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Sozialpolitik
Bevölkerung und Arbeit
Die ständige Wohnbevölkerung der Schweiz wies die schwächste Zuwachsrate seit 1986 auf. - Erneut ging die Arbeitslosenquote leicht zurück. - Die Reallöhne verzeichneten einen Rückgang um 0,5%. - Die Parlamentskammern konnten sich nicht auf eine gesetzlich verankerte Kompensation der Nacht- und Sonntagsarbeit einigen. - Der Nationalrat brachte das Bundesfeiertagsgesetz definitiv zu Fall. - Die Verhandlungen im Rahmen der Gesamtarbeitsverträge wurden zusehends härter.
Bevölkerungsentwicklung
Die Bevölkerung der Schweiz wächst weiter, aber immer schwächer. Im Berichtsjahr nahm die Einwohnerzahl um 41 000 oder 0,6% zu, was die niedrigste Zuwachsrate seit 1986 bedeutet. Im Rekordjahr 1991 hatte der Bevölkerungsanstieg noch 1,3% betragen. Ende Jahr lebten - Saisonniers, Kurzaufenthalter und Asylbewerber nicht mitgezählt - 7 060 400 Personen in der Schweiz. Der Bestand der Schweizerinnen und Schweizer erhöhte sich im Berichtsjahr um 0,2% auf knapp 5,7 Millionen. Diese Zunahme ist in erster Linie auf Einbürgerungen zurückzuführen, da die Geburten die Abwanderung bei weitem nicht wettmachen konnten.
Gemäss den vom Bundesamt für Statistik (BFS) ausgewerteten Daten der Volkszählung von 1990 stieg die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer in der Schweiz seit Anfang der achtziger Jahre um 1,79 auf 74,19 Jahre. Bei den Frauen erhöhte sie sich im gleichen Zeitraum noch deutlicher, nämlich um 1,97 auf 81,05 Jahre. Nach dem BFS dürfte die seit jeher feststellbare Differenz zwischen der Lebenserwartung der beiden Geschlechter jedoch in den nächsten Jahren stagnieren, wenn nicht sogar abnehmen. Männer, die das 65. Altersjahr erreicht haben, leben im Durchschnitt noch 15,5 Jahre; bei den Frauen liegt der Wert bei 19,7 Jahren. Das grösste Ungleichgewicht zwischen den Sterberaten von Männern und Frauen liegt laut BFS bei der Altersgruppe der 15- bis 44jährigen. In dieser Zeit sind die Männer einem ungleich höheren Risiko ausgesetzt, an den Folgen von Unfällen, Herzkrankheiten oder AIDS zu sterben. Das Todesrisiko von 20jährigen Männern ist dabei dreimal höher als jenes der gleichaltrigen Frauen. Der enorme Risikounterschied zwischen Männern und Frauen betrifft zudem einen immer grösseren Altersausschnitt. So war die Sterbewahrscheinlichkeit der jungen Männer in der Zeit von 1988 bis 1993 doppelt so hoch wie jene der Frauen zwischen 16 und 39 Jahren; zehn Jahre zuvor erstreckte sich diese Verdoppelung erst auf die weibliche Altersgruppe zwischen 16 und 34 Jahren.
Wie aus der Sterbetafel 1988/1993 hervorgeht, lassen sich aber auch je nach Zivilstand sehr unterschiedliche Sterblichkeitsrisiken ermitteln. Dabei haben in der Schweiz wie auch in zahlreichen anderen Ländern die Verheirateten die höchste Überlebenswahrscheinlichkeit. Demgegenüber ist das Risiko bei geschiedenen und ledigen Männern deutlich grösser. Begründet wurden diese Unterschiede mit sozialen Ursachen, wobei die Situation bei den ledigen Männern erneut in den Zusammenhang von Gewalt und AIDS gestellt wurde [2].
Ein weiterer Bericht des BFS vertrat die Ansicht, die stetige Alterung der Bevölkerung und das Abflachen des Bevölkerungswachstums seien zwingende Konsequenzen einer hochtechnisierten und individualistisch orientierten Gesellschaft, welche die Verlängerung der Lebensdauer zu einem ihrer obersten Ziele gemacht habe. Der Trend sei in allen Staaten der nördlichen Hemisphäre sowie in Japan ähnlich. Als Nebeneffekt der Alterung ortete der Bericht eine zunehmende "Feminisierung" der Bevölkerung, da durch die höhere Lebenserwartung der Frauenanteil mit steigendem Alter zunimmt. Als mögliche Folgen dieser Entwicklung nannte die Studie die Flexibilisierung der Lebens- und Wochenarbeitszeiten, die Notwendigkeit der Reorganisation der Bildungssysteme sowie den Wandel der Branchenstruktur in Richtung Dienstleistungsgesellschaft, da die Arbeitsnachfrage im pflegerischen und sozialen Bereich proportional zur Alterung der Bevölkerung zunehme [3].
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Arbeitswelt
Wie das BFS in einer Sozialstruktur-Untersuchung anhand der Volkszählung von 1990 herausfand, teilen sich die Berufstätigen in der Schweiz in vier Grobkategorien ein. Die grösste Gruppe bilden mit 37% die qualifizierten Berufsleute. Deren Anteil nimmt allerdings mit zunehmendem Alter ab. Die nicht-manuellen Berufe sind dabei doppelt so stark vertreten wie die handwerklichen. Mehr als ein Fünftel der Erwerbstätigen gehört zur Kategorie der ungelernten Arbeitskräfte. Unter ihnen ist der Prozentsatz der 50- bis 64jährigen besonders hoch. Zum obersten Segment - Topmanagement, freie und akademische Berufe, andere Selbständigerwerbende und oberes Kader - können 20,7% der Arbeitenden gerechnet werden. Ein weiteres Fünftel der Erwerbstätigen zählt zu den intermediären Berufen, gehört dem mittleren Kader an oder verfügt über eine höhere Fach- oder Berufsausbildung.
Wie das BFS weiter feststellte, sind bei den freien Berufen die Frauen mit 16,5% der Erwerbstätigen deutlich untervertreten. Auch bei den anderen Selbständigerwerbenden sind 77,8% Männer. In akademischen Berufen und im oberen Kader sind die Männer ebenfalls mit rund 81% deutlich in der Überzahl. Noch krasser wird es beim obersten Management: Mit 90,6% bleiben die männlichen Chefs nahezu unter sich. Die meisten Frauen sind in den qualifizierten nicht-manuellen Berufen anzutreffen. 1990 stellten sie in dieser Kategorie rund zwei Drittel aller Beschäftigten.
Während in Stadt- und Zentrumskantonen der Anteil des obersten Managements über dem Gesamtdurchschnitt von 1,4% liegt, weisen die Landkantone hier einen unterdurchschnittlichen Prozentsatz aus. In den Stadtkantonen liegt dagegen der Anteil der qualifizierten manuellen Berufe deutlich unter dem Landesmittel von 12,9%. Die Sozialstruktur weist aber auch einen Unterschied zwischen Zentren und Randregionen aus. Ausserhalb der wirtschaftlichen Zentren ist der Anteil von ungelernten Angestellten und Arbeitern deutlich höher als im Durchschnitt [4].
