Am 13. Januar gab der Chef des EDA, der Neuenburger René Felber (sp), bekannt, dass er aus gesundheitlichen Gründen nach fünfeinhalbjähriger Amtszeit auf Ende März zurücktreten werde. Der abtretende Bundesrat wurde allgemein für sein europapolitisches Engagement und für sein Bestreben, die Aussenpolitik dem Volk näher zu bringen, gewürdigt.

In den Spitzen der vier Bundesratsparteien herrschte Einigkeit, dass der frei werdende Sitz bei der SP verbleiben sollte. Ebenso unumstritten war, dass, gerade nach der Majorisierung der französischsprachigen Schweiz in der EWR-Abstimmung vom 6. Dezember 1992, wieder eine Person aus dieser Sprachregion gewählt werden sollte, wobei der Kanton Waadt infolge des Sitzes von J.-P. Delamuraz allerdings ausschied. Die Leitung der SP selbst machte rasch deutlich, dass es ihr sehr wichtig sei, eine Frau in die Landesregierung zu bringen. Mit diesen Vorgaben war die Auswahl bereits stark eingeengt. Die im Herbst 1991 in den Nationalrat gewählte Genferin Christiane Brunner war die einzige sozialdemokratische Politikerin, welche diese regionalen Voraussetzungen erfüllte und gleichzeitig auch ausserhalb ihres eigenen Kantons bekannt war. Von den bisherigen 99 Bundesräten hatten nur gerade drei weder dem nationalen Parlament noch einer kantonalen Regierung angehört. Die 46jährige Juristin hatte erstmals im Sommer 1991 als eine der Hauptinitiantinnen des Frauenstreiks landesweit auf sich aufmerksam gemacht und war Ende 1992 zur Präsidentin des SMUV gewählt worden. Sie wurde von der Genfer SP-Sektion für den Bundesrat portiert.

Während die Kantonalparteien der SP noch über allfällige Nominationen diskutierten, publizierten einige Medien schon Meinungsumfragen, welche Brunner mit grossem Vorsprung an der Spitze der Popularitätsliste sahen. Unmittelbar nach der ersten Nennung von möglichen Kandidierenden befasste sich die Boulevardzeitung Blick auch bereits mit deren Privatleben und warnte, dass die Tatsache, dass Brunner geschieden sei, nicht zu einer „Schlammschlacht“ führen dürfe. Zu einer „Schlammschlacht“ kam es dann allerdings nicht wegen ihres Familienlebens, sondern wegen eines anonymen Briefs, in welchem mit der Veröffentlichung von kompromittierendem Material aus dem Privatleben im Falle einer Wahl Brunners gedroht wurde. Bei aller Empörung über derartige anonyme Erpressungen zitierten namentlich die elektronischen Medien diese Anschuldigungen ausführlich, und CVP-Präsident Schmid (cvp, AI) verlangte im ersten Eifer eine „Unbedenklichkeitsüberprüfung“. Überzeugender reagierte Brunner selbst, indem sie an einer Medienkonferenz die Anwürfe zurückwies und bekanntgab, dass sie eine Strafanzeige gegen Unbekannt wegen Verleumdung und übler Nachrede eingereicht habe.

Neben Brunner wurden aber auch männliche Kandidaten ins Spiel gebracht. Als einziger verblieb schliesslich der von der Neuenburger SP vorgeschlagene Regierungs- und Nationalrat Francis Matthey. Der Vorstand der SPS beschloss mit 80 Stimmen, Brunner zu portieren ; neun hatten für Matthey votiert, ein Antrag auf eine Doppelkandidatur wurde nicht gestellt. Matthey erklärte, dass er vor der Annahme einer allfälligen Wahl durch die Bundesversammlung zuerst mit der Fraktion und der Partei Rücksprache nehmen würde. In der für die Nomination schlussendlich zuständigen SP-Fraktion entfielen 32 Stimmen auf Brunner als offizielle Kandidatin und 10 auf Matthey; mit 27 gegen 13 Stimmen wurde von einer Doppelkandidatur abgesehen. Die Fraktionen der drei bürgerlichen Bundesratsparteien verzichteten darauf, eine Wahlempfehlung abzugeben; die Ansprüche der SP und der französischsprachigen Schweiz blieben aber unbestritten.

