Es werde wohl noch lange «Corona-Spuren bei den Volksrechten» geben, prognostizierte die NZZ Mitte September 2021. Die Pandemie habe die Unterschriftensammlungen erschwert, was wohl noch lange eine «Delle» bei der Entwicklung lancierter Volksinitiativen hinterlasse. Hingegen würden auch aufgrund des politischen Misstrauens, das im Rahmen der Covid-19-Massnahmen entstanden sei, «neue Bürgervereine» gegründet, die vor allem das Instrument des Referendums (für eine Übersicht zu den Referenden 2021 vgl. hier) nutzen würden, so die NZZ.
Die Übersicht über die Volksbegehren 2021 gibt der Vermutung der NZZ teilweise recht. Entgegen der Erwartung wurden 2021 zwar leicht überdurchschnittlich viele neue Volksinitiativen lanciert, nämlich neun – seit 1978 werden im Schnitt 8.3 neue Volksbegehren pro Jahr lanciert –, dies kam im Vergleich zum Vorjahr (4 lancierte Initiativen) mehr als einer Verdoppelung gleich. Unter den neuen Begehren fand sich die Initiative gegen den F-35, zwei Begehren, die ein Abtreibungsverbot fordern («Lebensfähige-Babys-retten-Initiative»; «Einmal-darüber-schlafen-Initiative») oder ein zweiter Anlauf für ein bedingungsloses Grundeinkommen. Bereits Ende 2020 war zudem eine Initiative für ein Impfverbot lanciert worden. Im Sammelstadium befanden sich damit Ende 2021 insgesamt elf Volksbegehren (Ende 2020: 11).
Im Zusammenhang mit der Covid-19-bedingt schwierigeren Unterschriftensammlung dürfte allerdings die wie bereits im Vorjahr vergleichsweise hohe Zahl an gescheiterten Volksinitiativen stehen: Ganze sieben Initiativkomitees schafften es nicht, in den 18 zur Verfügung stehenden Monaten die nötigen 100'000 Unterschriften zu sammeln – auch wenn aufgrund des Fristenstillstandes vom 21. März bis 31. Mai 2020 die Sammelfrist um diese 72 fehlenden Tage verlängert worden war. Bereits 2020 waren fünf Initiativprojekte gescheitert. Seit 1979 scheiterten im Schnitt 3.2 Initiativen pro Jahr. Von den 15 im Jahr 2019 lancierten Volksbegehren erhielten damit lediglich fünf die notwendige Unterstützung im Unterschriftenstadium; ganze zwei Drittel sind also an der Unterschriftenhürde gescheitert. Im Schnitt (seit 1979) beträgt dieser Anteil rund ein Drittel der pro Jahr lancierten Volksinitiativen. Unter den 2021 gescheiterten Begehren fanden sich dabei durchaus solche mit vermeintlich zugkräftigen Themen und schlagkräftigen Komitees, so etwa die beiden Initiativen gegen den Ausbau des Mobilfunks, aber auch eine von SVP-Parlamentarierinnen und -Parlamentariern mitgetragene Initiative für «Hilfe vor Ort im Asylbereich» und die beiden von linken und gewerkschaftlichen Westschweizer Kreisen angestrengten Initiativen im Bereich der Krankenkassen («Mitbestimmung bei Kranken- und Unfallversicherung»; «Pflegefinanzierungs-Initiative»).
2021 kamen freilich auch zwei Initiativen zustande, darunter eine der fünfzehn 2019 lancierten Volksbegehren, nämlich die «Renteninitiative» der jungen FDP, die mit 107'049 Unterschriften Ende August erfolgreich die erste Hürde übersprang. Mit 101'793 gültigen Unterschriften kam zudem auch die Initiative «für eine 13. AHV-Rente» des SGB zustande, die für die Sammlung nur wenig mehr als 12 Monate benötigt hatte (Sammelbeginn: März 2020). Damit wird das Thema AHV wohl noch einige Zeit auf der politischen Agenda bleiben.
Auf ebendieser Agenda standen Ende 2021 neben den beiden zustande gekommenen Begehren acht weitere hängige Volksinitiativen, die abstimmungsreif waren oder vom Bundesrat oder vom Parlament noch behandelt werden mussten. Wie wichtig diese parlamentarischen Beratungen sein können, zeigt die vergleichsweise hohe Zahl an bedingt zurückgezogenen Initiativen. Gleich vier Mal kam das Parlament den Initiativkomitees mit indirekten Gegenvorschlägen so weit entgegen, dass diese ihr Begehren zurückzogen: bei der «Transparenz-Initiative», der «Fair-Preis-Initiative», der «Korrektur-Initiative» und der Initiative «Organspende fördern – Leben retten». Bei Letzterer wurde allerdings ein Referendum gegen den indirekten Gegenvorschlag angestrebt. Ein Gegenvorschlag muss also nicht in jedem Fall überzeugen. Dies hatte sich in den vergangenen Jahren etwa auch bei der Initiative «Für einen vernünftigen Vaterschaftsurlaub» gezeigt, deren Gegenvorschlag ebenfalls mit einem Referendum bekämpft worden war.
Indirekte Gegenvorschläge hatte das Parlament auch für die Initiative «Ja zum Verhüllungsverbot» sowie die «Pflegeinitiative» ausgearbeitet, den Initiativkomitees gingen diese Angebote freilich zu wenig weit und sie zogen ihre Begehren entsprechend auch nicht zurück; der Erfolg an der Urne bei den Abstimmungen im März und im November 2021 schien ihnen recht zu geben. Beide Volksinitiativen wurden nämlich an der Urne angenommen. Erstmals seit sieben Jahren und nach 2014 zum zweiten Mal in der Geschichte der nationalen Direktdemokratie wurden damit gleich zwei Volksinitiativen im gleichen Jahr angenommen. Es handelte sich um das 23. und 24. an der Urne erfolgreiche Volksbegehren seit 1891. Der Anteil angenommener Volksinitiativen stieg damit Ende 2021 auf 10.6 Prozent (24 von total 226 abgestimmten Initiativen).
Dieser direkte Erfolg blieb den anderen vier Volksinitiativen, über die 2021 ebenfalls abgestimmt worden war, verwehrt (2020 war über total vier Initiativen abgestimmt worden). Die «Justiz-Initiative» (35.1% Ja-Stimmenanteil) und die «99%-Initiative» (31.9%) wurden dabei vergleichsweise deutlich abgelehnt. Die «Pestizidinitiative» (39.4%) und die «Trinkwasserinitiative» (39.3%) erzielten ebenfalls weniger als 40 Prozent Ja-Stimmenanteile und wurden in den Medien für das Scheitern des CO2-Gesetzes verantwortlich gemacht, weil sie vor allem die ländliche und der CO2-Vorlage skeptisch gegenüberstehenden Bevölkerung mobilisiert und einen Stadt-Land-Graben aufgerissen hätten.