Mit Stichtag 29. September wurde die achte Betriebszählung seit 1905 durchgeführt. Die Erhebung bezieht sich jeweils auf alle Arbeitsstätten und Unternehmen des sekundären und tertiären Wirtschaftssektors sowie auf die Betriebe der Fischerei und der Forstwirtschaft, während die Landwirtschaft in einer besonderen Untersuchung erfasst wird. Im Mittelpunkt der Betriebszählungen steht die Frage nach der Zahl der Beschäftigten, gegliedert nach verschiedenen Kriterien wie Vollzeit/Teilzeit, Geschlecht, Nationalität usw. Im Berichtsjahr wurden zudem erstmals die Export- und Importtätigkeiten der Unternehmen sowie die Umsätze vollumfänglich erhoben [5].
Eine von einem privaten Forschungs- und Beratungsunternehmen vorgelegte Studie zeigte, dass die Telearbeit in der Bevölkerung immer mehr auf Akzeptanz stösst, obgleich das Wissen über diese Form der Arbeit in der Schweizer Öffentlichkeit gegenüber dem Ausland nach wie vor erstaunlich beschränkt ist. Unter Telearbeit versteht man einen Arbeitsplatz, der - mit Bildschirm ausgerüstet - zuhause oder in der Nähe des Wohnortes eingerichtet ist und eine Telekommunikationsverbindung zu einem räumlich entfernten Standort des Arbeit- oder Auftraggebers unterhält. Gemäss der Studie wurden als wichtigste persönliche Vorteile die Flexibilisierung der Arbeit und der Arbeitszeit, mehr Freizeit sowie der Wegfall des Arbeitswegs genannt. Als bedeutendster Nachteil wurde dagegen die Gefahr der sozialen Isolierung angeführt [6].
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Arbeitsmarkt
Am Jahresende registrierte das Bundesamt für Statistik noch 2,58 Millionen Vollzeitstellen, was gegenüber dem Vorjahr einem Rückgang von 1,4% entspricht, wogegen die Teilzeitstellen um 1,8% auf 421 000 zunahmen. Die Zahl der Vollzeitstellen hat damit den tiefsten Stand seit der erstmaligen Erhebung der absoluten Zahlen im Jahr 1991 erreicht. Industrie und Gewerbe waren mit einem Rückgang von 1,8% (rund 18 000 Vollzeitstellen) überdurchschnittlich stark betroffen. Rund die Hälfte der abgebauten Arbeitsplätze ging dabei auf das Konto des Baugewerbes [7].
Zu recht anderslautenden Ergebnissen kam die seit 1991 einmal jährlich durchgeführte Schweizerische Arbeitskräfteerhebung (SAKE). Zwischen dem zweiten Quartal 1994 und dem zweiten Quartal 1995 wies die SAKE eine Zunahme der Erwerbstätigen um 0,8% auf 3,733 Mio Personen aus. Nach ihren Berechnungen nahm die Zahl der Vollzeitarbeitenden in der Referenzperiode mit +1,5% überproportional zu, während die Anzahl der Teilzeitbeschäftigten um rund 1% zurückging. Die mit diesen Zahlen vergleichbaren Daten der Europäischen Union zeigten für 1994, dass die Schweiz mit 64,5% die höchste Erwerbstätigenquote in ganz Europa aufweist. Das EU-Land mit der zweithöchsten Quote, Dänemark, liegt mit 59,2% bereits deutlich zurück. Die SAKE-Verantwortlichen erklärten dies vor allem mit dem hohen Anteil der Teilzeitarbeit und der sogenannten geringfügigen Beschäftigung. Letztere meint alle Tätigkeiten mit einem Beschäftigungsgrad von unter 50%. In der Schweiz fallen in diese Kategorie laut der vorliegenden Erhebung immerhin über 500 000 Personen. Gemäss den SAKE-Zahlen betrug die Erwerbslosenquote 3,3% [8].
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Ende Dezember waren 157 115 arbeitslose Personen bei den Arbeitsämtern registriert, 7263 weniger als Ende 1994. Die Arbeitslosenquote betrug zu Jahresende gesamtschweizerisch 4,3% (1994: 4,4%). Die Unterschiede zwischen den Kantonen waren nach wie vor gross; die Quote lag zwischen 8,1% (TI) und 1,2% (AI). Im Jahresdurchschnitt waren 153 316 Personen als erwerbslos gemeldet, was gegenüber 1994 eine Abnahme um 17 722 Personen oder 10,4% bedeutet. Die Arbeitslosenquote betrug im Jahresmittel 4,2% gegenüber 4,7% im Vorjahr. Der Rückgang fiel mit 0,5% in der deutschsprachigen Schweiz (Durchschnitt 1995: 3,3%) gleich stark aus wie im lateinischen Landesteil (6,6%). Bei den Frauen (4,8%) betrug der Rückgang der Quote 0,4%, bei den Männern (3,6%) 0,5%. Besonders stark verringerte sich der Anteil bei den 15- bis 24jährigen, der von 4,7% auf 3,9% sank. Im Jahresdurchschnitt wurden 49 951 Langzeitarbeitslose registriert; damit ist ihr Anteil am Total der Arbeitslosen gegenüber dem Vorjahr von 30,2 auf 28,7% gesunken.
Seit dem Höchststand der Arbeitslosigkeit vom Januar 1994 war ein steter, moderater Rückgang der Erwerbslosigkeit zu verzeichnen, der mit Ausnahme der Wintermonate auch im ersten Halbjahr 1995 anhielt. In den Sommermonaten geriet dieser Rückgang jedoch ins Stocken, und die Arbeitslosenquote verharrte fünf Monate lang bei 4,0%. Ab Oktober stiegen die Arbeitslosenquoten saisonal bedingt wieder an [9]. Die Kurzarbeit nahm hingegen bereits im zweiten aufeinanderfolgenden Jahr markant ab. Im Jahresmittel fielen monatlich knapp 550 000 Arbeitsstunden aus, was gegenüber 1994 erneut einem Rückgang um rund 50% entspricht.
Im Anschluss an die Beratung des revidierten Arbeitslosenversicherungsgesetzes (siehe unten, Teil I, 7c) überwies der Nationalrat diskussionslos ein Postulat seiner Kommission für Wirtschaft und Abgaben, welches den Bundesrat bittet, die Arbeitslosenstatistik möglichst rasch mit Angaben zur Anzahl der Ausgesteuerten und der Sozialhilfebezüger in den Kantonen und Gemeinden zu ergänzen. Damit sollen die Gesamtausgaben aller öffentlichen Stellen als Folge der Arbeitslosigkeit besser erfasst werden [11].
