Année politique Suisse 1994 : Grundlagen der Staatsordnung / Institutionen und Volksrechte
Parlament
Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates beantragte eine Reihe von Verfassungsänderungen zur Fortführung der Parlamentsreform. Sie möchte damit insbesondere die
Wählbarkeitsregeln für die beiden Parlamentskammern vereinheitlichen und dabei auch die Unvereinbarkeit zwischen kirchlichem Amt und Nationalratsmandat streichen. Zudem sollen in Zukunft Bundesbeamte für den Nationalrat wählbar sein, freilich nur solche, die nicht - wie etwa Direktoren von Bundesämtern - am politischen Entscheidungsprozess der Exekutive beteiligt sind. Die bisher von den Kantonen geleistete Entschädigung der Mitglieder des Ständerats soll vom Bund übernommen werden. Ferner möchte sie die
vorberatenden Kommissionen durch eine explizite Erwähnung in der Verfassung aufwerten und ihnen gewisse Entscheidungskompetenzen - allerdings nicht im Bereich der Gesetzgebung - übertragen. Zur Entlastung des Ratsvorsitzes soll das Amt des Vizepräsidiums doppelt besetzt werden. Schliesslich beantragt die Kommission noch, dass die Parlamentsdienste nicht bloss fachlich, sondern auch administrativ dem Parlament unterstellt werden
[20].
Die Kommission für Rechtsfragen des Ständerats legte in Ausführung der 1992 überwiesenen parlamentarischen Initiative Rüesch (fdp, SG) ihre Anträge für eine
restriktivere Handhabung des Immunitätsprivilegs für Parlamentarier und von der Bundesversammlung gewählte Amtsträger vor. Die absolute Immunität für Voten im Rat und in Ratskommissionen will sie beibehalten. Hingegen schlug sie vor, den relativen Schutz vor Strafverfolgung - der durch einen Parlamentsbeschluss aufgehoben werden kann - für andere im Zusammenhang mit der politischen Stellung stehende Handlungen (z.B. Äusserungen oder Amtsgeheimnisverletzungen) einzuschränken. Dieser soll nur noch dann beansprucht werden dürfen, wenn sich diese Handlungen "zur Hauptsache" auf die amtliche Stellung oder Tätigkeit beziehen. Diese präzisierende Einschränkung fand auch die Unterstützung des Bundesrates. Der Ständerat stimmte der Gesetzesrevision zu
[21].
In Ausführung einer von beiden Kammern überwiesenen Motion Schmid (gp, TG) legte das Büro des Nationalrats seine Vorschläge für eine Verbesserung der
Vorsorgeentschädigung für Ratsmitglieder vor. Es beantragte eine Verdoppelung der Beiträge des Bundes auf 5000 Fr. pro Jahr; diese Summe wäre neu zweckgebunden. Die Parlamentarier sollen dabei wählen können, ob sie das Geld an ihre eigene Pensionskasse oder an eine neu zu schaffende Ruhegehaltskasse überweisen wollen. Der Bundesrat äusserte sich vor allem sehr skeptisch zur Schaffung einer Ruhegehaltsinstitution, welche den Parlamentariern mit mindestens zwölf Amtsjahren nach der Pensionierung eine monatliche Rente von 2000 Fr. ausrichten sollte. Er erklärte, dass die Kosten, die dem Bund daraus entstehen würden, nicht tragbar seien. Nachdem sich Vertreter der FP vergeblich für Nichteintreten ausgesprochen hatten, hiess der Nationalrat die beiden Teile der Vorlage in der Gesamtabstimmung mit Stimmenverhältnissen von 3:1 gut
[22].
Im
Ständerat wollte das Büro zuerst empfehlen, nur die Erhöhung der Arbeitgeberbeiträge zu genehmigen, die Schaffung einer Ruhegehaltskasse aber zu streichen. Da die Finanzsituation des Bundes momentan überhaupt keine Verbesserung der materiellen Entschädigungen für Parlamentarier zulasse, übernahm es dann den von Büttiker (fdp, SO) postulierten
Nichteintretensantrag. Der Rat stimmte dieser Ansicht zu, nachdem mehrere Redner betont hatten, dass zu einem späteren Zeitpunkt für materiell schlecht gestellte Abgeordnete die Beiträge an die Vorsorgeeinrichtung erhöht werden sollten
[23].
Die in der parlamentarischen Initiative Stucky (fdp, ZG) gestellte Forderung nach einer mässigen
Erhöhung der Entschädigungen wurde nach dem negativen Ausgang der Volksabstimmung vom Herbst 1992 vom Nationalrat als nicht opportun betrachtet und abgelehnt
[24].
Das im Vorjahr beschlossene
elektronische Abstimmungssystem für den Nationalrat konnte in der Frühjahrssession in Betrieb genommen werden. Die neuen Möglichkeiten zur Verbesserung der Transparenz wurden rege genutzt. So fanden in dieser Session mehr als doppelt so viele Abstimmungen unter Namensaufruf statt als im Sessionsdurchschnitt der vorangegangenen Jahre
[25]. Das Büro beantragte die Bestätigung der 1993 provisorisch für ein Jahr beschlossenen Bestimmungen über die Anwendung des elektronischen Abstimmungssystems. Namenslisten sollen demnach weiterhin lediglich bei Gesamt-, Schluss- und Dringlichkeitsklauselabstimmungen sowie auf Verlangen von 30 Parlamentariern veröffentlicht werden; neuerdings soll dies - die Wissenschaft wird es dankbar zur Kenntnis nehmen - nicht bloss in gedruckter, sondern auch in elektronischer Form geschehen
[26].
