Die Ständeratswahlen 2023 im Kanton Bern versprachen bereits im April 2022 spannend zu werden, als Hans Stöckli (sp, BE) bekannt gab, dass er nach zwölf Jahren im Amt nicht mehr für den Ständerat kandidieren werde. Der 71-jährige und damit damals älteste Ständerat hatte sich seit 44 Jahren in der Politik engagiert. Damit stellte sich die Frage, ob es der SP gelingen würde, den Sitz zu verteidigen. 2003 hatte Simonetta Sommaruga den Sitz von der FDP gewonnen und damit die jahrzehntelange bürgerliche Dominanz in der Berner Delegation durchbrochen. Die SP schickte dafür Nationalrätin Flavia Wasserfallen (sp, BE) ins Rennen. Die Medien räumten Wasserfallen als urbane Frau mit einem Bio-Gemüse-Lieferdienst gute Chancen ein, auch bei der Landbevölkerung Eindruck zu machen. Herausgefordert wurde Wasserfallen durch den ehemaligen Erziehungsdirektor des Kantons Bern, Bernhard Pulver (BE, gp). Die Medien spekulierten darüber, ob ihm sein Amt als Präsident der Insel Gruppe und die damit verbundenen und umstrittenen Spitalschliessungen in Bern bei den Ständeratswahlen schaden könnten. Auch die FPD wollte den SP-Sitz angreifen und damit zum vor 2003 üblichen bürgerlichen Doppelticket zurückkehren. Ihrer Kandidatin Sandra Hess (BE, fdp), Grossrätin und Stadtpräsidentin von Nidau, sprachen die Medien jedoch nur geringe Chancen zu, weil sie national kaum bekannt sei. Auch GLP-Parteipräsident Jürg Grossen (glp, BE) und Mitte-Nationalrat Lorenz Hess (mitte, BE) kandidierten für den Sitz – ihnen sprachen die Medien neben Wasserfallen und Pulver noch die grössten Chancen auf den Ständeratssitz zu. Für die EVP trat zudem Marc Jost (evp, BE) an, über den die Medien jedoch kaum berichteten. Dass der zweite Sitz beim bisherigen Ständerat Werner Salzmann (svp, BE) und damit bei der SVP bleiben würde, wurde im Vorfeld medial kaum angezweifelt. Neben diesen sieben Kandidierenden aus den etablierten Parteien traten noch zehn weitere Personen für den Ständerat an: zwei Parteilose (Richard Koller, Verena Lobsiger-Schmid), zwei Mitglieder der Piratenpartei (Jorgo Ananiadis und Pascal Fouquet), vier Mitglieder der «Normalos» (Gianpietro Iseli, Daniel Neeser, Adrian Spycher, Romain Zbinden), der auch für den Nationalrat mit eigener Liste antretende Philipp Jutzi sowie die ehemalige SVP-Politikerin Madeleine Amstutz von der Bürgerlichen Stadt- und Landliste.
Am Wohlsonntag sorgten die beiden Frauen der SP und der FDP für Überraschungen: Flavia Wasserfallen erzielte bei einer Wahlbeteiligung von 50.1 Prozent im ersten Wahlgang mit 158'843 Stimmen nicht nur ein sehr gutes Ergebnis, sondern lag gar vor dem Bisherigen Werner Salzmann (157'944 Stimmen). Auch Sandra Hess erzielte ein gutes Ergebnis (93'123 Stimmen) und liess Jürg Grossen (72'860 Stimmen), Lorenz Hess (41'237 Stimmen) und Marc Jost (28'377 Stimmen) deutlich hinter sich. Von den Kandidierenden ohne grosse Partei im Rücken erzielte Madeleine Amstutz mit 16'747 Stimmen am meisten Stimmen. Dass weder Wasserfallen noch Salzmann das absolute Mehr von 173'210 Stimmen erreichen konnten, machte einen zweiten Wahlgang nötig. Dabei spekulierten die Medien bereits darüber, ob es zu zwei Zweitertickets kommen könnte – Flavia Wasserfallen und Bernhard Pulver gegen Werner Salzmann und Sandra Hess. Doch bereits am Montag nach der Wahl verzichteten sämtliche Kandidierenden ausser Flavia Wasserfallen und Werner Salzmann auf den zweiten Wahlgang: Nachdem Jürg Grossen, Marc Jost und Lorenz Hess ihren Rückzug verkündet hatten, erklärte sich auch Sandra Hess bereit, auf eine Kandidatur zu verzichten, sofern auch Bernhard Pulver aus dem Rennen aussteige. Die Wahlbevölkerung habe sich bereits deutlich für Wasserfallen und Salzmann ausgesprochen und mit ihrem Rückzug könne man gut CHF 1 Mio. an Steuergeldern sparen, begründete Hess diesen Entscheid. Somit wurden Wasserfallen und Salzmann stillschweigend in den Ständerat gewählt. Mit 49'587 Panaschierstimmen im ersten Wahlgang ernannten die Medien Wasserfallen einige Tage nach der Wahl zur «Panaschierkönigin» und zur «populärsten Kandidatin».