Dieser Auftrag wurde zum Teil bereits erfüllt. Im Auftrag von acht Kantonen (AG, BE, BL, BS, FR, GE, SO, VS) und mit Unterstützung des BIGA wurde im Juni des Berichtsjahres eine repräsentative Auswahl der 26 000 Personen, die zwischen Anfang 1993 und November 1994 in den erfassten Kantonen ausgesteuert worden waren, nach ihren momentanen Lebensumständen befragt. Im Vergleich zur Gesamtzahl der Arbeitslosen fanden sich unter den Ausgesteuerten überdurchschnittlich viele Frauen, Personen ausländischer Nationalität und Ungelernte. Von den Antwortenden verfügte die Hälfte im Zeitpunkt der Befragung wieder über Arbeit. Dabei war ihr Verdienst in 22% der Fälle höher als vor der Arbeitslosigkeit; 13% verdienten gleich viel, rund ein Achtel bis 10% weniger, gut ein Fünftel bis 25% weniger; 14% erzielten einen Verdienst, der um 50% und 17% einen Lohn, der um über 50% unter dem zuletzt erreichten lag. Als Hauptgründe (bei möglichen Mehrfachnennungen) ihrer Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt bezeichneten jene Ausgesteuerten, die immer noch ohne Arbeit waren, das Alter (52%), eine ungenügende Ausbildung (25%), Sprach- oder Gesundheitsprobleme (22%), den Umstand, dass sie nur Teilzeitarbeit leisten können (18%), zu wenig Erfahrung (17%) oder Überqualifikation (13%) [12].
Der Ständerat überwies dem Bundesrat oppositionslos eine Petition einer Gruppe von Langzeitarbeitslosen zur Kenntnisnahme, welche anregte, dass eine beschäftigte Person die Möglichkeit erhalten soll, die Hälfte ihrer Stelle einer stellenlosen Person mit ähnlicher Qualifikation abzugeben, wobei beiden Beteiligten die andere Hälfte zu 80% von der Arbeitslosenversicherung (ALV) vergütet werden soll. Die vorberatende Kommission machte in ihrem einstimmigen Antrag auf Zustimmung geltend, dass dieser Vorschlag keine Mehrkosten für die ALV nach sich ziehen würde, und verwies auf die ganz grundsätzlichen Vorteile des Jobsplittings (Verbesserung der Produktivität, Senkung der Absenzenquote, Anreiz zur Weiterbildung). Vor allem unterstrich sie aber sozialethische Überlegungen, wonach Arbeitslosigkeit krank macht und das soziale System belastet, weshalb die Wiedereingliederung von Arbeitslosen eine vordringliche Aufgabe ist, die sich über kurz oder lang auch finanzpolitisch günstig auswirken wird [13].
Das nach Biber Utzenstorf (SO) zweite vom BIGA unterstützte Transfer-Projekt, jenes der Monteforno-Werke in Bodio (TI), wo auf Ende 1994 rund 350 Personen entlassen worden waren, scheiterte teilweise an der Weigerung der Von Roll, die Monteforno an eine Gesellschaft abzutreten, welche die Weiterführung einer Aktivität auf dem Gebiet der Stahlproduktion beabsichtigte. Nach einer ersten Phase, in welcher die Belegschaft vor allem auf eine Wiederaufnahme der Arbeit im Stahlsektor vorbereitet wurde, ging man deshalb in den folgenden Monaten dazu über, die arbeitslos gewordenen Personen im Rahmen geeigneter Massnahmen möglichst wieder in den regionalen und kantonalen Arbeitsmarkt einzugliedern [14].
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Löhne
Im Berichtsjahr nahmen die Nominallöhne für die Gesamtheit der Arbeitnehmenden um 1,3% zu, wobei die Zunahme bei den Männern durchschnittlich 1,1% und bei den Frauen 1,8% betrug. Das Baugewerbe verzeichnete einen Lohnanstieg von 1,8%, der Dienstleistungssektor von 1,4% und die verarbeitende Produktion von 0,9%. Unter Berücksichtigung der durchschnittlichen Teuerung (+1,8%) ergab sich somit ein Rückgang der Reallöhne um 0,5% (1994: +0,5%). In den Verhandlungen im Rahmen der wichtigsten Gesamtarbeitsverträge wurden für 1995 im Mittel nominale Lohnerhöhungen von 1,4% vereinbart. Davon wurden 0,8% generell und 0,6% individuell ausgerichtet. Die Mindestlöhne stiegen durchschnittlich um 1,2% [15].
Für 1996 verlangten die Gewerkschaften Lohnerhöhungen von zwei bis drei Prozent. Sie argumentierten, die Reallöhne hätten in den letzten vier Jahren durchschnittlich um zwei Prozent abgenommen. Die wirtschaftliche Lage habe sich wieder verbessert, weshalb die Betriebe in der Lage seien, zumindest die von der Mehrwertsteuer verursachte Teuerung auszugleichen. Durch eine Erhöhung der Kaufkraft würde zudem die Konjunktur weiter angekurbelt. Die Arbeitgeber weigerten sich demgegenüber strikte, die Kompensation der mehrwertsteuerbedingten Teuerung als Arbeitgeberverpflichtung anzuerkennen. Zudem wollten sie Lohnerhöhungen nicht generell, sondern höchstens individuell gewähren [16]. Als Zeichen für die vor allem auf Arbeitgeberseite generell verhärteten Fronten bei den Lohnabschlüssen wurde der Umstand gewertet, dass die Verhandlungen im Bankensektor erstmals scheiterten. Die Gewerkschaften wiesen das diesbezügliche Angebot der Arbeitgeber als völlig ungenügend zurück, worauf diese die Verhandlungen in die Betriebe verlegten und zu individuellen Lohnanpassungen übergingen [17].
Erneut Vertragskonflikte gab es im Bauhauptgewerbe. Die Gewerkschaften verlangten eine generelle Lohnerhöhung in der Grössenordnung von 2,5% sowie die im 1994 abgeschlossenen Landesmantelvertrag vorgesehenen zusätzlichen zwei Ferientage ab 1996. Der Schweizerische Baumeisterverband bot lediglich zwei Ferientage oder 0,8% Lohnerhöhung an. Nach drei Verhandlungsrunden war die Situation derart blockiert, dass die Gewerkschaften die Paritätische Schiedskommission anriefen, welche bestimmte, dass die Bauarbeiter ab 1996 1,4% mehr Lohn sowie zwei Ferientage zusätzlich erhalten [18].
Die Lohnverhandlungen in der Uhrenindustrie konnten hingegen erfolgreich abgeschlossen werden. Die rund 30 000 dem GAV unterstellten Beschäftigten erhalten ab 1996 eine monatliche Lohnerhöhung von 75 Fr., was einem Anstieg von 1,72% des Durchschnittslohns entspricht [19].
Siehe dazu auch unten (Gesamtarbeitsverträge). Für die Löhne des Bundespersonals vgl. oben, Teil I, 1c (Verwaltung).
