Weg zum Selbstbestimmungsrecht in der Jurafrage

Als PDF speichern

Wenn sich somit die Baselbieter gegen eine Veränderung des 1848 festgelegten bundesstaatlichen Gefüges entschieden, so wurden in der Jurafrage weitere Schritte zur Ermöglichung einer solchen Veränderung getan, wobei allerdings offen blieb, ob diese die Zahl der traditionellen Bundesglieder vermehren oder aber die innere Struktur eines einzelnen Kantonalstaates umgestalten solle. Die Entwicklung wurde vor allem dadurch beschleunigt, dass mit der von alt Bundesrat Petitpierre präsidierten Kommission der Guten Dienste, den sog. Vier Weisen, praktisch ein eidgenössisches Organ in Aktion getreten war, das allerdings in der bernischen Regierung auch eine grosse Bereitschaft zur Begehung neuer Wege fand. Die separatistische Bewegung sah sich erstmals um die Initiative gebracht und einer Belastungsprobe ausgesetzt, wozu die Organisierung einer Dritten Kraft das Ihre beitrug. Gewissermassen als Abschluss der rein bernischen Bemühungen um eine Beilegung des Konflikts nahm der Grosse Rat im Februar vom Bericht der Kommission der 24 zustimmend Kenntnis. In Erwartung der Vorschläge der Vier Weisen verzichtete man auf eine eigentliche Debatte.

Der Regierungsrat hatte in seinem Programm vom 17. März 1967 zwei Wege ins Auge gefasst, auf denen eine Lösung gesucht werden sollte: Einerseits die Durchführung verschiedener Reformen im Rahmen der bernischen Zuständigkeit und anderseits die Veranstaltung eines Plebiszits, in welchem die Stimmbürger der jurassischen Amtsbezirke endgültig über die Bildung eines eigenen Kantons abstimmen würden. Um die Ausgestaltung dieser beiden Wege und um die Frage der Priorität ergaben sich nun Meinungsverschiedenheiten zwischen der Kommission Petitpierre und der bernischen Regierung. Die Vier Weisen vertraten die Auffassung, dass die Reformpläne für den Jura sich zu einem Autonomiestatut verdichten sollten, das geeignet wäre, die Einheit des Juras zu erhalten und damit die Jurafrage dauerhafter zu lösen, als es ein Entscheid über die blosse Alternative Trennung oder Aufrechterhaltung des Status quo vermöchte. Sie schlugen deshalb vor, dass ein solches Jurastatut auch bundesrechtliche Neuerungen einschliesse und dass seiner Einführung eindeutig der zeitliche Vorrang vor einem Trennungsverfahren gegeben werde; in der Trennungsfrage sodann hielten sie eine Differenzierung nach Amtsbezirken für erforderlich, damit nicht eine knappe gesamtjurassische Mehrheit über das Schicksal einer regional konzentrierten Minderheit entscheide. Der bernische Regierungsrat akzeptierte die Idee des Autonomiestatuts und das Prinzip des amtsbezirkweisen Plebiszits; er beharrte aber darauf, dass über die Trennungsfrage schon vor der rechtsgültigen Verabschiedung des Jurastatuts abgestimmt werde.

