Beseitigung der Inländerinnen- und Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug (Pa.Iv. 19.464)

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Eine «stossende Ungleichbehandlung» zwischen inländischen und ausländischen Personen soll durch Folge geben einer parlamentarischen Initiative Barrile (sp, ZH) endlich beseitigt werden, forderte die SGK-NR im Frühling 2021 in ihrem Antrag zuhanden des Nationalrats. Im Jahr zuvor hatte sie der Initiative bereits Folge gegeben, während die SGK-SR sich daraufhin knapp gegen Folgegeben ausgesprochen hatte. Stein des Anstosses war eine vom Initianten und der Kommissionsmehrheit wahrgenommene Inländerdiskriminierung, die durch die Entwicklung der Rechtsprechung zum Personenfreizügigkeitsabkommen entstanden war. So ist es heute etwa Staatsangehörigen von EU- und EFTA-Staaten mit Wohnsitz in der Schweiz, die mit Drittstaatenangehörigen verheiratet sind, möglich, Familienangehörige aus Drittstaaten nachzuziehen, während dieses Recht Personen mit Schweizer Staatsangehörigkeit versagt bleibt. Der Initiant hatte in seiner Forderung darauf hingewiesen, dass sich das Bundesgericht bereits im Jahr 2010 mit dieser Frage befasst habe, wobei es keine sachlichen Gründe für eine zulässige Ungleichbehandlung habe feststellen können. Durch einen sogenannten Appellentscheid habe das Bundesgericht zum Ausdruck gebracht, dass es an der Legislative sei, diese Ungleichbehandlung durch eine entsprechende Gesetzesänderung zu erarbeiten. Eine Kommissionsminderheit hingegen sah keinen Handlungsbedarf, da es sich beim Familiennachzug aus Drittstaaten um einen der wenigen Bereiche in der Migrationspolitik handle, über den die Schweiz noch selbst bestimmen könne. Darüber hinaus wies die Kommissionsminderheit darauf hin, dass das Parlament das Recht habe, sich Bundesgerichtsurteilen zu widersetzen und bezweifelte, dass es sich im vorliegenden Fall überhaupt um «Diskriminierung im Rechtssinne» handle. Aus diesen Gründen beantragte sie, der Initiative keine Folge zu geben.
Der Nationalrat folgte in der Sommersession 2021 der Empfehlung seiner Kommissionsmehrheit und gab der parlamentarischen Initiative zur Beseitigung der Inländerinnen- und Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug mit 137 zu 54 Stimmen (1 Enthaltung) Folge. Ausserhalb der SVP-Fraktion sprach sich lediglich ein Mitglied der Mitte-EVP-Fraktion gegen Folgegeben aus. Aufgrund dieses deutlichen Zuspruchs aus der grossen Kammer beschloss die SPK-SR, der Initiative ebenfalls Folge zu geben, womit sie ihre Schwesterkommission zur Erarbeitung einer entsprechenden Gesetzesanpassung ermächtigte.

Mitte Juni 2023 präsentierte die SPK-NR ihren Entwurf einer Änderung des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration (AIG) zur Beseitigung der Inländerinnen- und Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug. Dieser sah vor, dass neu auch weitere, aus Drittstaaten stammende Familienangehörige von Schweizerinnen und Schweizern nicht mehr länger über eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung eines EU- oder EFTA-Staates verfügen müssen, um die Kriterien für den Familiennachzug zu erfüllen. Bislang waren lediglich Ehegatten und minderjährige Kinder von dieser Bestimmung ausgenommen gewesen. Neu wird für inländische Personen der Familiennachzug von Drittstaatenangehörigen somit auch für volljährige Kinder sowie für eigene Verwandte oder Verwandte des Ehegatten in aufsteigender Linie (also primär für die Eltern des Ehegatten) möglich, sofern den betroffenen Personen Unterhalt gewährt wird.

Die im Rahmen der vorgängig durchgeführten Vernehmlassung eingegangenen 37 Stellungnahmen fielen mehrheitlich positiv aus. 19 von 24 Kantone begrüssten den Entwurf, wenn auch einige darunter nicht ohne Vorbehalte oder Änderungswünsche. Ablehnend zum Entwurf äusserten sich die Kantone Glarus, Luzern, Nidwalden, Solothurn und Zug. Von den Parteien lehnte die SVP den Entwurf gänzlich ab, während sich die anderen vier stellungnehmenden Parteien – die SP, die Grünen, die Mitte und die FDP – im Grunde positiv zum Entwurf äusserten, wenngleich in zwei Fällen nicht bedingungslos: Auf der einen Seite verlangte die FDP strengere Anforderungen an die wirtschaftliche Eigenständigkeit der Nachziehenden, während die Grünen auf der anderen Seite die Zulassungsbedingungen gar lockern wollten. Explizit keine Stellungnahme abgeben wollten der SGV und der SAV, während andere interessierte Kreise den Vorentwurf unterstützten – darunter etwa der SGB. Im Nachgang zur Vernehmlassung hatte die Kommission die Bedingungen noch leicht verschärft, indem sie die Integration als weitere mögliche Bedingung zum Erteilen oder Verlängern der Aufenthaltsbewilligung in die Gesetzesrevision aufnahm. Innerhalb der Kommission gingen die Meinungen über die an die Aufenthaltsbewilligung zu knüpfenden Bedingungen jedoch auseinander. Auf der einen Seite wollte eine bürgerliche Kommissionsminderheit die Bestimmungen weiter verschärfen, namentlich das Kriterium zum Vorliegen einer bedarfsgerechten Wohnung, welches die bestehende Pflicht des Zusammenlebens ablöst. Auf der anderen Seite beantragten linke Kommissionsminderheiten die Streichung dieses Kriteriums sowie desjenigen zur Möglichkeit, für den Familiennachzug eine Integrationsvereinbarung zu verlangen.