Die erste Lohnstrukturerhebung des BFS, die auf rund 553 000 Lohndaten aus 10 000 Betrieben basiert, bestätigte die landläufige Vorstellung, wonach die Schweizer im Durchschnitt gut verdienen (4823 Fr. brutto pro Monat), der Bund im Mittel rund ein Viertel mehr bezahlt als die Privatwirtschaft und die Frauen bei gleichem Beschäftigungsgrad weniger Lohn erhalten (-24%) als die Männer. Zum Zeitpunkt der Erhebung (Oktober 1994) verdienten 25,5% der Arbeitnehmenden bei 40 Wochenstunden einen Bruttolohn zwischen 4000 Fr. und 5000 Fr.; 20,9% lagen in der Lohnklasse zwischen 3000 Fr. und 4000 Fr., 18,5% in jener zwischen 5000 Fr. und 6000 Fr. und 10,6% in jener zwischen 6000 Fr. und 7000 Fr.; 8,3% aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verdienten unter 2000 Fr., 4,7% mehr als 10 000 Fr. im Monat. Das Ausbildungsniveau erweist sich laut BFS nach wie vor als eine zentrale Bestimmungsgrösse des Lohnes. Personen mit Hochschulabschluss erhielten im Durchschnitt doppelt soviel Lohn (8656 Fr.) wie solche ohne abgeschlossene Berufsausbildung (3776 Fr.). Kaum einen Einfluss hat das Ausbildungsniveau hingegen bei der Lohndifferenz nach Geschlechtern. So verdienten beispielsweise Hochschulabsolventinnen 22%, Arbeitnehmerinnen mit abgeschlossener Berufsausbildung 19% weniger als ihre männlichen Kollegen [20].
Eine im Frühjahr im Auftrag des Kaufmännischen Verbandes der Schweiz durchgeführte Studie, welche mehr als 10 000 Einzellöhne aus 350 Unternehmen verglich, zeigte nicht nur eine nach wie vor alarmierende Lohndiskriminierung der Frauen - bei gleicher Funktionsstufe, Branche und Alter bis rund 35% -, sondern wies auch generell bedeutende Lohnunterschiede je nach Wohnort und Branche nach. Die Erhebung teilte die Schweiz in drei Regionen ein. In der Region 1 (Genf, Stadt und Kanton Zürich) wird am meisten verdient; die Löhne liegen 5,7% über dem Schweizer Mittelwert. In der Region 2 (Basel, Mittelland, Ost- und Zentralschweiz) liegen sie dagegen 3,8% unter dem Schnitt, und in der Region 3 (Graubünden, Tessin, Wallis) gar 8% darunter. Bei den Branchen sind die Lohnunterschiede kleiner. Dienstleistungen (+3,7%) und Grosshandel (+1,9%) liegen über dem durchschnittlichen Lohnniveau, Detailhandel (-5,4%) und Industrie (-1,4%) darunter [21].
Laut einer jährlich durchgeführten Untersuchung gingen erstmals seit längerer Zeit die durchschnittlichen Bezüge der Führungskräfte in der Schweiz nominell zurück. Im Mittel erhielt ein Manager der obersten Ebene 1995 ein Bruttogehalt von 205 000 Fr., 5000 Fr. weniger als noch im Vorjahr. Nur die unterste Kaderstufe profitierte im Berichtsjahr von einem Anstieg der Löhne. Das Durchschnittsgehalt auf dieser Stufe stieg von 90 000 auf 95 000 Fr. Als wesentliches Merkmal der Studie zeigte sich auch, dass der durchschnittliche variable Lohnanteil gemessen am Fixlohn an Bedeutung gewinnt. Im obersten Lohnbereich von über 300 000 Fr. machte dieser Anteil 1995 im Durchschnitt bereits 27% aus, bei Kaderlöhnen unter 100 000 Fr. waren es dagegen lediglich 12% [22].
Das Bundesgericht hob die fristlose Entlassung eines Arbeitnehmers auf, der schlechter bezahlten Kollegen seinen eigenen (höheren) Lohn genannt und sie so zu Salärforderungen ermuntert hatte. Laut dem Urteil gibt es keine gesetzliche Pflicht, über den eigenen Lohn zu schweigen, und das Recht auf Gewinnmaximierung stehe dem Arbeitnehmer genauso zu wie dem Arbeitgeber [23].
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Arbeitszeit
Während die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit seit der Mitte der 80er Jahre regelmässig um 0,1 bis 0,2 Stunden pro Jahr zurückging, verharrt sie seit 1993 konstant bei 41,9 Stunden. Nach den Schätzungen des BIGA wurde im Berichtsjahr lediglich im Baugewerbe und im Dienstleistungsbereich ein leichter Rückgang der Wochenarbeitszeit registriert [24].
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Als Kompensation für die Aufhebung des Nacht- und Sonntagsarbeitsverbots der Frauen in der Industrie, welche als Folge der Aufkündigung der diesbezüglichen ILO-Vereinbarung möglich geworden war, hatte der Bundesrat für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sämtlicher Wirtschaftszweige bei regelmässigen Arbeitsleistungen an Sonn- und Feiertagen sowie zwischen 23 Uhr nachts und 6 Uhr morgens einen Zeitzuschlag von zehn Prozent vorgeschlagen. Dem Nationalrat lag zu Beginn der Beratungen je ein Rückweisungs- bzw. ein Aussetzungsantrag von rot-grüner Seite vor mit dem Inhalt, diese Vorlage dem Parlament erst zusammen mit dem definitiv bereinigten Gleichstellungsgesetz und dem Vorschlag zur Mutterschaftsversicherung vorzulegen, da nur mit der Verabschiedung dieser Gesetzesvorlagen die Gleichberechtigung der Frauen in der Arbeitswelt einigermassen abgesichert wäre. Die grosse Kammer lehnte dies jedoch recht deutlich ab und weichte die Vorschläge des Bundesrates sogar noch weiter auf, indem sie entschied, dass die Kompensation für Nacht- und Sonntagsarbeit wahlweise aus einem zehnprozentigen Zeitzuschlag oder einem Lohnzuschlag von 50% für die Sonntags- und 25% für die Nachtarbeit bestehen soll, wobei sie für Arbeitnehmer mit Familienpflichten den Zeitzuschlag zwingend vorsehen wollte. Sie schuf ebenfalls die Möglichkeit zu einer Ausweitung der Ladenöffnungszeiten und bestimmte, dass Verkaufsgeschäfte künftig an jährlich höchstens sechs Sonn- oder Feiertagen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beschäftigen können, falls die kantonalen Vorschriften über den Ladenschluss dies gestatten [25].