Die beiden Instanzen gaben kurz nacheinander ihre Stellungnahmen bekannt: die Kommission der Guten Dienste im Juni; die bernische Regierung im Juli. Die Vier Weisen veröffentlichten einen ersten Bericht, in welchem die Ausarbeitung eines Autonomiestatuts unter Mitwirkung aller Betroffenen vorgeschlagen wurde. Als Hauptelemente eines solchen Statuts, über dessen Inhalt sie einen weiteren Bericht ankündigten, empfahlen sie einen besonderen jurassischen Wahlkreis für die Bestellung der Regierungs- und der Nationalräte, einen jurassischen Rat mit vorwiegend konsultativen Befugnissen sowie ein jurassisches Verwaltungszentrum. Die Trennungsfrage sollte unmittelbar nach der Einführung des Statuts zur Abstimmung gebracht werden. Der bemische Regierungsrat dagegen beantragte einen Verfassungszusatz, der das Trennungsverfahren festlegte: Volksbefragung über die Trennung im Gesamtjura (auf Grund eines Volksbegehrens oder auf Anordnung der Regierung) nach einer grundsätzlichen Stellungnahme des Grossen Rates zu einem Regierungsratsbericht über das Jurastatut – Initiativrecht der einzelnen Amtsbezirke und danach auch der an der Trennungslinie gelegenen Gemeinden zur Bestimmung ihrer Kantonszugehörigkeit, wobei Laufen der Anschluss an einen dritten Kanton freistünde – Wahl eines Verfassungsrates im Gebiet eines allfälligen jurassischen Kantons – Ausarbeitung einer Verfassung und Genehmigung derselben durch die Stimmberechtigten dieses Gebiets. Zur Gewährleistung freier Volksentscheide war vorgesehen, die erforderlichen Urnengänge unter eidgenössische Kontrolle zu stellen und den Regierungsrat zur Anordnung der brieflichen Stimmabgabe zu ermächtigen.

In der öffentlichen Diskussion um das Juraproblem ging es aber nicht nur um den Umfang des Jurastatuts und die Priorität von Statut oder Plebiszit, sondern auch um die Frage, ob eine Lösung im Rahmen der bernischen Kantonssouveränität oder auf Grund einer ausserbernischen Vermittlung zwischen Bern und den Repräsentanten des Juras zustandekommen solle. Das Rassemblement jurassien (RJ) beharrte darauf, dass zwischen den bernischen Behörden und ihm eine solche Vermittlung erfolge, und es erklärte die Kommission Petitpierre wegen ihrer formellen Einsetzung durch die bernische Regierung als untauglich für diese Aufgabe; es sprach aber auch dem Bundesrat, dem es die «Besetzung» des Juras im Jahre 1968 und das Verbleiben des zur Demission aufgeforderten Chefs des EMD auf seinem Posten zur Last legte, sein Misstrauen aus, indem es Ende März die Exekutiv- und Legislativbehörden des Bundes und sämtlicher Kantone um eine «médiation confédérale» ersuchte. Generalsekretär Béguelin präzisierte in einer Rede in Sitten, dass damit die Aktion einer Gruppe von Kantonen gemeint sei; er unterliess es nicht, einzelne Kantone direkt zu einem solchen Vorgehen aufzufordern. Angesichts dieser Versteifung der separatistischen Haltung, die durch neue Drohungen und Demonstrationen unterstrichen wurde, setzten sich auch nichtjurassische Kreise für eine ausserbernische Vermittlung ein, so im alten Kantonsteil das Junge Bern und in der Westschweiz ein Kongress der welschen konservativ-christlichsozialen Parteien. Eine Andeutung im Fastenmandat des Bischofs von Basel wurde im gleichen Sinn interpretiert. Die antiseparatistischen Organisationen dagegen wiederholten in einer Erklärung, die sie im Mai parallel zum Mediationsgesuch des RJ an die Regierungen und die Parlamentarier der Eidgenossenschaft und der Kantone richteten, ihre Forderung nach einem Plebiszit in den jurassischen Amtsbezirken, das die Abneigung der Mehrheit gegen eine Kantonstrennung offenkundig machen sollte.

