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Parteien, Verbände und Interessengruppen
Verbände und übrige Interessenorganisationen
Der Vorort feierte seinen 125. Geburtstag. - Der Bauernverband unterlag bei drei landwirtschaftspolitischen Volksabstimmungen. - Die Ankündigung der Gründung einer neuen Gewerkschaft für den Tertiärsektor sorgte für Unruhe im Schweizerischen Gewerkschaftsbund. - Die Leitung der AUNS liess sich von den Mitgliedern die Vollmacht zur Ergreifung von drei Referenden erteilen.
Unternehmer
Der Vorort feierte im Berichtsjahr seinen 125. Geburtstag. Dieser Anlass wurde vom Präsidenten Andreas Leuenberger lediglich für einen allgemeinen Tour d'horizon - mit Betonung auf der Notwendigkeit einer Verbesserung des Wirtschaftsstandorts Schweiz im internationalen Wettbewerb - und nicht für das Setzen von neuen Akzenten genutzt. In der selben Tonlage waren auch die Ausführungen Leuenbergers zur Europapolitik der Schweiz gehalten. Er stellte sich voll hinter die bilateralen Verhandlungen des Bundesrats und sprach sich dagegen aus, bereits jetzt zur Frage eines Beitritts der Schweiz zur EU Position zu beziehen [1]. Durch den Rücktritt seines Direktors Heinz Allenspach (fdp, ZH) aus dem Nationalrat verlor der Arbeitgeberverband seine direkte Verbindung zum Parlament. Immerhin schafften mit Erich Müller (fdp, ZH) und Johannes Randegger (fdp, BS) zwei Manager von internationalen Grosskonzernen den Einzug in den Nationalrat [2].
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Der Schweizerische Gewerbeverband unterstützte das von der AUNS lancierte Referendum gegen die Regierungsreform mit den Staatssekretären. Er verzichtete jedoch darauf, eine Volksabstimmung über die Kartellgesetzrevision sowie über das Binnenmarktgesetz zu verlangen, obwohl er beiden Vorhaben eher skeptisch gegenübergestanden hatte [3]. Bei den eidgenössischen Wahlen konnten die Rücktritte von prominenten Gewerbevertretern (die Freisinnigen Früh (AR) und Cincera (ZH) sowie bereits 1994 der Zuger CVP-Ständerat Kündig) nicht wettgemacht werden. Der auf der Berner FDP-Liste kandidierende Verbandsdirektor Pierre Triponez schaffte trotz aufwendiger Kampagne den Sprung in den Nationalrat nicht [4].
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Landwirtschaft
Wenig erfolgreich war der Schweizerische Bauernverband (SBV) bei den eidgenössischen Volksabstimmungen. Am 12. März wurden alle drei von ihm unterstützten Agrarvorlagen (Landwirtschaftsartikel, Solidaritätsbeiträge und Milchwirtschaftsbeschluss) abgelehnt. Federführend bei den Gegnern waren neben der Vereinigung kleiner und mittlerer Bauern (VKMB) die Umweltschutzverbände, die Parteien der Linken und der Grünen sowie die Biobauern. Damit war der Weg für einen neuen, ökologischer ausgerichteten Agrarartikel vorgezeichnet. Die Bauernvertreter lieferten anlässlich der Beratung dieses neuen Artikels im Parlament zwar noch einige Rückzugsgefechte, namentlich gegen eine zwingende Verknüpfung der Direktzahlungen mit ökologischen Auflagen. Angesichts der Abstimmungsniederlage vom März und den zwei hängigen Volksinitiativen für eine noch marktorientiertere und ökologischere Landwirtschaftspolitik musste sich der SBV aber mit dem vom Parlament verabschiedeten neuen Agrarartikel abfinden [5].
Erfolgreicher fielen für den SBV die eidgenössischen Wahlen vom Oktober aus, obwohl im Vorfeld angesichts des Rücktritts von rund einem Drittel der Landwirtschaftsvertreter eher mit Einbussen gerechnet worden war. Verbandsdirektor Melchior Ehrler schaffte - im zweiten Anlauf - den Einzug in den Nationalrat auf der Liste der aargauischen CVP; Verbandspräsident Marcel Sandoz gelang dasselbe auf der waadtländischen FDP-Liste. Neu zogen - neben vielen anderen Landwirten - auch der Präsident des Bernischen Bauernverbandes Fritz Oehrli (svp) sowie der St. Galler Landwirt Toni Brunner (svp) - mit 21 Jahren jüngster je gewählter Nationalrat - in das Parlament ein [6].