Der Ständerat ging noch weiter im Abbau der Arbeitnehmerschutzbestimmungen. Er argumentierte, die Vorlage sei den wirtschaftlichen Realitäten nicht angemessen und für Gastgewerbe und Hotellerie, wo traditionell viel Nacht- und Sonntagsarbeit geleistet wird, untragbar, weshalb er sämtliche Zeit- oder Lohnzuschläge im Gesetz strich und auf allfällige Regelungen im Rahmen der Gesamtarbeitsverträge verwies. Gegen einen Minderheitsantrag Simmen (cvp, SO) wurde auch der Lockerung der Ladenöffnungszeiten zugestimmt [26].
Die Differenzbereinigung war das erste Sachgeschäft der neuen Legislatur im Nationalrat. Auf der Suche nach einem Kompromiss schlug die Mehrheit der Kommission vor, dass lediglich die Nachtarbeit im Gesetz geregelt werden und dabei nur dann ein zehnprozentiger Zeitzuschlag garantiert werden soll, wenn für die betroffenen Beschäftigten kein Gesamtarbeitsvertrag Kompensationsregelungen vorsieht. Die Sozialpartner wären also weiterhin frei, den Ausgleich für die regelmässig geleistete Nachtarbeit im Gesamtarbeitsvertrag nach ihrem Gutdünken auszuhandeln - in Form eines Lohnzuschlags oder von Freizeit. Dieser Kompromiss passierte allerdings nur mit der äusserst knappen Mehrheit von 94 zu 92 Stimmen. Wie der Ständerat verzichtete auch der Nationalrat auf einen gesetzlich vorgeschriebenen Ausgleich für die Sonntagsarbeit [27].
Entgegen den Empfehlungen ihrer Kommission und des Bundesrates beharrte die kleine Kammer aber mit 23 zu 16 Stimmen weiterhin auf ihrem Entscheid, zugunsten völliger Vertragsfreiheit jegliche Kompensationsvorschrift aus dem Gesetz zu streichen. Dem nationalrätlichen Kompromissvorschlag gegenüber wurden neben wirtschaftlichen auch juristische Bedenken ins Feld geführt, da mit der Version des Nationalrates nicht in allen Fällen klar wäre, ob nun die Regelung des Gesamtarbeitsvertrages zur Anwendung komme oder das Gesetz. Diesen Bedenken wollte ein Antrag Onken (sp, TG) Rechnung tragen. Gemäss diesem Vorschlag sollte das Gesetz zwar zwingend einen zehnprozentigen Zeitzuschlag vorsehen, allerdings mit dem Zusatz, dass eine vertragliche Bestimmung, welche den Gesundheitsschutz der Arbeitnehmenden gleichwertig regelt, ebenfalls zulässig ist. Dieser Antrag wurde mit 28 zu sechs Stimmen deutlich abgelehnt [28].
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund kündigte darauf seine Absicht an, unabhängig davon, welcher Vorschlag in der Differenzbereinigung obsiegen wird, gegen die Gesetzesänderung das Referendum zu ergreifen, da mit diesen Bestimmungen von einer eigentlich zum Schutz aller Arbeitnehmer gedachten Revision nur noch die Deregulierungsmassnahmen übrigblieben [29].
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Als Erstrat stimmte die kleine Kammer dem Bundesfeiertagsgesetz zu, das im wesentlichen die vom Bundesrat auf den 1. Juli 1994 in Kraft gesetzte Übergangsverordnung übernimmt und damit auch die Lohnzahlungspflicht festschreibt. Obgleich dies im Vorfeld der Beratungen von Unternehmerseite heftig bestritten worden war, passierte die Vorlage dennoch deutlich mit 15:5 Stimmen [30].
Im Nationalrat setzte sich dann eine arbeitgeberfreundliche Linie durch, welche für den Bundesfeiertag keine Sonderregelung wünschte, sondern diesen den allgemeinen Sonn- und Feiertagen gleichsetzen wollte, wodurch die automatische Lohnfortzahlungspflicht entfällt. Vergeblich erinnerte Bundesrat Delamuraz an den Wortlaut der vom Souverän gutgeheissenen Volksinitiative, wonach der Nationalfeiertag grundsätzlich für alle Bürgerinnen und Bürger gelten und Näheres in einem speziellen Bundesgesetz geregelt werden soll. Falls dem Parlament der Grundsatz von Treu und Glauben noch etwas gelte, so dürfe es hier vom erteilten Verfassungsauftrag nicht abweichen. Gegen den Widerstand der Fraktionen von SP, LdU/EVP und SD/Lega wurde die Vorlage ganz knapp, mit 75:71 Stimmen an den Bundesrat zurückgewiesen mit der Auflage, den 1. August in die bestehenden Bundesgesetze einzubauen und damit die Frage der Lohnfortzahlung den sozialpartnerschaftlichen Verhandlungen zu überlassen [31].
In der Differenzbereinigung wollte die Mehrheit der vorberatenden Kommission für Wirtschaft und Abgaben (WAK) des Ständerates dem Antrag des Nationalrates folgen. Eine Minderheit Maissen (cvp, GR), zu der auch WAK-Präsidentin Rosmarie Simmen (cvp, SO) gehörte, beantragte hingegen, am ursprünglichen Beschluss festzuhalten. Sie argumentierte weniger mit sozialpolitischen Überlegungen als vielmehr mit der Frage der Glaubwürdigkeit der Behörden gegenüber dem Stimmbürger. Parlament und Bundesrat seien im Vorfeld der Abstimmung ganz klare Verpflichtungen eingegangen; würden diese jetzt hier zurückgenommen, so werde ein weiterer Schritt in Richtung Entfremdung von Volk und "classe politique" getan. Die kleine Kammer folgte, unterstützt von Bundesrat Delamuraz, diesen staatspolitischen Überlegungen und beschloss mit 18:14 Stimmen Festhalten am ursprünglichen Beschluss [32].
Der Nationalrat bestand aber auch in seiner neuen Besetzung darauf, den arbeitsfreien 1. August den anderen Sonn- und Feiertagen gleichzusetzen und kein spezielles "Bundesfeiertagsgesetz" zu schaffen. Damit bleibt die Regelung der Lohnfortzahlung den Sozialpartnern überlassen. Die Kommissionsminderheit aus FDP, SVP und FP, welche für Rückweisung an den Bundesrat plädierte, machte geltend, die Wirtschaft brauche Deregulierung und nicht neue Gesetzesvorschriften; der Einbezug des Bundesfeiertags in die bisherigen Bestimmungen über die allgemeinen Sonn- und Feiertage trage dem Verfassungsauftrag genügend Rechnung. Vergeblich appellierte Bundesrat Delamuraz noch einmal daran, dass das Schweizervolk in der Volksabstimmung von 1993 klar seinen Willen bekundet habe, den 1. August zu einem ganz speziellen Feiertag zu machen. Die Beschäftigten in der Landwirtschaft und in den privaten Haushaltungen seien zudem weder in der geltenden Gesetzgebung erfasst noch gesamtarbeitsvertraglich geschützt, weshalb die Rückweisung an den Bundesrat zu einer Ungleichbehandlung der Arbeitnehmenden führe. Die grosse Kammer schlug die Warnung Delamuraz', es sei nicht klug, die neue Legislatur mit einer Missachtung des Volkswillens zu beginnen, in den Wind und lehnte ein eigenständiges Bundesfeiertagsgesetz mit 89 zu 79 Stimmen definitiv ab [33].