Mit ihren Vorschlägen und Anregungen empfahl die Kommission Petitpierre ein Vorgehen, das sich im Rahmen der bernischen wie der schweizerischen Rechtsordnung bewegte; dementsprechend wandte sie sich entschieden gegen die separatistische Forderung, dass bei einem Plebiszit auch die ausserhalb des Juras niedergelassenen Jurassier, nicht aber die in den Jura eingewanderten Deutschschweizer mitstimmen sollten. Sie betonte aber ihren Willen, ungeachtet ihrer Ernennung durch die bernische Regierung als unabhängiges Vermittlergremium zu wirken. Das persönliche Ansehen der Vier Weisen und der Mangel an aussichtsreichen Lösungsmöglichkeiten trügen dazu bei, dass ihr Bericht trotz seinen ungewöhnlichen Ratschlägen ein sehr positives Echo fand. Selbst auf separatistischer Seite, wo man namentlich die Stellungnahme zur Stimmberechtigungsfrage zurückwies und ausserdem über eine Verurteilung der Kampfmethoden des RJ durch die Vier Weisen ungehalten war, fehlte es nicht an einer gewissen Anerkennung. Umgekehrt wurden in der altbernischen Presse einige Vorbehalte in Bezug auf Gestaltung und Priorität des Autonomiestatuts erhoben. Die Anträge des bernischen Regierungsrates vermochten dagegen im alten Kantonsteil und auch in jurassischen Antiseparatistenkreisen mehr Zustimmung zu ernten, während ausserkantonale Stimmen zu bedenken gaben, dass ein verfrühtes Plebiszit oder eine zu selbständige Gestaltung des Jurastatuts durch Bern die Wirkung eines solchen Statuts beeinträchtigen könnte. Es wurde allerdings auch darauf hingewiesen, dass die altbernischen Stimmbürger ihrerseits für die beantragte Lösung erst gewonnen werden müssten.

Einer indirekten Aufforderung imBericht der Vier Weisen Folge leistend, organisierten sich im Sommer Kreise der sog. «Dritten Kraft » in einem «Mouvement pour l'unité du Jura» (MUJ), das den Versuch unternahm, den Empfehlungen jenes Berichts noch umfänglicher zum Durchbruch zu verhelfen. Es setzte sich dafür ein, dass die Kommission der Guten Dienste vom Bundesrat als Vermittlungsorgan anerkannt und dass ein mit ihrer Hilfe ausgearbeitetes Autonomiestatut vor dem Trennungsplebiszit in beiden Kantonsteilen zur Abstimmung gebracht werde. Vertreter der neuen Gruppe traten mit der Juradelegation des Regierungsrates in Kontakt; es wurde auch erreicht, dass die Jurassische Deputation dem Grossen Rat mit knappem Mehr – das Stimmenverhältnis betrug 18:17 – eine Umstellung der Prioritäten in der Juravorlage beantragte. Der Rat lehnte freilich im September eine solche Änderung ab, nachdem die Regierungssprecher geltend gemacht hatten, dass das geplante Jurastatut aus zahlreichen Einzelmassnahmen bestehen werde, über die man das Volk nicht in einem Zug abstimmen lassen könne; die Juravorlage der Regierung wurde darauf in erster Lesung ohne Gegenstimmen gutgeheissen. Im Sinne der Dritten Kraft forderte endlich der christlichsoziale Waadtländer Nationalrat Mugny den Bundesrat dazu auf (Ip. 10112), der Kommission der Guten Dienste den Auftrag zu erteilen, sie möchte in der Frage des Autonomiestatuts die Initiative ergreifen. Bundespräsident von Moos zeigte jedoch keine Bereitschaft, die Kommission mit einem eidgenössischen Auftrag auszustatten, der über eine Leistung guter Dienste hinausginge, und der Nationalrat wies einen Antrag des Separatisten Wilhelm auf Diskussion zurück.

Das Auftreten einer organisierten Dritten Kraft vermochte zwar kein weiteres Entgegenkommen der bernischen und der eidgenössischen Behörden zu bewirken, wohl aber veranlasste es die separatistische Bewegung zu einer elastischeren Taktik. Um die Jahresmitte hatten verschiedene Anzeichen auf eine neue Verschärfung der Spannung hingedeutet: Das Rassemblement jurassien (RJ) hatte im Mai seine Organisation gestrafft und als Führungsorgan ein elfköpfiges Exekutivbüro geschaffen, in welches vier Vertreter des Grouper Bélier, nicht aber der gemässigte Nationalrat Wilhelm gewählt wurden; am 1. August war es in der Ajoie zu Zusammenstössen gekommen, worauf antiseparatistische Kreise die erneute Aufstellung bewaffneter Garden androhten; und obendrein kündigte ein neuer Front de Libération Jurassien Anschläge gegen Speicherkraftwerke an.

