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Allgemeine Chronik
Überblick
Auch 1997 wurde die politische Diskussion von den Debatten über die Rolle der Schweiz und ihrer Wirtschaft während des Zweiten Weltkriegs dominiert. Der innenpolitische Konflikt wurde, insbesondere in der ersten Jahreshälfte, oft sehr polemisch ausgetragen und orientierte sich weitgehend am üblichen Links/Rechts-Schema. Für die Schweiz ungewohnt, und deshalb auch schwerer zu meistern, waren die Auseinandersetzungen auf internationaler Ebene. Die namentlich in den USA durch jüdische Organisationen, aber auch staatliche Behörden vorgebrachten und weltweit durch die Medien prominent verbreiteten Anschuldigungen gegen die Schweiz und das geringe Echo, das die von der Schweiz ergriffenen Massnahmen zur Aufklärung ihrer Geschichte und zur Wiedergutmachung fanden, liessen in weiten Kreisen den Eindruck der Hilflosigkeit entstehen.
Im Zentrum der Auseinandersetzungen standen weiterhin die Banken. Diese hatten zwar ihre Anstrengungen zur Auffindung von Eigentümern von nachrichtenlosen Konten (resp. deren Rechtsnachfolgern) verstärkt und zu diesem Zweck auch weltweit Listen mit den Namen von Inhabern solcher Konten veröffentlicht. Weder diese Aktionen noch die Einrichtung eines humanitären Fonds für Überlebende des Holocaust (an dem sich auch die Nationalbank mit einer Einlage von 100 Mio Fr. beteiligte) vermochten jedoch einen Rückzug der im Vorjahr in den USA eingereichten Sammelklagen zu bewirken. Der Druck aus den USA verstärkte sich sogar noch, indem einzelne Bundesstaaten Boykotte gegen schweizerische Grossbanken verhängten.
Bundespräsident Koller lancierte im Rahmen einer Rede vor der Vereinigten Bundesversammlung zur Politik der Schweiz im Zweiten Weltkrieg die Idee einer Solidaritätsstiftung. Diese solle ein Zeichen der Dankbarkeit für das Verschontwerden der Schweiz von zwei Weltkriegen sein. Das Stiftungsvermögen würde aus einem Teil der für die Währungspolitik nicht mehr benötigten (und in ertragbringende Wertpapiere umzuwandelnden) Goldreserven der Nationalbank bestehen. Das Projekt des Bundesrates wurde von einer Mehrzahl der Parteien grundsätzlich positiv aufgenommen, neue Konflikte sind allerdings vorprogrammiert. Einerseits profilierte sich der Zürcher SVP-Nationalrat Blocher als scharfer Kritiker, der die Stiftung als unhaltbares Schuldeingeständnis bezeichnete und die überschüssigen Goldreserven lieber für die Sanierung der AHV einsetzen möchte. Andererseits dürfte es von interessierten Kreisen aus dem Ausland Kritik hageln, wenn sich konkretisiert, dass die Stiftung nicht - wie in vielen ausländischen Medien fälschlicherweise dargestellt - für die Unterstützung von überlebenden Holocaustopfern gedacht ist, sondern - wie von Koller in seiner Rede angekündigt - zur Finanzierung von humanitären Aktionen im In- und Ausland.
Obwohl, oder gerade weil sie kaum vom Fleck kamen, bildeten die bilateralen Verhandlungen mit der Europäischen Union ein weiteres zentrales Diskussionsthema des Berichtsjahres. Grosse Meinungsunterschiede bestanden weiterhin beim Dossier Landverkehr, wo es, nachdem die Schweiz im Vorjahr auf die Beibehaltung der 28-Tonnen-Limite verzichtet hatte, im wesentlichen nur noch um die Frage der Höhe der Abgaben für den Strassenschwerverkehr durch die Alpen ging. Das Entgegenkommen der Schweiz, welche ihre ursprüngliche Forderung in mehreren Schritten von 600 Fr. auf 400 Fr. je Durchfahrt reduzierte, war für die EU-Verkehrsminister immer noch ungenügend. Angesichts dieser harzigen Verhandlungen schlug die neue Präsidentin der SP, Ursula Koch, vor, das Beitrittsgesuch von 1992 zu reaktivieren und damit den direkten Weg in die EU zu suchen. Der Bundesrat ging auf diese Forderung nicht ein, da nach seiner Einschätzung in naher Zukunft im Volk keine Mehrheit für einen solchen Schritt zu finden sein wird. Allerdings haben auch die absoluten Gegner eines EU-Beitritts keine Mehrheit hinter sich. In einer Volksabstimmung wurde eine Initiative der Lega und der Schweizer Demokraten, welche verlangte, dass sich die Regierung vom Volk die Erlaubnis zur Führung von Beitrittsverhandlungen erteilen lassen muss, deutlich abgelehnt.