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Gesamtarbeitsverträge (GAV)
Nach dem landesweiten Druckerstreik vom 3. November des Vorjahres und nach zahllosen gescheiterten Versuchen gelangten Gewerkschaften und Arbeitgeber der graphischen Industrie im Februar zu einer Einigung über einen neuen GAV. Dabei mussten beide Seiten Abstriche an ihren Forderungen in Kauf nehmen. Die Idee der Gewerkschaften, die Arbeitszeit auf 35 Stunden pro Woche zu kürzen, wurde fallengelassen. Die Arbeitgeber konnten durchsetzen, dass die Arbeitszeit auf der Basis der 40-Stunden-Woche mit Zustimmung der Betriebskommissionen flexibilisiert werden kann. Die Arbeitnehmer dagegen erreichten, dass die vorher hart umkämpften Schichtzulagen praktisch unverändert bleiben. Neu wird der Teuerungsausgleich jährlich verhandelt, und die Arbeitgeber gewähren einen Mutterschaftsurlaub von 16 Wochen [34]. Doch bereits bei der Aushandlung des Teuerungsausgleiches für 1996 gab es erneut unüberbrückbare Differenzen, worauf die Gewerkschaften die Schiedsstelle anriefen, welche festlegte, dass die Löhne für 1996 generell um 1% und individuell um 0,5% erhöht werden. Die Sozialpartner stimmten - wenn auch widerwillig - diesem Kompromiss zu [35].
Weiterhin in einem vertragslosen Zustand blieben die Journalisten der Deutschschweiz und des Tessin. Die Zeitungsverleger lehnten den zuvor mit den Gewerkschaften ausgehandelten Vertrag zwar nicht durchwegs ab, doch verlangten sie Nachverhandlungen in den Bereichen Teuerungsausgleich, Wochenarbeitszeit und Stellung der freien Mitarbeiter. Die Journalisten-Verbände verweigerten dies vorerst, da bereits in den vorangegangenen zweieinhalbjährigen Verhandlungen beide Seiten Konzessionen gemacht hätten, weshalb der Spielraum jetzt ausgeschöpft sei. Ende Jahr stimmten sie einer Wiederaufnahme der Gespräche aber wieder zu [36].
Die Swissair kündigte im Frühling den GAV mit der Pilotengewerkschaft (Aeropers) auf Ende Jahr. Der Streit um einen neuen GAV wurde von beiden Seiten verbissen geführt. Ende Jahr drohte der Berufsverband des Cockpit-Personals mit einer Vollversammlung, was einem Warnstreik gleichkommen würde, da an der Vollversammlung alle Verbandsmitglieder - im Fall von Swissair 98% der Piloten - anwesend sein müssen. Die Swissair konterte dies, indem sie ihre Tochtergesellschaft Crossair enger an die Mutterfirma anband, wodurch sie vom niedrigeren Lohnniveau der Crossair-Piloten profitieren kann [37].
Im Gastgewerbe war es die Gewerkschaft, welche den seit 1992 gültigen Vertrag auf Mitte 1996 kündigte. Die Union Helvetia warf den Arbeitgebern Vetragsbruch vor, weil diese sich weigerten, die gemäss GAV verbindliche jährliche Anpassung der Löhne an die veränderten Lebenskosten vorzunehmen [38].
Einen Streit grundsätzlicher Natur fochten die Gewerkschaften und die Arbeitgeber der Basler Chemie aus. Angesichts der seit Jahren bestehenden Tendenz in der chemischen Industrie, die gesamtarbeitsvertraglichen Regelungen durch den Abschluss von Einzelverträgen auszuhebeln, schlossen sich die Gewerkschaften erstmals mit den Angestelltenverbänden zusammen und verlangten einen Einheitsvertrag für alle Chemie-Beschäftigten. Der Verband Chemischer Industrieller erteilte diesbezüglichen Verhandlungen umgehend eine Absage, da ein Einheitsvertrag die unternehmerische Freiheit einschränke und zu Inflexibilität führe. In den anlaufenden Gesprächen blieben die Arbeitgeber hart. Sie lehnten alle Forderungen der Verbände (Erhöhung der Löhne um 3%, Massnahmen zur Sicherung der Arbeitsplätze) ab und verlangten den Übergang zu internen Verhandlungen auf der Ebene der Betriebskommissionen. Lohnerhöhungen wollten sie nur individuell und im Rahmen von 1% gewähren, worauf die Vertragsverhandlungen Ende Jahr erfolglos abgebrochen wurden [39].
Der seit 1993 gültige GAV in der Maschinen- und Metallindustrie sah vor, dass sich die Sozialpartner bis Ende 1995 auf die Weiterführung oder Aufhebung des "Krisenartikels" hätten einigen sollen, der zur Überwindung wirtschaftlicher Schwierigkeiten längere Arbeitszeiten bei gleichem Lohn oder Streichung des 13. Monatslohns ermöglicht. In den zweieinhalb Jahren seines Bestehens hatten etwa 40 der rund 600 Mitgliederfirmen diesen Paragraphen angerufen, wobei es auch nach Einschätzung der Gewerkschaften keine Missbräuche gegeben hat. Da Mitte Jahr der Krisenartikel nur noch in zwei Betrieben zur Anwendung kam, stellten die Gewerkschaften die Forderung, ihn abzuschaffen. Die Arbeitgeber verweigerten dies mit der Begründung, auch wenn der Paragraph momentan kaum mehr zur Anwendung gelange, stelle er doch ein sinnvolles Notventil dar. In mehreren Gesprächen konnte keine Einigung erzielt werden, weshalb der Krisenartikel über das Jahresende hinaus in Kraft blieb [40].
Zur Auswirkung gesamtarbeitsvertraglicher Bestimmungen auf die Arbeitssituation von Frauen siehe unten, Teil I, 7d (Frauen/Arbeitswelt).
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Das BIGA registrierte im Berichtsjahr zwei Streikereignisse von mindestens halbtägiger Dauer. Davon waren zwei Betriebe mit insgesamt 83 Beschäftigten betroffen; 351 Arbeitstage gingen dabei verloren [41].
