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Allgemeine Chronik
Überblick
Auch wenn 1994 keine konkreten Entscheide zu fällen waren, prägte die Europafrage die politische Debatte. Mit den Volksentscheiden für einen EU-Beitritt in den drei bisherigen EFTA-Staaten Finnland, Österreich und Schweden war die heikle Situation der Schweiz in einem immer umfassenderen und ständig enger zusammenwachsenden Europa noch offensichtlicher geworden. Der Bundesrat intensivierte deshalb seine Anstrengungen, mit der EU zumindest über bilaterale Abkommen Arrangements für Teilbereiche der Politik zu finden.
Beim Schnüren des Verhandlungspakets und der Formulierung der Verhandlungsmandate liess sich die EU reichlich Zeit, was angesichts der unterschiedlichen Interessenlage der einzelnen Mitgliedstaaten und der die EU beschäftigenden wichtigeren Fragen - Umsetzung der Maastricht-Beschlüsse, Aufnahme von neuen Mitgliedern - auch nicht erstaunen konnte. Wie von Brüssel angekündigt, enthielt dieses Paket nicht nur diejenigen Bereiche, die der Schweiz besonders am Herzen liegen (öffentliche Aufträge, Forschungszusammenarbeit, Vereinheitlichung und Anerkennung von technischen Normen), sondern auch solche, von denen sich vor allem die südlichen EU-Staaten Vorteile erhoffen (Personenfreizügigkeit, Liberalisierung des Agrarmarktes). Die EU machte zudem klar, dass eine Verhandlungslösung für das gesamte Paket gefunden werden muss. Sie werde dann mit der Ratifizierung zuwarten, bis sämtliche schweizerischen Entscheidungsphasen (also auch allfällige Volksabstimmungen) abgeschlossen seien. Die Ablehnung eines einzelnen Teilergebnisses durch die Schweiz würde auch die für andere Bereiche ausgehandelten Abkommen hinfällig machen. Am 12. Dezember konnten die bilateralen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU über die erwähnten Teilbereiche aufgenommen werden.
Noch nicht im Verhandlungspaket enthalten war jener Bereich, dessen Regelung für die Schweiz nach der EWR-Ablehnung am dringlichsten erschien: die Liberalisierung des Luftverkehrs. Die EU - welche an einem freien Marktzugang der Swissair ohnehin kein besonderes Interesse hat und diesen zumindest mit schweizerischen Konzessionen im Strassentransit entschädigt haben möchte - konnte für ihre Verzögerungstaktik allerdings einen guten Grund angeben. Am 20. Februar hatte das Schweizer Volk der von der SP, der GP und den Umweltschutzorganisationen unterstützten "Alpen-Initiative" zugestimmt. Diese verlangt, dass innerhalb von zehn Jahren der gesamte alpenquerende Gütertransitverkehr von der Strasse auf die Schiene umgelagert wird. Für die EU stellte dieser Beschluss einen groben Verstoss zumindest gegen den Sinn und Geist des 1992 mit der Schweiz abgeschlossenen Transitabkommens dar, welches dieser bis Ende 2004 die Beibehaltung der 28-Tonnen-Limite und des Nachtfahrverbots erlaubt. Sie teilte deshalb dem Bundesrat mit, dass diese Restriktionen für den Schwerverkehr parallel mit der Liberalisierung des Luftverkehrs neu diskutiert werden müssten und überdies die Schweiz glaubhaft darzustellen habe, wie sie die "Alpen-Initiative" ohne diskriminierende Massnahmen gegen EU-Transportunternehmer im speziellen und den Strassengüterverkehr im allgemeinen umsetzen wolle.
Die sehr skeptische Haltung der Mehrheit der Stimmbürger gegenüber der Absicht der Landesregierung und des Parlaments, die Rolle der Schweiz in einem stark veränderten aussenpolitischen Umfeld neu zu definieren, manifestierte sich im Berichtsjahr einmal mehr. Sie lehnten den Beschluss, der UNO für friedenserhaltende Missionen zusätzlich zu den unbewaffneten Blaumützen-Kontingenten auch bewaffnete Blauhelm-Truppen zur Verfügung zu stellen, mit deutlicher Mehrheit ab. Damit erteilten sie auch der Idee, dem Volk in naher Zukunft den 1986 abgelehnten UNO-Beitritt wieder zum Entscheid vorzulegen, eine klare Absage. Seit jeher kaum umstritten ist demgegenüber das Mitmachen der Schweiz bei rein wirtschaftspolitischen Institutionen. Die Unterzeichnung des neuen GATT-Abkommens - dem im Gegensatz zum bisherigen Vertrag auch die Dienstleistungen und die schweizerische Landwirtschaft unterstellt sein werden - stiess im Parlament kaum auf Opposition, und der Versuch, über ein Referendum eine Volksabstimmung zu verlangen, scheiterte. Fast alle Parteien und Verbände waren sich einig, dass die mit der neuen Welthandelsordnung angestrebte wirtschaftliche Liberalisierung für das Exportland Schweiz grosse Vorteile bringen wird. Eine wichtige Voraussetzung für die reibungslose Ratifizierung bildeten allerdings erhebliche, nicht produktionsabhängige Kompensationszahlungen an die Bauern für entstehende Einkommensverluste.