Die Vier Weisen sahen sich genötigt, öffentlich vor einer Politik des Hasses und der Gewalt zu warnen. Die Bildung des MUJ wurde aber von der separatistischen Führung begrüsst. Die von der Dritten Kraft angestrebte Autonomie bezeichnete Béguelin als Etappe auf dem Weg zu einem Kanton Jura, umgekehrt zeigte er immer deutlicher auch eine gewisse Bereitschaft, über eine Kantonsbildung im Nordjura zum separatistischen Endziel vorzustossen. Das hinderte ihn freilich nicht, an den Forderungen nach einer unabhängigen Vermittlung und nach einem Ausschluss der deutschsprachigen Einwanderer von der Beteiligung am Plebiszit festzuhalten. Im Dezember fanden die separatistischen Führer Gelegenheit, ihre Vermittlungskonzeption im Bundeshaus vorzutragen; sie überreichten den Präsidenten der eidgenössischen Räte zuhanden des Bundesrates einen Plan, nach welchem eine verselbständigte und im Einvernehmen mit Bern und dem RJ umgebildete Kommission Petitpierre in erster Linie auf eine Vereinbarung über das Selbstbestimmungsverfahren hinarbeiten sollte. Zehn Tage zuvor hatten vor demselben Bundeshaus Demonstranten des Groupe Bélier, dessen Agitation sich zunehmend gegen die Armee wandte, Zivilverteidigungsbücher verbrannt und die Demission des Bundespräsidenten gefordert. Der Bundesrat stellte fest, dass die Vier Weisen zur Prüfung der Frage einer eidgenössischen Vermittlung legitimiert seien.

Der bernische Grosse Rat, der dem Wunsch der Regierung nach Zeitgewinn entsprechend im Dezember zu einer Sondersession zusammentrat, bestätigte in der zweiten Lesung seinen ersten Entscheid. Obwohl sich das Rassemblement jurassien (RJ) erneut in aller Schärfe gegen die Stimmberechtigung ansässiger Deutschschweizer wandte, gab es noch vor Jahresende für die Volksabstimmung die JA-Parole aus. Damit vermied es, dass diese Abstimmung in Bezug auf die jurassische Zukunft einen plebiszitären Charakter erhielt; mit einer gleichlautenden Stellungnahme der Antiseparatisten war zu rechnen. Der separatistische Schachzug wurde aber auch als ein Erfolg der bernischen Politik gewertet, die dem RJ ein wenn auch nur taktisches Einlenken aufgenötigt habe.

In der Jurafrage wurde zunächst der von den bernischen Behörden vorbereitete entscheidende Schritt zum Selbstbestimmungsrecht durch das Volk sanktioniert. Mit einer Mehrheit von 86 Prozent nahmen die Stimmbürger am 1. März den Verfassungszusatz an (Annahme mit 73'441 zu 29'527 Stimmen), der ein Verfahren für die Kantonstrennung festsetzte. Das Fehlen jeder organisierten Opposition ermöglichte eine gleichmässige Zustimmung in allen Amtsbezirken. Unterschiedlich war allerdings die Stimmbeteiligung; sie hielt sich im alten Kantonsteil trotz dem persönlichen Einsatz der Regierungsräte Jaberg und Bauder unter 35 Prozent, im Jura dagegen über 60 Prozent und liess auf eine gewisse Resignation Deutsch-Berns schliessen. Einen Test für die Stärke der verschiedenen Tendenzen im Jura bildete die besondere Abstimmung über die Möglichkeit einer Einführung der brieflichen Stimmabgabe. Diese war als Mittel zur Wahrung der Abstimmungsfreiheit gedacht, wurde aber vom Rassemblement jurassien (RJ) als Werkzeug für den Stimmenfang gedeutet und abgelehnt, wobei ihm die Christlichsozialen und ein Teil der Sozialisten Gefolgschaft leisteten; das Mouvement pour l'unité du Jura (MUJ) gab die Stimme frei. Mit Ausnahme von Courtelary verwarfen alle französischsprachigen Amtsbezirke diese zweite Vorlage, während sie im alten Kantonsteil mit starken Mehrheiten angenommen wurde (Annahme mit 90'396 zu 14'086 Stimmen).