Am 3. März schritt die Vereinigte Bundesversammlung zur Wahl. Im ersten Wahlgang fielen bei einem Mehr von 120 Stimmen deren 117 auf Matthey und bloss 101 auf Brunner. Im zweiten Wahlgang wurde Matthey mit 130 Stimmen gewählt, Brunner erhielt deren 108. Matthey erklärte darauf, dass er wie angekündigt erst nach Rücksprache mit seiner Fraktion über die Annahme dieser Wahl entscheiden wolle. In dieser Aussprache votierten die Fraktionsmitglieder für eine Nichtannahme und für eine Konsultation der Parteibasis. Nachdem Matthey die Bundesversammlung um eine längere Bedenkzeit gebeten hatte, beschloss diese, in einer Woche wieder zusammenzutreten, um den Entscheid Mattheys entgegenzunehmen.

Die Reaktionen auf diese zweite Nichtwahl einer offiziellen SP-Kandidatin1983 hatte das Parlament anstelle von Lilian Uchtenhagen Otto Stich gewählt — fielen sehr heftig aus. Bereits während des Wahlaktes demonstrierten rund 500 Frauen vor dem Bundeshaus für die Wahl Brunners. Auch bürgerliche Parlamentarierinnen sprachen empört von Affront und männlicher Machtpolitik. Andere Frauen sahen einen Teil der Verantwortung auch bei der SP, welche an der zwar von den Medien unterstützten, im Parlament aber offensichtlich nicht mehrheitsfähigen Alleinkandidatur Brunners festgehalten hatte.

Die Mitglieder der SP reagierten rasch und heftig. Von einer Reihe von Sektionen wurde die Parteileitung aufgefordert, an der Kandidatur Brunner festzuhalten und im Falle einer erneuten Nichtwahl aus der Regierung auszutreten. Einzig die SP des Kantons Neuenburg sprach sich für eine Wahlannahme Mattheys aus. Die bereits als neue Kandidatin gehandelte SP-Fraktionschefin Ursula Mauch (AG) gab bekannt, dass sie auf keinen Fall kandidieren werde, um den zweiten Bundesratssitz der Westschweiz nicht zu gefährden.

Hingegen tauchte der bereits in den Vorabklärungen gefallene Name von Ruth Dreifuss wieder auf. Die 53jährige Sekretärin des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes ist französischer Muttersprache und in Genf aufgewachsen; infolge ihrer beruflichen Tätigkeit war sie aber seit gut zwanzig Jahren in Bern wohnhaft. Sie hatte dort auch bereits im städtischen Parlament gesessen und auf der SP-Nationalratswahlliste figuriert, aber noch kein kantonales politisches Amt ausgeübt. Damit galt nach dem Garantiegesetz der Wohnort als ausschlaggebend für die Kantonszugehörigkeit. Von verschiedener Seite wurde die Idee geäussert, dass bei einer Deponierung ihrer Schriften in Genf einer Wahl aus rechtlichen Gründen nichts entgegenstehen würde. Politisch, nicht aber vom Alter und Erscheinungsbild her, waren nach allgemeiner Einschätzung kaum Unterschiede zwischen den beiden Gewerkschafterinnen auszumachen.

Die Sitzung des Vorstands der SP vom 6. März in Zürich wurde begleitet von einer rund 8'000 Personen zählenden Demonstration für Brunner. Der Vorstand beschloss, dass für ihn nur die Wahl einer französischsprachigen Gewerkschafterin akzeptabel sei. Die Empfehlung an die Fraktion, an einer Alleinkandidatur Brunner festzuhalten, wurde mit 50:40 Stimmen freilich nur relativ knapp gutgeheissen. Zwei Tage später beschloss die SP-Fraktion, sowohl Dreifuss als auch Brunner zur Wahl vorzuschlagen. Der gewählte Matthey erklärte, dass er diesen Vorschlag akzeptiere, um eine Regierungskrise zu verhindern. Während in Basel und Schaffhausen ebenfalls grosse Kundgebungen zugunsten Brunners stattfanden, kam es in der Westschweiz nur zu vereinzelten kleineren Manifestationen.

Anlässlich der Bundesratsersatzwahl des 3. und 10. März 1993 kam das gespannte Verhältnis zwischen Medien und Politik eklatant zum Vorschein. Einerseits wurde in gewissen Medien ausführlich über einen anonymen Brief berichtet, mit dem die Bundesratskandidatin Brunner (sp, GE) in Misskredit gebracht werden sollte. Andererseits bezogen viele Printmedien schon früh Stellung zugunsten der Wahl Brunners. Verschiedene Parlamentarier fühlten sich durch diese Unterstützungskampagne zugunsten Brunners genötigt und bezichtigten die Medien der Erpressung. Exponenten der bürgerlichen Parteien behaupteten sogar, die Wahl von Ruth Dreifuss in den Bundesrat sei nur durch die geballte Medienmacht zustande gekommen, was wiederum Anlass zu Kontroversen bot.