Am Konjunkturhimmel zeigten sich 1997 erste Anzeichen einer Besserung. Das reale Wirtschaftswachstum erreichte 0,7%, und die Zahl der Arbeitslosen stieg zwar zuerst noch auf einen neuen Rekordwert (206 291) an, bildete sich jedoch im Jahresverlauf wieder zurück und lag im Dezember unter dem Vorjahreswert (180 549). Nachdem sich 1996 zwei Grossunternehmen der Pharmaindustrie zu einem der weltweit grössten Konzerne dieser Branche zusammengeschlossen hatten, geschah nun gleiches im Bankensektor mit der Fusion des Bankvereins und der Bankgesellschaft. Da diese im Zusammenhang mit der Globalisierung der Wirtschaft offenbar unvermeidlichen Umstrukturierungen meist von einem massiven Abbau von Arbeitsplätzen begleitet sind, führen sie auch bei der nicht direkt betroffenen Bevölkerung zu Unsicherheiten über die eigene wirtschaftliche Zukunft. In dieser Verunsicherung ist wohl der Hauptgrund dafür zu sehen, dass es der SP und den Gewerkschaften wieder - wie bereits 1996 - gelang, eine Volksabstimmung zu einem Arbeitsmarktthema zu gewinnen. Das Volk lehnte in einer Referendumsabstimmung relativ geringe Kürzungen bei der Arbeitslosenversicherung ab.
Trotz dieser eher skeptischen Stimmung in der Bevölkerung konnte der Bund seine Liberalisierungspolitik weiterführen. Das Parlament beschloss, den staatlichen Monopolbetrieb der PTT aufzulösen und durch zwei neue Unternehmen für den Post- resp. den Telekommunikationsbereich zu ersetzen, wobei letzteres teilweise privatisiert werden soll. Während das weiterhin staatliche Postunternehmen seine Monopolstellung in wichtigen Bereichen behalten durfte, ist der Telekommunikationsmarkt weitgehend für die Konkurrenz geöffnet worden. Der Versuch der PdA und einiger Gewerkschaften, diese Reform mit einem Referendum zu bekämpfen, fand nicht einmal bei der SP Unterstützung und scheiterte. Gegen den Protest der Linken privatisierte das Parlament auch die staatlichen Rüstungsbetriebe und gab dem Bundesrat die Kompetenz, die Verwaltung vermehrt mit den Instrumenten des New Public Management zu führen.
Das Problem der defizitären Staatshaushalte hat namentlich beim Bund nichts von seiner Bedeutung eingebüsst. Der Rechnungsfehlbetrag stieg in der Finanzrechnung auf 5,3 Mia Fr. an, und auch das Budget für 1998 lässt keine Verbesserung erwarten. Hoffnung setzte das Parlament hingegen auf das gegen den Widerstand der SP und der Grünen verabschiedete "Haushaltsziel 2001", welches im Kern aus einem Verfassungsartikel besteht, der einen Abbau des Defizits auf maximal 1 Mia Fr. im Jahr 2001 vorschreibt.
Die seit einigen Jahren vom Bundesrat vertretene innovative Strategie in der Drogenpolitik wurde von den Stimmberechtigten ausdrücklich bestätigt. Sie lehnten mit klarem Mehr eine Volksinitiative ab, welche unter anderem die medizinisch kontrollierte Abgabe von Drogen an schwer Drogensüchtige verhindern wollte. Damit hätte der in einer Reihe von Städten durchgeführte Versuch, Drogensüchtige mit dieser Massnahme aus dem Kreislauf von Beschaffungsstress und -kriminalität sowie fortschreitender gesundheitlicher Verwahrlosung herauszuholen, vorzeitig abgebrochen werden müssen.
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