Der Bundesrat äusserte sich in seiner Stellungnahme im August 2023 grundsätzlich wohlwollend zum Entwurf. In Bezug auf die Integrationsvereinbarung hielt er jedoch fest, dass dadurch eine erneute Ungleichbehandlung beim Familiennachzug von Personen mit Schweizer Pass und Angehörigen der EU- und EFTA-Staaten geschaffen würde. Dennoch erachtete er die Möglichkeit zum Abschluss von Integrationsvereinbarungen als «sinnvoll», da mögliche Zusatzkosten für die Sozialversicherungen und die Sozialhilfe durch die erwartete Zunahme an Personen durch den erweiterten Familiennachzug nicht ausgeschlossen werden könnten. Der Bundesrat wies in seiner Stellungnahme ebenfalls darauf hin, dass bislang keine zuverlässigen Prognosen über das Ausmass der Zuwanderung durch die von der Gesetzesänderung betroffenen Personen gemacht werden konnten. Nicht zuletzt äusserte sich der Bundesrat zur Frage der Verfassungsmässigkeit und dabei insbesondere zu dem durch Annahme der Masseneinwanderungsinitiative verankerten Artikel 121a BV. Dabei wies er darauf hin, dass das Parlament vorgängig bereits in «weitaus umfassenderen Bereichen» bei der Zuwanderung auf die Begrenzung durch Kontingente und Höchstzahlen verzichtet hätte und die Zustimmung zur Vorlage keinen Paradigmenwechsel markiere. Der Bundesrat beantragte also Eintreten auf die Vorlage, wies das Parlament jedoch an, sich vor der Beschlussfassung vertieft mit der Verfassungsmässigkeit sowie mit den vorhandenen statistischen Daten, namentlich mit den Daten der kantonalen Behörden zu abgelehnten Gesuchen von Personen mit Schweizer Pass, die dem EJPD nicht vorliegen würden, auseinanderzusetzen.

Nach Kenntnisnahme der bundesrätlichen Stellungnahme beschloss die WBK-NR im Oktober 2023, zuerst vertiefte Abklärungen zur Verfassungsmässigkeit ihrer Vorlage zur Beseitigung der Inländerinnen- und Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug in die Wege zu leiten, bevor sie diese dem Parlament unterbreite.

Im Mai 2024 gab die SPK-NR bekannt, dass sie nach Prüfung ergänzender Daten und der Frage der Verfassungsmässigkeit zum Schluss gekommen sei, ihre basierend auf einer parlamentarischen Initiative Barrile (sp, ZH) erarbeitete Vorlage zur Beseitigung der Inländerinnen- und Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug dem Nationalrat ohne Änderungen vorlegen zu wollen. Sie fasste diesen Entschluss mit 12 zu 12 Stimmen und Stichentscheid der Präsidentin Gysin (gp, TI).

Die Mehrheitsverhältnisse im Nationalrat zur parlamentarischen Initiative Barrile (sp, ZH) zur Beseitigung der Inländerinnen- und Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug waren in der Sommersession anfänglich ähnlich knapp wie in der vorberatenden Kommission: Den Beschluss auf Eintreten fällte die grosse Kammer auf Anraten ihrer Kommissionsmehrheit mit 98 zu 93 Stimmen bei 6 Enthaltungen. Eine Minderheit Marchesi (svp, TI), die in erster Linie von der SVP-Fraktion und einer Grossmehrheit der Mitte-Fraktion unterstützt wurde, hatte für Nichteintreten plädiert. Die Minderheit vertrat die Ansicht, dass eine Lockerung der Zuwanderungsregelung gegen den im Zuge der Volksabstimmung über die Masseneinwanderungsinitiative angenommenen Verfassungsartikel verstosse und in höheren Sozialausgaben resultiere. Die Kommissionsmehrheit stellte sich auf den Standpunkt, dass es den Umstand zu beheben gelte, dass zwar EU- und EFTA-Staatsangehörige durch das Personenfreizügigkeitsabkommen ihre Familienangehörigen aus Drittstaaten in die Schweiz nachziehen lassen können, Schweizerinnen und Schweizer jedoch nicht über dieses Recht verfügten. Dieser Missstand sei vom Bundesgericht bereits vor 15 Jahren festgestellt worden und das Parlament sei via Appellentscheid zur Beseitigung dieser Diskriminierung aufgefordert worden, führte Kommissionssprecherin Samira Marti (sp, BL) aus. Die Kommissionsmehrheit stützte sich auch auf ein vom BJ in Auftrag gegebenes Gutachten, dass die Verfassungsmässigkeit in dieser Frage als gegeben erachtete.