Am 10. März trat die Bundesversammlung erneut zusammen. Vor dem Bundeshaus demonstrierten rund 10'000 Frauen und Männer für die Wahl Brunners. Das sonst während Sessionen übliche Demonstrationsverbot auf dem Bundesplatz war von den Berner Behörden in Absprache mit Nationalrats-Präsident Schmidhalter (cvp, VS) aufgehoben worden. Matthey erklärte, dass er die vor einer Woche erfolgte Wahl nicht annehme, da er von der SP-Fraktion nicht unterstützt werde. In der Geschichte des Bundesstaates war es bisher fünfmal zu einer Nichtannahme der Wahl zum Bundesrat gekommen; zum erstenmal geschah dies jetzt auf Druck einer Partei. Von einigen Staatsrechtlern wurde die Durchführung dieser Wahl deshalb heftig kritisiert. Für diesen nun eingetretenen Fall einer Nichtannahme hatte die SVP-Fraktion eine Verschiebung der Wahl um eine Woche vorgeschlagen. Sie begründete diesen Antrag damit, dass die zwei Tage zuvor nominierte Kandidatin Dreifuss noch zuwenig bekannt sei. Zudem könne unter diesen Begleitumständen — gemeint war damit vor allem die gleichzeitig auf dem Bundesplatz stattfindende Demonstration — eine seriöse Wahl nicht vorgenommen werden. Der auch von den Liberalen, der AP und der SD/Lega unterstützte Ordnungsantrag wurde mit 117 zu 62 Stimmen abgelehnt.

Vor dem Wahlgang kam es nochmals zu einer kurzen Diskussion. Die LP gab bekannt, dass sie keine der beiden Kandidatinnen unterstützen werde, und die FDP rief zur Wahl von Ruth Dreifuss auf. Im ersten Wahlgang erhielten Brunner und Dreifuss fast gleich viele Stimmen (90 resp. 92). Deren 54 entfielen auf die freisinnige Nationalrätin Spoerry (ZH), welche daraufhin erklärte, dass sie nicht kandidiere und die Stimmen einer welschen Frau gegeben werden sollten. Auch im zweiten Wahlgang erreichte keine der Kandidatinnen das absolute Mehr; aber Dreifuss steigerte sich auf 112 Stimmen. Brunner kam noch auf deren 86; sie forderte daraufhin diejenigen, welche ihr die Stimme gegeben hatten, zur Unterstützung von Dreifuss auf. Im dritten Wahlgang wurde Ruth Dreifuss bei einem absoluten Mehr von 96 Stimmen — die Vertreter der AP sowie ein Teil der SD/Lega-Fraktion hatten den Saal verlassen, 38 Abgeordnete legten leer ein — mit 144 Stimmen gewählt. Sie nahm die Wahl an, womit der Kanton Genf seit 1919 erstmals wieder in der Landesregierung vertreten ist. Mit Ruth Dreifuss ist zudem zum erstenmal eine Angehörige der jüdischen Religionsgemeinschaft in der Landesregierung vertreten.

Die am folgenden Tag vorgenommene Departementsverteilung entsprach weitgehend den Erwartungen. Flavio Cotti wechselte ins EDA, für welches auch Koller Interesse nachgesagt worden war, und überliess damit der Neugewählten das von ihr bevorzugte Departement des Innern.

Konkrete politische Gründe für die Nichtwahl Brunners liessen sich eigentlich kaum ausmachen. Sie hatte zwar seinerzeit der GSoA-Initiative für eine Abschaffung der Armee zugestimmt, das traf aber auch auf Dreifuss zu. Sowohl bürgerliche als auch linke Kommentatoren ordneten sie — wie auch Matthey und die schliesslich gewählte Dreifuss — dem gemässigt-reformistischen Flügel innerhalb der SP zu. Dass es auch nicht um die Frage ging, ob der Bundesrat ein reines Männergremium bleiben soll, zeigte die Wahl von Ruth Dreifuss. Ausschlaggebend dürfte wohl gewesen sein, dass die jugendlich und spontan wirkende Brunner dem Rollenverständnis einer Mehrzahl der Parlamentarier nicht entsprach. Darüber hinaus zeigte der Wahlvorgang aber auch auf, dass sowohl der SP als auch den drei bürgerlichen Regierungsparteien zumindest momentan ausserordentlich viel an der Beibehaltung der sogenannten Zauberformel für die Regierungszusammensetzung gelegen war.