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Schutz der Arbeitnehmer
Mit einer parlamentarischen Initiative wollte Nationalrätin Brunner (sp, GE) den 1993 im Obligationenrecht (OR) beschlossenen Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei Kollektivkündigungen verbessern. Sie verlangte, dass im Fall von Massenentlassungen die Arbeitnehmer eine Verhandlung über einen Sozialplan verlangen können. Gegenüber den Bedenken der Arbeitgeber und der bürgerlichen Vertreter, damit werde die Sozialpartnerschaft übermässig strapaziert, konnte sich Brunner im Rat nicht durchsetzen. Sie verwies vergeblich darauf, dass aus ihrem Begehren kein Recht auf einen Sozialplan abzuleiten sei, sondern nur die zwingende Suche nach einer einvernehmlichen Lösung. Gegen den Widerstand einer Minderheit aus SP, GP, CVP und LdU verwarf der Rat den Vorstoss deutlich.
Vergeblich versuchte Nationalrat Rechsteiner (sp, SG) den Bundesrat mit einer Motion zu beauftragen, durch eine Änderung des OR den Kündigungsschutz für Arbeitnehmervertreter in Pensionskassen, Betriebskommissionen und Verhandlungsdelegationen wirksam zu verstärken. Er regte insbesondere an, mögliche Rachekündigungen dadurch zu verhindern, dass - analog zu Militärdienst und Schwangerschaft - für die Dauer des Mandats eine Sperrfrist für allfällige Kündigung eingeführt wird. Der Bundesrat berief sich in seiner Antwort auf den in der Schweiz geltenden Grundsatz der Kündigungsfreiheit, welcher nur für Perioden aufgehoben wird, in denen es für die gekündigten Arbeitnehmerinnen oder Arbeitnehmer besonders schwierig oder gar unmöglich wäre, eine neue Stelle zu finden, beispielsweise bei Arbeitsunfähigkeit durch Krankheit oder Unfall oder bei Schwangerschaft. Auf seinen Antrag wurde die Motion ziemlich klar abgelehnt [43].
Als Postulat verabschiedet wurde hingegen eine Motion Carobbio (sp, TI), welche den Bundesrat ersucht, auf dem Verordnungsweg oder durch Weisungen Ausführungsbestimmungen zum Bundesgesetz über die Arbeitsvermittlung und den Personalverleih zu erlassen, die garantieren, dass insbesondere in der Baubranche temporäre Mitarbeiter nach den Ansätzen der Gesamtarbeitsverträge entlöhnt und nicht Teile des Lohnes als Spesen deklariert werden, was zu späteren Einbussen bei den Sozialversicherungen sowie zur Umgehung der Steuerpflichten führt. Der Bundesrat verwies darauf, dass das Problem dem BIGA bekannt sei, weshalb in Kürze ein entsprechendes Rundschreiben versandt werde; die Verwaltung nehme sich auch vor, schärfere Kontrollen durchzuführen [44].
Der Ständerat überwies diskussionslos eine Motion des Nationalrates, welche den Bundesrat auffordert, die Bestimmungen über die Gesundheitsförderung, den Gesundheitsschutz und die Sicherheit am Arbeitsplatz zu koordinieren und zusammenzufassen sowie bestehende Gesetzeslücken zu schliessen [45].
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Weiterführende Literatur
Bundesamt für Statistik, Die graue Revolution: Demographische Veränderungen und ihre Bedeutung für die moderne Gesellschaft, Bern 1995.
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D. Joye, Sozialstruktur der Schweiz: sozioprofessionelle Kategorien, Bern (BFS) 1995.
G. Sheldon, Bevölkerungs- und Arbeitskräftegesamtrechnung für die Schweiz, 1982-1991, Bern (Haupt) 1995.
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C. Aeppli et al., "Die Situation der Ausgesteuerten. Ergebnisse einer Studie in acht Kantonen der Nordwestschweiz und der Romandie", in Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 1, S. 19 ff.
D. Babey / P. Pedrioli, "Die Transferorganisationen: ein innovatives Modell zur Bewältigung der Arbeitslosigkeit", in Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 1, S. 34 ff.
Th. Baumgartner / G. Henzi / I. Walliman, Arbeitslosigkeit als Vernichtung von Humankapital und Menschen, Basel (Höhere Fachschule im Sozialbereich) 1995.
B. Burri / P. Camenzind / R. Häubi, "Konzeptionelle Erweiterungen im Bereich der Arbeitsmarktstatistiken", in Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 1, S. 27 ff.
W. Buser et al., Arbeitslosigkeit in der Schweiz: Bilanz und Perspektiven (Schriftenreihe des Forum Helveticum, Heft 6).
Kommission für Konjunkturfragen, Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit, Beilage zu Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 11.
R. Poretti, "Transfer-Organisationen - neues Instrument der Arbeitsmarktpolitik", in Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 9, S. 37 ff.
H. Schmid / E. F. Rosenbaum, Arbeitslosigkeit und Arbeitslosenversicherung aus ökonomischer Sicht, Bern (Haupt) 1995 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts für Arbeit und Arbeitsrecht an der Hochschule St. Gallen).
M. Schmidt, "Vollbeschäftigung und Arbeitslosigkeit in der Schweiz. Vom Sonderweg zum Normalfall", in Politische Vierteljahresschrift, 36/1995, Nr. 1, S. 35 ff.
Wirtschaftswissenschaftlicher Verband der Universität Zürich (Hg.), Wege aus der Arbeitslosigkeit, Zürich 1995 (mit Beiträgen von H. Allenspach et al.).
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M. Hirt / L. Straumann / W. R. Müller, Teilzeitarbeit für Frauen und Männer in qualifizierten Stellen, Basel (Wirtschaftswissenschaftl. Zentrum der Universität Basel) 1995.
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B. Baumann et al., Gesamtarbeitsverträge (k)eine Männersache. Vorschläge zur gleichstellungsgerechten Gestaltung der Sozialpartnerschaft, Chur 1995.