Die im Vorjahr eingeleiteten organisatorischen Reformen beim SBV wurden in kleinen Schritten vorangetrieben. Die Delegiertenversammlung vom November beschloss eine Reduktion der Mitgliederzahlen der Leitungsgremien. Der in Landwirtschaftskammer umbenannte Grosse Vorstand zählt statt 170 noch 100 Personen, und der an die Stelle des Leitenden Ausschusses tretende Vorstand noch maximal 20 Personen [7]. Die finanziellen Mittel der landwirtschaftlichen Organisationen könnten in Zukunft eingeschränkt werden. Im Anschluss an die negativ verlaufene Volksabstimmung über die Solidaritätsabgaben reichte die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrats eine Motion ein. Darin verlangte sie die Aufhebung der gesetzlichen Bestimmungen, welche die Erhebung von Solidaritätsbeiträgen für die Vermarktung von Produkten in den Bereichen Käse und Früchte erlauben. Nur mit knapper Mehrheit lehnte das Plenum diesen Vorstoss ab [8].
Die schwierige wirtschaftliche Lage der Landwirte und die zunehmend protektionismusfeindliche Entwicklung der Landwirtschaftspolitik begünstigen das Aufkommen von Bauernorganisationen, welche in Opposition zur Leitung des SBV stehen. Die vor allem im Kanton Bern tätigen "Bäuerlichen Komitees" sowie die in der Nordostschweiz aktive "Neue Bauern-Koordination" scheiterten zwar beim Versuch, gegen den WTO-Vertrag ein Referendum einzureichen. Im Sommer beschlossen sie aber, gemeinsam mit der "Zentralschweizerischen Bauern-Interessengemeinschaft" eine Dachorganisation mit dem Namen "Bäuerliches Zentrum Schweiz" zu gründen [9]. Gegen Jahresende kam es zu massiven Protestaktionen von Landwirten gegen die sinkenden Fleischpreise. An den Blockaden von Verteilerzentren und Grossmetzgereien beteiligten sich auch prominente Bauernpolitiker (u.a. der Zürcher SVP-Nationalrat Maurer); der SBV selbst bekundete zwar Verständnis für die Aktionen, unterstützte sie jedoch - im Gegensatz zu einzelnen kantonalen Sektionen - nicht [10].
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Arbeitnehmer
Ähnlich wie der Bauernverband mussten auch die Gewerkschaften bei den eidgenössischen Volksabstimmungen Niederlagen einstecken. Die 10. AHV-Revision, gegen welche der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) und der Christlichnationale Gewerkschaftsbund (CNG) gemeinsam das Referendum ergriffen hatten, nahmen die Stimmberechtigten am 25. Juni deutlich an. In einer Urabstimmung hatte sich zuvor auch die SP-Basis gegen das Referendum der Gewerkschaften ausgesprochen. Ebenfalls am 25. Juni lehnte das Volk mit klarer Mehrheit (73,4%) eine 1990 eingereichte Volksinitiative des SGB und der SP für einen Ausbau der AHV ab. Trotzdem setzte der SGB weiterhin auf die Nutzung der Volksrechte. Er reichte seine gemeinsam mit der SP lancierte Volksinitiative für eine 10. AHV-Revision ohne Erhöhung des Rentenalters für Frauen ein und trat auch dem ursprünglich vom Kaufmännischen Verein und den Angestelltenverbänden gegründeten Komitee für eine Volksinitiative "Für eine Flexibilisierung des AHV-Alters - Gegen eine Erhöhung des Rentenalters für Frauen" bei. Die zwei von den Grünen lancierten Volksinitiativen zur AHV unterstützte er hingegen nicht [11]. Wenig Gehör fand der SGB nicht nur in der Sozialpolitik, sondern auch bei seinen konjunkturpolitischen Vorstössen. Weder seine zusammen mit der SP vorgetragene Forderung nach einem neuen Impulsprogramm (Förderung von Investitionen der öffentlichen Hand) noch sein Begehren nach einer Lockerung der Geldmengenpolitik der Nationalbank mit dem Ziel einer Abwertung des Schweizer Frankens konnten sich durchsetzen [12].
Obwohl die unterschiedliche Haltung von SGB und SP zur 10. AHV-Revision zu einigen Spannungen zwischen den beiden traditionellen Partnern geführt hatte, schnitten die auf SP-Listen kandidierenden Gewerkschafter bei den eidgenössischen Wahlen gut ab. Dies gilt vor allem für die Westschweiz, wo mit Maria Roth-Bernasconi (GE), Jean-Claude Rennwald und Pierre-Alain Gentil (beide JU) gleich drei Gewerkschaftsfunktionäre neu ins Parlament gewählt wurden. Der Präsident des CNG, Hugo Fasel (csp, FR), konnte seinen Nationalratssitz ebenfalls halten und wechselte für die neue Legislaturperiode von der Fraktion der CVP zu derjenigen der Grünen [13].