In der Detailberatung folgte der Nationalrat einer Minderheit II Silberschmidt (fdp, ZH), die die Auswirkungen auf die Sozialwerke möglichst gering halten und die Bestimmungen verschärfen wollte. Konkret müssen Schweizerinnen und Schweizer gemäss entsprechend geänderter Fassung des Nationalrates für nachziehende Familienangehörige nachweisen, dass sie ihnen dauerhaft Unterhalt gewähren können. Die Minderheit II obsiegte mit 120 zu 23 Stimmen über den Antrag der Kommissionsmehrheit, die unveränderte Zustimmung zum Entwurf vorgeschlagen hatte, der keinen Nachweis für eine dauerhafte Unterhaltsgewährung vorgesehen hatte. 53 Mitglieder der SVP-Fraktion enthielten sich der Stimme und weitere 13 lehnten die Minderheit ab – auch 10 Mitglieder der Grünen-Fraktion stimmten Nein. Der Nationalrat präferierte zudem mit 114 zu 14 Stimmen (69 Enthaltungen) die Minderheit II deutlich über eine Minderheit I Marra (sp, VD), welche die Bedingung des Vorliegens einer «bedarfsgerechten Wohnung» streichen wollte. Die Sozialdemokratin fürchtete, dass besagte Bedingung dazu führe, dass nur Personen, die sich eine teure Wohnung leisten können, vom Familiennachzug profitieren könnten.

In der Gesamtabstimmung stimmte der Nationalrat dem so abgeänderten Entwurf mit 104 zu 86 Stimmen (7 Enthaltungen) zu. Erneut stammten die ablehnenden Stimmen aus der SVP-Fraktion und von einem Grossteil der Mitte-Fraktion.

Anders als der Nationalrat trat der Ständerat in der Herbstsession 2024 nicht auf den aus einer parlamentarischen Initiative Barrile (sp, ZH) resultierenden Entwurf zur Beseitigung der Inländerinnen- und Inländerdiskriminierung beim Familiennachzug ein. Er folgte dabei mit 27 zu 14 Stimmen (2 Enthaltungen) einer knappen bürgerlichen Kommissionsmehrheit. Der Antrag der Mehrheit auf Nichteintreten war zuvor mit 6 zu 6 Stimmen und durch Stichentscheid des Kommissionspräsidenten Daniel Fässler (mitte, AI) gefällt worden. Kommissionssprecherin Esther Friedli (svp, SG) hatte im Rat die Bedenken der Mehrheit erläutert: Mangels statistischer Daten aus den Kantonen sei unklar, wie viele Personen von diesen neuen Bestimmungen vom Familiennachzug profitieren könnten, womit auch die Auswirkungen auf die Sozialwerke unbekannt seien. Sollte der Erlass zu vielen Zuzügen führen, sähe die Kommissionsmehrheit trotz Gutachten des BJ die Verfassungsmässigkeit mit den im Zuge der Annahme der Masseneinwanderungsinitiative hinzugefügten Bestimmungen nicht gegeben. Um die Auswirkungen auf die Sozialwerke möglichst gering zu halten, hatte der Nationalrat zuvor eine Bestimmung hinzugefügt, die vorsah, dass Schweizerinnen und Schweizer ihren nachziehenden Familienangehörigen nachweislich und andauernd Unterhalt zu gewähren hätten. Die genaue Bedeutung dieser Bestimmung, etwa ob der Unterhalt bis ins Pflegealter garantiert werden müsste, habe sich der Kommission auch nach mehrmaligem Nachfragen nicht erschlossen, so die Mehrheitssprecherin.
Daniel Jositsch (sp, ZH) pochte für die Kommissionsminderheit, die neben den links-grünen Kommissionsmitgliedern auch je ein Mitglied der FDP- und der GLP-Fraktion umfasste, darauf, dass es die momentan bestehende Diskriminierung von Schweizerinnen und Schweizern gegenüber den EU-Bürgerinnen und -Bürger zu beheben gelte. Zudem brachte der Minderheitssprecher vor, dass Schweizerinnen und Schweizer durch die Heirat mit Personen aus dem Ausland die Zuwanderung zu einem gewissen Grade selber steuern. Auch deshalb könne das Argument der fehlenden Verfassungsmässigkeit zu Artikel 121a BV, der unter anderem vorschreibt, dass die Schweiz die Zuwanderung eigenständig zu steuern habe, nicht vorgebracht werden. Ferner teilte die Minderheit die Befürchtung der starken Zuwanderung aufgrund dieser Bestimmungen nicht; lediglich die Eltern und die Kinder (neu auch 18- bis 21-jährige) der angeheirateten Personen und «nicht ganze Sippschaften» dürften nachziehen. Die Kommissionsminderheit erachtete zudem die vom Nationalrat hinzugefügte Passage als ausreichend klar für eine gesetzliche Grundlage und als geeignete Basis für eine Auslegung durch die Gerichte.