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[2] Bund, 12.10.95. Für die Vorbereitungen zur Volkszählung im Jahr 2000 siehe oben, Teil I, 1b (Datenschutz und Statistik).2
[3] Lit. Bundesamt.3
[4] Lit. Joye; Presse vom 3.11.95. Siehe dazu auch E. Piguet, "Die jüngste Zunahme der selbständigen Erwerbstätigkeit in der Schweiz", in Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 5, S. 64 ff.4
[5] Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 10, S. 4.5
[6] Bund, 11.10. und 14.10.95.6
[7] Presse vom 21.2.96. Laut der neusten Erwerbstätigenstatistik des BFS gingen zwischen 1991 und 1994 94 000 Voll- oder Teilzeitstellen verloren (Presse vom 29.6.95). Paradoxerweise geht die Stellenreduktion einher mit einer konstanten Zunahme von nicht kompensierten Überstunden; machte die Überzeit 1992 noch 2,39% des gesamtem jährlichen Arbeitsvolumens aus, so waren es 1994 schon 2,49% (Presse vom 24.2.96).7
[8] Presse vom 4.11.95. In Europa liegt die Schweiz in bezug auf den Anteil der Teilzeitbeschäftigten an der Zahl aller Erwerbstätigen hinter den Niederlanden an zweiter Stelle (NZZ, 15.2.95). Zu den voneinander abweichenden Ergebnissen der Beschäftigten- und der Erwerbstätigenstatistiken, welche auf einer unterschiedlichen Datenerhebung und -definition beruhen, siehe Bund, 9.12.95; LNN und NZZ, 20.12.95. Vgl. auch oben, Teil I, 4a (Konjunkturlage).8
[9] Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 5, S. 8* und 10*. Gemäss den provisorischen Zahlen des BIGA ging die Anzahl der Bezüger von ALV-Leistungen 1995 um 7,2% auf rund 292 000 Personen zurück; die Anzahl der Bezugstage verzeichnete sogar einen Rückgang um 13,6% (Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 4, S. 28*). Zu einer Studie der Kommission für Konjunkturfragen, die für das Jahr 2000 bedeutend tiefere Arbeitslosenzahlen prognostiziert, siehe Lit. Kommission; Presse vom 2.11.95.9
[11] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1142. Zur Lage jener Personen, die ihren Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung ausgeschöpft haben, siehe auch G. Sheldon, "Das veränderte Gesicht der Arbeitslosigkeit - Langzeitarbeitslose und Ausgesteuerte", in CHSS, 1995, S. 160 ff.; NZZ, 10.4.95; BZ, 14.3.95; Bund, 26.4. und 29.5.95. Zu einem Modell der Universität Basel zur besseren statistischen Erfassung der Arbeitskräfte siehe BaZ, 19.5.95.11
[12] Lit. Aeppli et al.; Presse vom 6.1.96. Zu einer Teilstudie für den Kanton Aargau, die zu ähnlichen Resultaten kam, siehe TA, 24.4.95.12
[13] Amtl. Bull. StR, 1995, S. 430 f. Hingegen wurden zwei Petitionen des Zürcher Arbeitslosenkomitees und des Verbandes der Schweizerischen Studentenschaften, welche die Verschärfung des Begriffs der "zumutbaren" Arbeit kritisierten, ohne Folge zur Kenntnis genommen (a.a.O., S. 432 ff.). Für ein Pilotprojekt in der Stadt St. Gallen, welches ganz auf der Linie der überwiesenen Petition liegt, siehe SGT, 12.9.95; BZ, 12.10.95.13
[14] Lit. Poretti und Lit. Babey. Vgl. SPJ 1994, S. 197.14
[15] Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 4, S. 13* f.; M. Wiesendanger Martinovits, "Gesamtarbeitsvertragliche Lohnabschlüsse für 1995", in Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 6, S. 45 ff.; M. Curti, "Stabile Löhne bei sinkender Beschäftigung", in Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 5, S. 60 ff.15
[16] TA, 17.7.95; Presse vom 16.8.95; NQ, 4.9., 21.11. und 28.11.95; Presse vom 20.10.95; SoZ, 12.11.95. Die Gewerkschaften machten ebenfalls geltend, dass die Produktivitätssteigerung in der Schweiz in den letzten Jahren deutlich über dem Anstieg der Reallöhne lag, 1994 beispielsweise bei 1,4% (JdG, 16.2.96). Zum Lohnniveau der Schweiz im internationalen Vergleich siehe Lib., 14.11.95. Die durchschnittlichen Lohnerhöhungen für 1996 wurden auf 1,5% geschätzt (Presse vom 7.11., 1.12. und 20.12.95).16
[17] Presse vom 23.9.95; NZZ, 29.9.95; LZ, 17.10.95.17
[18] Presse vom 26.10., 1.11., 16.11., 11.12. und 14.12.95.18
[19] Presse vom 26.10.95.19
[20] Presse vom 23.12.95.20
[21] Presse vom 9.6.95.21
[22] SHZ, 9.3.95; Presse vom 7.9.95.22
[23] Presse vom 14.2.95.23
[24] Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 2, S. 12* und Nr. 4, S. 47.24
[25] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 823 ff., 828 ff. und 893 ff. Die SP-Vertreter Bodenmann (VS) und Strahm (BE) versuchten vergebens, bei dieser Gelegenheit die Senkung der wöchentlichen Höchstarbeitszeit um fünf Stunden in die Diskussion zu bringen. Ihre Minderheitsanträge wurden mit 101:45 bzw. 99:47 Stimmen verworfen. Weitere Versuche aus den Reihen der SP, angesichts der bestehenden Arbeitslosigkeit die erlaubte Überzeit innerhalb eines Kalenderjahres von 260 auf 120 Stunden zu begrenzen, scheiterten ebenfalls. Vgl. auch Die Volkswirtschaft, 68/1995, Nr. 9, S. 52 f. (Übersicht über die Ladenöffnungszeiten in den Kantonen).25
[26] Amtl. Bull. StR, 1995, S. 942 ff. Schon im NR hatte ein Minderheitsantrag von Arbeitgebervertreter Allenspach (fdp, ZH) vergeblich versucht, sowohl Zeit- wie Lohnzuschlag aus der Vorlage zu streichen (Amtl. Bull. NR, 1995, S. 845 ff. und 893 f.).26
[27] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2352 ff. Ein Minderheitsantrag der links-grünen Ratsminderheit für Zustimmung zum ursprünglichen Vorschlag des BR unterlag mit 110:74 Stimmen.27
[28] Amtl. Bull. StR, 1995, S. 1202 ff.28
[29] Presse vom 5.12.95.29
[30] Amtl. Bull. StR, 1995, S. 152 ff. Vgl. SPJ 1994, S. 199.30
[31] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 1051 ff.31
[32] Amt. Bull. StR, 1995, S. 770 ff.32
[33] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 2364 ff.33
[34] BaZ, 4.2. und 3.5.95; Presse vom 18.2.95; NZZ, 3.4. und 3.12.95; Bund, 7.4. und 29.4.95. Vgl. SPJ 1994, S. 200. Zum Streit um die Mindestlöhne der Frauen im graphischen Gewerbe siehe unten, Teil I, 7d (Frauen/Arbeitswelt).34
[35] BaZ, 16.10.95; LZ, 25.10.95; Presse vom 14.11.9535
[36] Presse vom 7.11. und 18.12.95; TA, 10.11.95. Siehe auch unten, Teil I, 8c (Presse).36
[37] LNN, 10.1., 30.3. und 28.12.95; TA, 10.11.95; Ww, 23.11.95.37
[38] NQ, 21.11.95; Presse vom 7.12.95.38
[39] BaZ, 7.4., 9.5., 13.5., 11.11., 18.11., 12.12. und 14.12.95; SoZ, 12.11.95.39
[40] TA, 19.8.95; Presse vom 5.1.96. Vgl. SPJ 1994, S. 200 f.40
[41] Provisorische Angaben des BIGA; detaillierte Zahlen werden voraussichtlich in Die Volkswirtschaft, 69/1996, Nr. 7 oder 8 publiziert.41
[43] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 262 f.43
[44] Amtl. Bull. NR, 1995, S. 938 ff.44
[45] Amt. Bull. StR, 1995, S. 430. Vgl. SPJ 1994, S. 201.45
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