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In Ausführung eines letztjährigen Verbandsbeschlusses machte sich die Leitung der Gewerkschaft Bau und Industrie (GBI) an die Konkretisierung des Vorhabens, im Tertiärsektor Fuss zu fassen. Gemeinsam mit dem SMUV kündigte sie an, eine neue Gewerkschaft für das Personal der Bereiche Verkauf, Banken und Versicherungen ins Leben rufen zu wollen. Nach Ansicht der Promotoren ist die bisher - neben diversen Angestelltenverbänden - in diesen Sparten tätige SGB-Gewerkschaft Verkauf, Handel, Transport, Lebensmittel (VHTL) mit ihren gut 20 000 Mitgliedern zu schwach und zu wenig attraktiv, um unter den Angestellten des Dienstleistungssektors eine aktive Mitgliederwerbung zu betreiben. Die VHTL zeigte sich über dieses Vorgehen verärgert und forderte den SGB zum Eingreifen auf. Unterstützt wurde sie dabei auch vom Schweizerischen Kaufmännischen Verband. Im September stimmten die Delegierten der VHTL dann gegen eine Fusion mit einer anderen Organisation (im Gespräch war der VPOD) und lehnten auch ein Mitmachen beim Projekt von SMUV und GBI ab. Der SGB reagierte auf diesen Bruderzwist mit der Einsetzung einer Schiedskommission. Ende November gab die SGB-Leitung auf Anraten dieser Kommission den beiden grossen Gewerkschaften SMUV und GBI recht. Sie erlaubte ihnen die Gründung einer neuen Gewerkschaft für den Dienstleistungsbereich, wobei die Mitgliederwerbung allerdings einige Domänen mit starker VHTL-Präsenz (z.B. Migros, Coop, privates Transportgewerbe) ausklammern soll [14].
Der Mitgliederschwund bei den Gewerkschaften hat sich im Berichtsjahr verschärft. Die zum SGB zusammengeschlossenen Organisationen büssten 1995 rund 9000 Mitglieder ein und zählten zu Jahresende noch deren 419 843. Dieser Rückgang um 2,1% ist der grösste seit 1980. Auch die Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände beklagte einen Rückgang der Mitgliederzahl um gut 5000 auf 127 103. Beim CNG schätzte man den Rückgang auf rund 2% [15].
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Andere Interessenorganisationen
Der Bundesrat empfahl die 1993 vom Schweizerischen Hauseigentümerverband eingereichte Volksinitiative "Wohneigentum für alle" zur Ablehnung. Als Reaktion auf verschiedene Liberalisierungsbestrebungen im Mietwesen kündigte der Schweizerische Mieterinnen- und Mieterverband die Lancierung einer Volksinitiative an, welche die sofortige Weitergabe von Hypothekarzinssenkungen an die Mieter sowie einen besseren Kündigungsschutz bringen soll. Ähnlich wie auf dem Arbeitsmarkt werden in Zukunft auch regionale Rahmenmietverträge, welche repräsentative Mieter- und Hauseigentümerverbände unterzeichnet haben, von den Behörden für allgemeinverbindlich erklärt werden können. Das Parlament stimmte einem entsprechenden neuen Bundesgesetz zu [16].
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Die Delegierten des Verkehrs-Clubs der Schweiz (VCS) bekräftigten ihre im Vorjahr manifestierte Zurückhaltung bei der Nutzung der Volksrechte. Sie stimmten im Juni zwar den Entwürfen zu zwei neuen Volksinitiativen bezüglich Kostenwahrheit im Verkehr resp. Finanzierung des öffentlichen Verkehrs einstimmig zu, verzichteten aber vorläufig auf deren Lancierung. Als Hauptgrund wurde angegeben, dass man damit vermeiden wolle, ähnliche vom Nationalrat überwiesene Vorstösse zu konkurrenzieren [17].
