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Allgemeine Chronik
Überblick
Das wichtigste politische Ereignis des Jahres 1995 war die am 22. Oktober durchgeführte Gesamterneuerungswahl des eidgenössischen Parlaments für die 45. Legislaturperiode. Die Kampagne für diese Wahlen fiel insgesamt nicht aufwendiger aus als vier Jahre zuvor; wie der Rückgang der Stimmbeteiligung auf das Rekordtief von 42,3% zeigte, hielt sich auch das Interesse der Bürgerinnen und Bürger in Grenzen. Auffallend war aber - vor allem in der Deutschschweiz - die noch stärkere Ausrichtung auf einzelne Exponenten der Parteien. Traditionelle Wahlveranstaltungen der Parteien blieben in der Regel interne Anlässe, über die oft nicht einmal die regionale Presse berichtete. Ein grosses Echo in den Medien und auch einen regen Publikumszuspruch fanden hingegen die von der Zürcher SVP organisierte nationale Demonstration gegen einen EU-Beitritt und die von der Zürcher SP veranstaltete Gegenkundgebung für eine "offene und tolerante Schweiz". Weidlich zu ihren Gunsten ausnützen konnten die Sozialdemokraten aber auch die mitten in den Wahlkampf platzende Rücktrittserklärung ihres Bundesrats Stich und die noch vor den Wahlen durchgeführte Ersatzwahl. Die Präsentation von valablen SP-Kandidaten für Stichs Nachfolge dominierte so für einen Monat die Medienberichterstattung. Mit ihren klaren und pointierten Stellungnahmen namentlich zur Europapolitik dominierten die SVP und die SP aber auch so den Wahlkampf und schoben die kleineren Partien, vor allem aber die beiden anderen Bundesratsparteien, die wie bereits 1991 auf einen eindeutigen Positionsbezug zur Frage eines EU-Beitritts verzichtet hatten, in den Hintergrund.
Die SP und die SVP waren die grossen Gewinner dieser Wahlen. Bezogen auf die Wähleranteile konnte die SP ihre anlässlich der beiden letzten Wahlen erlittenen Verluste fast wieder gutmachen. In Sitzgewinnen sah das Ergebnis für die SP - dank Proporzglück und vorteilhaften Listenverbindungen mit den Grünen - noch imposanter aus. Für die zukünftige Gestaltung der Parteienlandschaft könnte jedoch der Wahlerfolg der SVP von grösserer Bedeutung sein. Nicht nur vermochte sie bezüglich Wähleranteil bis auf 1,9 Prozentpunkte zur CVP aufzuschliessen (1987 hatte der Rückstand noch 8,6 Prozentpunkte betragen), sondern es gelang der bisher weitgehend auf protestantische Regionen beschränkten Partei auch, erstmals massiv in katholische CVP-Hochburgen wie Luzern oder St. Gallen einzudringen. Zudem vermochte sie sich - nicht zuletzt dank den charismatischen Auftritten von Christoph Blocher - als die massgebende aussenpolitische Oppositionspartei zu profilieren und damit den bei den letzten Wahlen so erfolgreichen Gruppierungen der äusseren Rechten das Wasser abzugraben.
Die insgesamt gestärkt aus den Parlamentswahlen hervorgegangenen Regierungsparteien bestätigten im Dezember die "Zauberformel" für die Zusammensetzung des Bundesrats. Von dieser Stärkung der Bundesratsparteien eine grössere Durchsetzungskraft der Regierungspolitik zu erwarten wäre jedoch verfehlt, ist dieser Machtzuwachs doch ausschliesslich auf die Sitzgewinne der beiden extremen Pole in diesem Zweckbündnis zurückzuführen.
Die im Vorjahr aufgenommenen bilateralen sektoriellen Verhandlungen mit der Europäischen Union konnten im Berichtsjahr noch nicht abgeschlossen werden. Wohl war man in einigen Bereichen nicht mehr weit von einer Übereinstimmung entfernt. Aber die Bedingung der EU, dass ein Vertragsabschluss erst dann möglich sei, wenn man sich über das gesamte Paket geeinigt habe, dämpfte angesichts der sehr unterschiedlichen Positionen namentlich beim Strassenverkehr und bei der Personenfreizügigkeit die Hoffnungen auf einen raschen Abschluss.
