 2383 und 2529; BBl, 1991, IV, S. 1097 f.
[43] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1940 ff.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 1078 ff. Bei den Angeklagten handelte es sich um Danuser (sp, TG), Fankhauser (sp, BL), Hubacher (sp, BS), Jaeger (ldu, SG), Leutenegger (gp, BL), Rechsteiner (sp, SG), Stocker (gp, ZH) und Zbinden (sp, AG). Vgl. allgemein dazu Lit. Gadient sowie LNN, 21.3.91. Zu Neuchlen-Anschwilen siehe unten, Teil I, 3 (Constructions militaires).
[44] Amtl. Bull..NR, 1991, S. 1954 ff.; Amtl. Bull. StR,1991, S. 1089 ff. Vgl. dazu auch SPJ 1990, S. 43.
[45] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1946 ff.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 1072 ff. Presse vom 5.10. und 13.12.91.
[46] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 735 ff.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 601 ff. Vgl. SPJ 1990, S. 43. Ziegler hat den Entscheid mit einer Eingabe an die Europäische Menschenrechtskommission angefochten (NZZ und Suisse, 3.10.91).
[47] Presse vom 23.3. und 21.6.91; WoZ, 28.6.91; Suisse, 12.9., 9.10. und 7.12.91. Weitere Prozessniederlagen (Verurteilungen) von Ziegler im Ausland: TA und Suisse, 3.10.91 sowie SPJ 1990, S. 43.
[48] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 1980 ff.; Amtl. Bull. StR, 1991, S. 1091 ff.
[49] Frauensession: Presse vom 8. und 9.2.91. Jubiläumssession: Presse vom 4.5.91. Jugendsession: Presse vom 26.9.91. Vgl. auch oben, Teil I, 1a (700-Jahr-Feier) sowie unten, Teil I, 7d (Stellung der Frau resp. Jugend).
[50] Amtl. Bull. NR, 1991, S. 2457 ff.
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