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Die vom Zürcher Nationalrat Blocher (svp) präsidierte Aktion für eine unabhängige und neutrale Schweiz (AUNS) zeigte weiterhin ihre Muskeln. An ihrer Mitgliederversammlung vom 6. Mai in Bern erhielt die Leitung die Kompetenz, zu drei Bereichen das Referendum zu ergreifen: den bilateralen Verhandlungen mit der EU (falls diese unbefriedigend ausfallen und insbesondere die Personenfreizügigkeit oder die Aufgabe der 28-Tonnen-Limite im Strassenverkehr beinhalten), der Ratifizierung der Europäischen Sozialcharta sowie der Regierungsreform mit Staatssekretärstellen. Gelegenheit zur Ausführung dieser Aufträge bot sich bereits im Berichtsjahr. Das noch vor Jahresende zustandegekommene Referendum gegen die Staatssekretäre wurde von der AUNS massgeblich mitgetragen [18]. Nicht besonders gut bekam dem freisinnigen Nationalrat Miesch (BL) sein Engagement bei der AUNS, in deren Vorstand er voriges Jahr gewählt worden war. Die Delegierten der FDP von Basel-Land beschlossen, ihn - nicht zuletzt wegen seinen Positionen in der Aussen- und in der Asylpolitik - nicht mehr zu nominieren. Er erreichte dann auf einer eigenen Liste zwar einen Stimmenanteil von 6,4%, was aber zu einer Wiederwahl nicht ausreichte [19].
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Weiterführende Literatur
R. Fluder, Interessenorganisationen und kollektive Arbeitsbeziehungen im öffentlichen Dienst der Schweiz, Zürich 1995.
H. Kriesi, "Bewegungen auf der Linken, Bewegungen auf der Rechten: Die Mobilisierung von zwei Typen von sozialen Bewegungen in ihrem politischen Kontext", in Schweizerische Zeitschrift für politische Wissenschaft, 1/1995, Nr. 1, S. 9 ff.
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[1] NZZ, 9.9.95. Die Ansprache ist publiziert in Schriftenreihe des Vororts, 1995, Nr. 60, S. 3 ff. Zur Haltung des Vororts in der EU-Frage siehe auch NZZ, 9.2.95.1
[2] Vgl. dazu oben, Teil I, 1 e (Eidg. Wahlen).2
[3] LZ, 11.10.95. Vgl. dazu oben, Teil I, 1c (Regierung) und 4a (Wettbewerbspolitik). Zur AUNS siehe unten, Andere Interessenorganisationen.3
[4] Vgl. dazu oben, Teil I, 1 e (Eidg. Wahlen).4
[5] Vgl. dazu oben, Teil I, 4c (Politique agricole) sowie SPJ 1994, S. 333.5
[6] Vgl. dazu oben, Teil I, 1e (Eidg. Wahlen). Siehe auch LZ, 18.10.95.6
[7] BüZ, 16.3.95; LZ, 16.11.95; SBV, 98. Jahresbericht 1995, Brugg, S. 25. Vgl. SPJ 1994, S. 333.7
[8] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1584 f.8
[9] BZ, 25.7.95. Vgl. SPJ 1994, S. 333. Der SBV lehnte eine Unterstützung des WTO-Referendums auch nach der Ablehnung des Agrarartikels ab (BZ, 14.3.95).9
[10] Siehe oben, Teil I, 1b (Politische Manifestationen) und 4c (Production animale). Offiziell unterstützt wurden die Aktionen z.B. von der Sektion Freiburg des SBV sowie von der Union des producteurs suisses (Lib., 22.12.95).10
[11] Siehe dazu oben, Teil I, 7c (AHV) sowie SGT, 3.11.95 (Flexibilisierungsinitiative).11
[12] Siehe dazu oben, Teil I, 4a (Konjunkturpolitik).12
[13] MOMA, 1995, Nr. 11, S. 11. Vgl. auch oben, Teil I, 1 e (Eidg. Wahlen). Zu den Spannungen siehe etwa das Streitgespräch zwischen NR Strahm (sp, BE) und SGB-Vizepräsident Schäppi in MOMA, 1995, Nr. 5, S. 7 ff.13
[14] Bund, BZ und TA, 29.4.95; NZZ, 12.5. (Kommission) und 11.9.95 (VHTL-DV); TA und TW, 30.11.95 (SGB). Siehe auch TA, 22.5.95; WoZ, 2.6.95; SPJ 1994, S. 335.14
[15] Bund, 23.3.96; Lib., 26.3.96.15
[16] Siehe oben, Teil I, 6c (Mietwesen resp. Wohnungsbau).16
[17] TW, 12.6.95; VCS-Zeitung, 1995, Nr. 7-8, S. 4 f. Vgl. auch oben, Teil I, 6b (Politique des transports) sowie SPJ 1994, S. 335 f.17
[18] SoZ, 7.5.95; Bund, NZZ und TA, 8.5.95. Vgl. auch oben, Teil I, 1c (Regierung) sowie III a (SVP).18
[19] Siehe oben, Teil I, 1e (Eidg. Wahlen). Vgl. auch SPJ 1994, S. 336.19
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