Unter Dissenting Opinions werden in der Rechtslehre von der Mehrheit abweichende Meinungen eines oder mehrerer Richter bei einer Mehrheitsentscheidung verstanden. Es ist durchaus umstritten, ob ein Gerichtsmitglied bekannt geben darf, dass es nicht die gleiche Meinung wie seine Kolleginnen und Kollegen vertritt. Als Vorteil einer solchen Bekanntgabe wird die höhere Transparenz eines Urteils betrachtet. Zudem können Rechtsuchende anhand von Dissenting Opinions abschätzen, ob sich vielleicht in Bälde eine Praxisänderung abzeichnet. Schliesslich kann die Qualität der Rechtsprechung gesteigert werden, wenn auch abweichende Meinungen erläutert werden dürfen. Freilich werden auch Nachteile mit Dissenting Opinions verknüpft: eine mögliche Unterwanderung der Autorität der Justiz, die Gefährdung der Unabhängigkeit einzelner Richterinnen und Richter, weil aufgrund von abweichenden Meinungen ein Profil erstellt werden kann, oder auch der höhere administrative Aufwand, da Dissenting Opinions schriftlich begründet werden müssten.
In den Augen einer Mehrheit der RK-NR würden die Vorteile überwiegen, was sie dazu veranlasste, eine Motion einzureichen, mit der das Bundesgerichtsgesetz neu auch abweichende Meinungen zulassen soll. Bisher ist dies lediglich bei öffentlichen Urteilsberatungen und mündlich möglich, die freilich lediglich rund 1% aller gerichtlichen Beratungen ausmachen. Mit der Motion soll es Richterinnen und Richtern, die bei einem öffentlichen Urteil der Minderheit angehören, ermöglicht werden, dem schriftlichen Urteil eine schriftliche Dissenting Opinion beizufügen. Damit beschränkt sich die Motion also auf sehr wenige Fälle. Die Idee für die Motion war im Rahmen der Diskussion um eine mögliche Live-Übertragung von öffentlichen Urteilsberatungen des Bundesgerichtes aufgekommen. In beiden Kammern wurden die Vorteile höher gewichtet als die Nachteile. Während im Nationalrat vor allem die SVP und die BDP erfolglos opponierten, gab es auch im Ständerat einige Dissenting Opinions, die Motion passierte aber auch die kleine Kammer mit 26 zu 12 Stimmen deutlich.

Dossier: Revision des Bundesgerichtsgesetzes

In der Sommersession 2021 schrieb auch der Ständerat die Motion für Dissenting Opinions ab, nachdem der Nationalrat dies bereits in der Frühjahrssession 2019 im Rahmen des Nichteintretens auf die Revision des Bundesgerichtsgesetzes getan hatte. Die Frage, ob Richterinnen und Richter, die mit einem Mehrheitsbeschluss bei einem Gerichtsurteil nicht einverstanden sind, ihre abweichende Meinung schriftlich bekunden dürfen – so die Forderung des abgeschriebenen Vorstosses der RK-NR –, wird aber im Rahmen eines Postulats von Andrea Caroni (fdp, AR), das in einem Bericht Möglichkeiten für eine Modernisierung des Bundesgerichtsgesetzes verlangt, vom Bundesrat wieder aufgegriffen werden.

Dossier: Revision des Bundesgerichtsgesetzes