Anfang Mai 2022 und damit ungefähr ein Jahr nach dem Abbruch der Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen bemühte sich Staatssekretärin Livia Leu darum, die Beziehungen mit der EU zu verbessern und neue Verhandlungen anzustossen. In einem Interview mit Le Temps erklärte Leu nach ihrem zweiten Treffen mit EU-Vertretern, dass es eine gewisse Zeit brauche, bis beide Seiten feststellen könnten, ob eine gemeinsame Basis für Verhandlungen bestehe. Der Krieg in der Ukraine und die Übernahme der EU-Sanktionen durch die Schweiz könne sich positiv auf die Verhandlungen mit der EU auswirken, schätzte Leu das unsichere politische Umfeld ein.
Wenige Tage später äusserte sich Petros Mavromichalis – der EU-Botschafter in der Schweiz – kritisch im Hinblick auf die aktuelle Lage. Er betonte, dass die EU der Schweiz keine Vorteile gewähren werde, die ihre Mitgliedstaaten nicht auch hätten. Da für alle Teilnehmerstaaten des Binnenmarkts die gleichen Regeln gelten müssten, schob er auch der vom Bundesrat angestrebten Abschaffung der Guillotine-Klausel einen Riegel vor. Die EU wolle, dass alle Marktzugangsabkommen die Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme und den gleichen Streitbeilegungsmechanismus vorsehen, erklärte Mavromichalis in der NZZ. Schutzklauseln seien in einigen Bereichen möglich, ein Ausschluss ganzer Abkommen – wie beispielsweise des Personenfreizügigkeitsabkommens – hingegen sicher nicht.

Mitte Mai deutete ein Brief des Kabinetts von Vize-Kommissionspräsident Maroš Sefčovič an Livia Leu darauf hin, dass noch deutliche Unstimmigkeiten zwischen den beiden Verhandlungsparteien bestanden. In diesem Brief stellte die EU der Schweiz zehn Detailfragen, unter anderem nach der Haltung der Schweiz gegenüber der Rolle des Europäischen Gerichtshofs bei der Streitschlichtung, nach der Akzeptanz gegenüber der Guillotine-Klausel und gegenüber der Weiterentwicklung des EU-Rechts im Kontext der EU-Bürgerrechte.
Wie der Tages-Anzeiger berichtete, habe sich die Position der EU seit der Beerdigung des Rahmenabkommens nicht wirklich verändert. Die EU fordere nach wir vor eine systematische Rahmenlösung für alle bestehenden und zukünftigen Abkommen. Zusätzliche Abkommen in den Bereichen Energie oder Gesundheit könnten ins Verhandlungspaket aufgenommen werden, jedoch nur wenn man auch das Freihandelsabkommen von 1972 aktualisieren würde. Die EU baute zusätzlichen Druck auf den Bundesrat auf, indem sie zur gleichen Zeit eine SP-Delegation in Brüssel ohne Beteiligung der Exekutive empfing. Anlässlich dieses Treffens erklärte Sefčovič sich bereit, in die Schweiz zu reisen, um sich mit Sozialpartnern, Gewerkschaften und Arbeitgebern auszutauschen. Ende Mai meldete sich Mavromichalis in Le Temps abermals zu Wort und verlangte vom Bundesrat eine Klarstellung in Bezug auf dessen Verhandlungsposition, denn die EU könne nicht erkennen, was die Schweiz genau erreichen wolle.

An einer solchen Klarstellung versuchte sich Staatssekretärin Leu Anfang Juni in ihrem Antwortschreiben auf die Fragen der EU. Darin machte Leu deutlich, dass das gescheiterte Rahmenabkommen für die Schweiz bei zukünftigen Verhandlungen keinen Referenzpunkt darstelle. Das Zugeständnis der Schweiz, dass sie neues EU-Recht im Bereich der Bilateralen dynamisch übernehmen würde, gleiche einem Paradigmenwechsel in der Funktionsweise der Marktzugangsabkommen und müsse daher abgefedert werden. Man sei grundsätzlich bereit, die dynamische Rechtsübernahme einzuführen und gemeinsam einen Streitbeilegungsmechanismus zu erarbeiten. Für dieses Entgegenkommen erwarte man aber Ausnahmen und Schutzmassnahmen bei den Aspekten des Lohnschutzes, der Zuwanderung in die Sozialhilfe und der Ausschaffung straffälliger EU-Bürger.
Leu forderte auch ein Mitspracherecht im Gesetzgebungsprozess der EU, sofern dieser die bestehenden und zukünftigen bilateralen Verträge betreffe. Die von der EU geforderte Modernisierung des Freihandelsabkommens lehnte sie ab, da dies «die Verhandlungen überladen» würde, nicht nur zeitlich sondern auch hinsichtlich der Akzeptanz in der Schweiz. In Bezug auf die konkreten Fragen der EU stellte Leu klar, dass die Schweiz bereit sei, rechtliche Verpflichtungen für die Zahlung weiterer Kohäsionsbeiträge einzugehen.
Sie erwähnte auch, dass die institutionellen Regelungen «im Prinzip» bei allen Abkommen im Verhandlungspaket identisch sein könnten und anerkannte die alleinige Kompetenz des EuGH, Europäisches Recht auszulegen. Welche Position der EuGH gegenüber der Schweiz einnehmen werde, definierte sie in ihrer Antwort aber nicht und die Weiterführung der Guillotineklausel erwähnte Leu überhaupt nicht. Angesichts der nach wie vor laufenden Sondierungsphase stellte Leu die Möglichkeit eines baldigen Treffens in den Raum, womit der Ball nun wieder bei der EU lag.

Dossier: Entwicklung der bilateralen Beziehungen mit der EU nach dem Scheitern des Rahmenabkommens