Die Liberalisierung der schweizerischen Wirtschaftspolitik wurde zügig vorangetrieben. Das Parlament verabschiedete sowohl das neue Kartellgesetz, welches de facto die meisten bisher praktizierten Absprachen zur Wettbewerbsbehinderung für unzulässig erklärt, als auch die neuen Gesetze über die Realisierung eines funktionierenden Binnenmarktes resp. über den Abbau von technischen Handelshemmnissen.
Eine wichtige Weichenstellung wurde in der Landwirtschaftspolitik vorgenommen. Der neue Agrarartikel scheiterte in der Volksabstimmung vom 12. März an der Opposition von Umweltschützern und Konsumenten. Da im Hintergrund eine 1991 eingereichte Volksinitiative ebendieser Kreise drohte, sah sich das Parlament gezwungen, ohne Verzug einen neuen Verfassungsartikel zu beschliessen, der deren Anliegen ernst nimmt und finanzielle Unterstützung für die Landwirtschaft an den Nachweis einer umweltgerechten Produktion knüpft.
Der wirtschaftliche Wiederaufschwung, welcher im Vorjahr zögerlich eingesetzt hatte, fiel wesentlich bescheidener aus als erwartet. Schuld an dieser Entwicklung trug, neben der ungenügenden Binnennachfrage, auch die Kurssteigerung des Schweizer Frankens. Die Forderungen der Gewerkschaften und der SP nach staatlichen Massnahmen zur Belebung der Konjunktur und Wechselkursinterventionen blieben aber erfolglos. Die Zahl der Arbeitslosen ging leicht zurück, befand sich aber immer noch auf einem hohen Stand. Mit der vom Parlament beschlossenen Revision des Gesetzes über die Arbeitslosenversicherung gab sich die Schweiz ein von internationalen Beobachtern als äusserst modern beurteiltes Instrumentarium zur Bekämpfung der Dauerarbeitslosigkeit. Die wesentliche Neuerung liegt beim Wechsel vom passiven Versicherungsprinzip zu einer aktiven Wiedereingliederungs- und Fortbildungspolitik.
Die Rechnungen der öffentlichen Haushalte schnitten nicht ganz so schlecht ab wie budgetiert; die Defizite blieben aber - namentlich beim Bund, wo Sparprogramme offenbar schwerer durchzusetzen sind als bei den Kantonen und Gemeinden - nach wie vor hoch. Wie die dauerhafte Sanierung des Bundeshaushaltes vor sich gehen soll, war weiterhin unklar. In einer Volksabstimmung wurde zwar eine neue Verfassungsbestimmung gutgeheissen, welche neue Ausgabenbeschlüsse des Parlaments etwas erschwert, indem die Zustimmung durch eine absolute Mehrheit der Abgeordneten verlangt wird. Das vom Bundesrat vorgelegte dritte Sparpaket mit Ausgabenkürzungen von gut 2,3 Mia Fr. und Mehreinnahmen von rund 1,3 Mia Fr. erlitt im Parlament jedoch teilweise Schiffbruch. Gewichtige Sparmassnahmen wurden herausgestrichen und die vorgeschlagenen neuen Steuern stiessen auf Ablehnung.
Die schlechte Finanzlage machte sich verstärkt auch in der Sozialpolitik bemerkbar, dem bei weitem grössten Ausgabenposten des Bundes. Grundsätzlich standen sich zwei Positionen gegenüber: Die Forderung der Linken nach einem weiteren, durch zusätzliche Steuern oder Lohnabgaben zu finanzierenden Ausbau der Sozialwerke, und diejenige der Bürgerlichen nach einer Konsolidierung, welche zusätzliche Leistungen abhängig macht von Sparmassnahmen bei bestehenden Einrichtungen. In einem ersten Test entschied sich das Volk am 25. Juni für die Politik der Bürgerlichen. Es lehnte eine AHV-Ausbauinitiative der Linken ab und stimmte der von den Gewerkschaften bekämpften 10. AHV-Revision zu, welche die im Rahmen der Gleichstellung der Geschlechter beschlossenen Verbesserungen für die Frauen mit einer schrittweisen Angleichung ihres Rentenalters an dasjenige der Männer kompensierte.
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