624 Kandidierende auf 13 Listen präsentierten sich für die Gesamterneuerungswahlen für den «Gran Consiglio» im Kanton Tessin vom 19. April 2015. Das waren zwar etwas weniger Kandidierende als vier Jahre zuvor (675), dafür war die Zahl der Listen angewachsen (2011: 10 Listen). 67 der 90 amtierenden Grossrätinnen und Grossräte stellten sich der Wiederwahl.
Neben den arrivierten Parteien – im Südschweizer Kanton sind dies die FDP, die bei den Wahlen 2011 23 Sitze mit einem Wähleranteil von 25.2 Prozent errungen hatte, die Lega dei Ticinesi (21 Sitze, 22.8%), die CVP (19 Sitze, 20.5%), die SP (14 Sitze, 15.1%) und die Grünen (7 Sitze, 7.6%) – machte insbesondere «La Destra» von sich reden, ein Zusammenschluss aus SVP, EDU und Area Liberale. Die SVP, die mit 5 Sitzen im Grossen Rat vertreten war, hatte aufgrund der Resultate bei der Masseneinwanderungsinitiative, die im Kanton Tessin mit 68.5 Prozent schweizweit die höchste Zustimmung erhalten hatte, an Selbstvertrauen gewonnen und wollte nicht mehr wie vor vier Jahren als Juniorpartnerin der Lega auftreten. Mit der neuen Verbindung wollte die Volkspartei bei der Regierungsratswahl nicht nur einen Staatsratssitz, sondern bei den Parlamentswahlen auch acht Grossratssitze erobern. Vor dem Angriff fürchten musste sich nicht nur die Lega, sondern auch die FDP. Der Präsident der nach den Wahlen 2011 neu gegründeten Area Liberale, Sergio Mosoli, war nämlich früherer FDP-Grossrat und Spaltpilz zwischen dem radikalen und dem liberalen Lager, was den Freisinn bereits 2011 Stimmen gekostet hatte. Der Listenreigen wurde komplettiert durch die beiden linksextremen Parteien Movimento per il socialismo (mps), die 2011 einen Sitz erobert hatte, und der Partei der Arbeit (Partito operaio e popolare). Erstmals trat zudem die GLP im Kanton Tessin an. Die erst im Januar des Wahljahres gegründete Lega Sud wollte im Gegensatz zur Lega dei Ticinesi Brücken zum Nachbarstaat Italien bauen, da die Beziehungen zu Italien in den letzten Jahren immer schlechter geworden seien. Eine Bewegung mit den Namen «Montagna Viva», die sich für die Bergregionen einsetzte und bereits vor vier Jahren bei den Regierungsratswahlen angetreten war, präsentierte eine Liste mit sechs Kandidierenden. Lediglich zwei (Fronte Indignati) bzw. eine Person (La Noce) traten für zwei Kleinstbewegungen an.
Von allem ein wenig, fasste der Corriere del Ticino die Parteiprogramme zusammen, aber einendes Thema sei der Arbeitsmarkt. In der Tat gaben nicht nur die Beziehungen zu Italien hinsichtlich Grenzgängerinnen und Grenzgängern zu reden, sondern auch die kantonale Initiative der SVP «Prima i nostri», welche den Inländer-Vorrang auf dem Tessiner Arbeitsmarkt forderte. Ob mit einer Begrenzung der Arbeitspendler, die nicht nur Verkehrschaos verursachten, sondern auch rund einen Viertel aller Arbeitsplätze im Kanton besetzten, oder mittels Kampf gegen Lohndumping: Die Parteien waren sich einig, dass es in den nächsten vier Jahren arbeitsmarktliche Reformen brauche. Ein weiteres Thema war die starke Untervertretung von Frauen in der Politik des Südkantons. Mit lediglich 14 von 90 Sitzen gehörte der Kanton Tessin zu den Schlusslichtern bezüglich Frauenrepräsentation. In der von der Regierung verschickten Info-Broschüre zu den Wahlen wurden die Wahlberechtigten gar aufgerufen, weibliche Kandidierende zu wählen.
Umfragen liessen erneut Verluste der FDP erwarten. Aber auch für die CVP und die SP wurden geringere Wählerprozente prognostiziert. La Destra und die Grünen sollten laut den sich auf die Vorwahlbefragungen stützenden Prognostikern von diesen Verlusten profitieren. Auch der Lega wurde Aufwind prophezeit. Für Wirbel sorgte schliesslich das Angebot dreier Wahlberechtigter, die auf einem Online-Portal ihre unterschriebenen Blanko-Wahlzettel zum Verkauf anboten. In der Tat konnten die Tessinerinnen und Tessiner bei den anstehenden Wahlen erstmals überhaupt brieflich wählen. Die kantonale Regierung leitete ein Strafverfahren wegen Wahlbetrugs ein.
Wohl auch dank der neuen Möglichkeit der Briefwahl lag die Wahlbeteiligung mit 62.3 Prozent höher als 2011 (58.5%). Deutlich mehr als 80 Prozent der Wählenden gaben ihre Stimmen per Post ab. Die grossen Überraschungen blieben dabei aber aus. Zwar wurden elf Abgeordnete nicht bestätigt und somit 34 neue Grossrätinnen und Grossräte gewählt, es kam aber nicht zu den erwarteten Verschiebungen. Nicht «La Destra» konnte zulegen – der Verbund blieb bei 5 Sitzen und 5.8 Wählerprozenten (im Vergleich zu 2011 war das ein Plus von 0.3 Prozentpunkten) –, sondern die FDP und die Lega, die beide ein Mandat hinzugewinnen konnten. Die FDP (neu: 24 Sitze) konnte ihren Wähleranteil um 1.5 Prozentpunkte auf 26.7 Prozent steigern und auch die Lega legte um 1.4 Prozentpunkte zu (neu: 22 Sitze und 24.2%). Diese Sitzgewinne gingen wohl auf Kosten der CVP, die neu nur noch auf 17 Grossratssitzen Platz nimmt (18.6%; -1.9 Prozentpunkte). Auch im links-grünen Lager kam es nicht zu den erwarteten Verschiebungen. Zwar verlor die SP einen Sitz und ein halbes Wählerprozent (neu: 13 Sitze, 14.6%), aber auch die Grünen mussten eher unerwartet Federn lassen. Mit einem Wählerverlust von 1.6 Prozentpunkten mussten sie einen Sitz abgeben (neu: 6 Sitze, 6%). Diese beiden Sitze gingen an den Movimento per il socialismo und die Montagna viva. Während der mps damit neu zwei Mandate übernimmt (1.4%; +0.1 Prozentpunkte), zieht die Montagna viva dank der Unterstützung von 1.2 Prozent der Tessiner Wahlbevölkerung erstmals in den Gran Consiglio ein. Die fünf restlichen Parteigruppierungen – inklusive der GLP – erhielten allesamt weniger als 0.5 Wählerprozente, was nicht für einen Sitzgewinn reichte.
Damit halten die FDP und die Lega zusammen die Mehrheit der Stimmen im Tessiner Parlament, was von den Medien als Rechtsrutsch kommentiert wurde. Der Aufruf der Regierung, mehr Frauen zu wählen, schien etwas gefruchtet zu haben. Immerhin stieg der Frauenanteil in der Tessiner Legislative um 10 Prozentpunkte auf neu 24.4 Prozent.
Dossier: Elections des législatifs cantonaux 2015