Nationalrat Blocher (svp, ZH) demonstrierte - nach eigener Aussage in Unkenntnis des Verbots der Stellvertretung bei Abstimmungen -, dass es trotz aller technischer Sicherungen möglich ist,
für eine Banknachbarin oder einen Nachbarn zu stimmen. Nach der ausführlichen Behandlung des Falls in den Medien ersuchte Bundesanwältin del Ponte das Parlament um die Aufhebung der Immunität Blochers, um ein Strafverfahren wegen Wahlfälschung einzuleiten. Diesem Gesuch gab der Rat jedoch nicht statt, da er es für sinnvoller erachtete, die Einhaltung seiner Reglemente selber sicherzustellen. Blocher entschuldigte sich und wurde von der Ratspräsidentin im Namen des Büros für sein reglementswidriges Verhalten verurteilt. Anschliessend überwies der Nationalrat ein Postulat für strengere Sanktionsmittel bei zukünftigen Verstössen
[27]. Das Büro des Nationalrats reagierte sofort und reichte im Herbst eine parlamentarische Initiative für eine
Teilrevision des Geschäftsreglements ein. Diese sieht vor, dass das Büro bei schwerwiegenden Verstössen gegen die parlamentarischen Verhaltensregeln (insbesondere bei Abstimmungen und bei der Wahrung des Sitzungsgeheimnisses für Kommissionsmitglieder) einen Verweis aussprechen kann. Weitergehende Sanktionen wie etwa den Ausschluss von Sitzungen oder die Verweigerung von Sitzungsgeldern lehnte es ab
[28].
Der Ständerat beschloss gegen den Antrag seines Büros demonstrativ (mit 29 zu 1 Stimme), das im Vorjahr vom Nationalrat beschlossene elektronische
Personensuchsystem nicht anzuwenden und auf die Ausgabe von 40 000 Fr. für die persönlichen Empfänger zu verzichten
[29].
Der Ständerat befasste sich mit der im Vorjahr von Cottier (cvp, FR) eingereichten Motion für eine Revitalisierung des Föderalismus. Die darin enthaltene Forderung nach der Verbesserung der Stellung der französischsprachigen Kantone durch verschiedene institutionelle Massnahmen, wie etwa der Senkung der Zahl der für die Einreichung eines
Kantonsreferendums erforderlichen Kantone oder die Einführung eines suspensiven Vetos für Sprachgruppen im Parlament, wurde - auf Antrag des Bundesrates und mit dem Einverständnis des Motionärs - als Postulat überwiesen
[30].
Die letzten verbliebenen Differenzen bei der Aufwertung der
Standesinitiativen konnten bereinigt werden. Dabei setzte sich die Version des Nationalrats durch, wonach der initiierende Kanton auf jeden Fall von der zuständigen Parlamentskommission angehört werden muss
[31].
In Erfüllung einer 1990 überwiesenen parlamentarischen Initiative der PUK EMD beantragte eine Kommission des Nationalrats, dass während der Durchführung einer parlamentarischen Untersuchung ein gerichtspolizeiliches Ermittlungsverfahren in derselben Sache nur mit dem Einverständnis der Parlamentskommission aufgenommen oder weitergeführt werden kann. Damit soll der
Vorrang der parlamentarischen Untersuchung gewährleistet werden. Insbesondere geht es darum, dass die Exekutive nicht mit einer eigenen Untersuchung die Ermittlungsarbeiten einer PUK behindern kann
[32].
[20]
BBl, 1995, I, S. 1133 ff. Zur bisherigen Nichtwählbarkeit Personen "geistlichen Standes" vgl. auch
SPJ 1993, S. 43.20
[21]
BBl, 1994, II, S. 848 ff. und III, S. 1429 f. (BR);
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 1030 ff. Vgl.
SPJ 1992, S. 39 f. und
1993, S. 39.21
[22]
BBl, 1994, III, 1561 ff. (Büro) und 1578 f. (BR);
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1088 ff.; Presse vom 19.5.94. Vgl.
SPJ 1993, S. 38.22
[23]
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 1055 ff.;
BZ, 7.10.94.23
[24]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1098 ff. Vgl.
SPJ 1993, S. 38.24
[25]
TA, 1.3.94. Insgesamt wurde in der Frühjahrssession für 67 Abstimmungen das Votum namentlich registriert, davon 23mal auf Verlangen von mindestens 30 Parlamentsmitgliedern (
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1185 f.). Vgl.
SPJ 1993, S. 38.25
[26]
BBl, 1995, I, S. 642 ff. Zu den Namensabstimmungen des Berichtsjahres siehe unten, Anhang Tabellen.26
[27]
LNN, 19.3.94;
SoZ, 20.3., 27.3. und 1.5.94;
BaZ, 8.4.94;
LZ, 6.5.94;
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 1012 ff. und 1018 (Postulat); Presse vom 15.6.94. Der StR hob die Immunität ebenfalls nicht auf (
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 712 ff.).2
[28]
BBl, 1995, I, S. 642 ff.28
[29]
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 431 ff. Vgl.
SPJ 1993, S. 38 sowie
BaZ, 30.11.94.29
[30]
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 1043 ff. Für die Forderungen im einzelnen siehe
SPJ 1993, S. 39. Vgl. auch unten, Teil I, 1d (Beziehung zwischen Bund und Kantonen).30
[31]
Amtl. Bull. NR, 1994, S. 324 f., 1088 und 1249 f.;
Amtl. Bull. StR, 1994, S. 425 und 775;
BBl, 1994, III, S. 254 f. Vgl.
SPJ 1993, S. 39.31
[32]
BBl, 1994, II, S. 1409 ff. Vgl.
SPJ 1990, S. 41.32
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