Neben der vom neuen GATT ausgelösten Liberalisierung der Wirtschaft wurden im Berichtsjahr weitere Schritte zum Abbau von Wettbewerbsbehinderungen eingeleitet. Der Bundesrat verabschiedete zuhanden des Parlaments eine Totalrevision des Kartellgesetzes und ein neues Binnenmarktgesetz. Erstere bringt zwar kein Kartellverbot, untersagt aber immerhin horizontale Absprachen in bezug auf Preise, Mengen und Gebietsaufteilungen. Das zweite will kantonale Wettbewerbsschranken gegenüber auswärtigen Anbietern, wie sie etwa kantonale Berufspatente darstellen, aufheben.
Obwohl sich die Konjunkturlage verbessert hat und die Wirtschaft erstmals seit 1991 wieder ein reales Wachstum aufwies, blieb die Arbeitslosenquote - vor allem in der Romandie und im Tessin - auf einem für schweizerische Verhältnisse sehr hohen Stand. Ein unerfreuliches Bild bot nach wie vor der Zustand der öffentlichen Finanzen. Trotz diverser Sparanstrengungen belief sich das Defizit des Bundes auf 5,1 Mia Fr., und für 1995 ist ein noch höherer Betrag budgetiert.
In der Sozialpolitik konnten zwei grosse Reformvorhaben zum Abschluss gebracht werden. Am 4. Dezember stimmte das Volk einer Revision des Gesetzes über die Krankenversicherung zu. Diese bringt mehr Solidarität unter den Versicherten (unter anderem durch die Prämiengleichheit zwischen Mann und Frau) und sollte auch zu mehr Wettbewerb und Kostenbewusstsein unter den Krankenkassen führen. Am gleichen Tag lehnten die Stimmberechtigten eine Volksinitiative der SP und der Gewerkschaften für ein über Lohnprozente und Steuergelder finanziertes Krankenversicherungssystem deutlich ab. Die unter dem Leitmotiv der Gleichstellung von Frau und Mann stehende 10. AHV-Revision konnte vom Parlament abgeschlossen werden. Sie führt einen zivilstandsunabhängigen Rentenanspruch ein und bringt die Anrechnung von unbezahlter, in der Regel von Frauen geleisteter familiärer Erziehungs- und Betreuungsarbeit. Während diese Neuerungen breite Zustimmung fanden, wurde der Entscheid der bürgerlichen Parlamentsmehrheit, das Rentenalter für Frauen schrittweise von 62 auf 64 Jahre zu erhöhen, von der Linken erbittert bekämpft. Ein Referendum gegen die 10. AHV-Revision und nicht weniger als drei Volksinitiativen zum AHV-Alter wurden im Anschluss an den Parlamentsentscheid lanciert.
Der Vorsteher des EJPD, Bundesrat Koller, hatte zu Jahresbeginn Massnahmen zur Verbesserung der "inneren Sicherheit" versprochen. Die diesbezügliche Gesetzesproduktion fiel denn in der Tat auch bemerkenswert aus. Die zum Teil neuen, zum Teil verbesserten Instrumente für die Bekämpfung der Geldwäscherei, der Computerkriminalität und des organisierten Verbrechens waren grundsätzlich nicht umstritten und wurden vom Parlament verabschiedet. Eine heftige Polemik entstand hingegen in bezug auf die Zwangsmassnahmen gegen Ausländer ohne Aufenthaltsgenehmigung. Diese erlauben es den Justizbehörden, unter bestimmten Bedingungen eine Vorbereitungshaft anzuordnen bzw. die bisher maximal einmonatige Ausschaffungshaft bis auf neun Monate zu verlängern. Die Befürworter sahen darin ein Instrument gegen Kleinkriminelle (namentlich kleine Drogenhändler), die infolge eines laufenden Asylgesuchs oder fehlender Papiere nicht ausgewiesen werden können. Für die vor allem bei der politischen Linken angesiedelten Gegner handelte es sich hingegen um eine menschenrechtswidrige und diskriminierende Massnahme gegen Ausländer. Das Volk hiess die neuen Bestimmungen am 4. Dezember deutlich gut. Drei Monate vorher, am 25. September, hatte eine relativ knappe Mehrheit einem neuen Antirassismus-Gesetz zugestimmt und damit die Ratifizierung einer entsprechenden UNO-Konvention ermöglicht.
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