Allgemeine Chronik
Überblick
Das politische Jahr 1999 wurde von den Wahlen für das Parlament und die Regierung dominiert. Im Frühjahr und im Dezember ging es um Ersatz- resp. Gesamtbestätigungswahlen für den Bundesrat, am 24. Oktober um die Gesamterneuerungswahlen für den Nationalrat und in den meisten Kantonen auch für den Ständerat für die 46. Legislaturperiode.
Anfangs Jahr gaben die beiden CVP-Vertreter im Bundesrat, der Tessiner Flavio Cotti und der Appenzeller Arnold Koller nach gut zwöfl Jahren Amtszeit ihren Rücktritt bekannt. Nachdem sich 1995 die Ersatzwahl für den SP-Bundesrat Otto Stich kurz vor den Nationalratswahlen positiv auf die Wahlkampagne der SP ausgewirkt hatte, wurden nun der CVP ähnliche Hintergedanken unterstellt. Die Partei und die betroffenen Bundesräte stritten solche taktischen Erwägungen jedoch ab. Wie dem auch sei, Tatsache ist, dass es der CVP im Dezember bei den Gesamtbestätigungswahlen wesentlich leichter fiel, ihre beiden Sitze in der Regierung mit zwei Neugewählten gegen die Ansprüche der erstarkten SVP zu verteidigen. Bei den Ersatzwahlen vom März blieb die Doppelvertretung der CVP noch unangefochten. Ebenfalls unbestritten war, dass eine zweite Frau in die Landesregierung gewählt werden sollte. Die CVP handelte entsprechend und stellte für die Nachfolge von Arnold Koller nur Kandidatinnen auf. Gewählt wurde am 11. März die 35jährige Ruth Metzler, seit 1996 Regierungsrätin im Kanton Appenzell Innerrhoden. Zum Nachfolger von Flavio Cotti wählte die Vereinigte Bundesversammlung den Freiburger Nationalrat Joseph Deiss, der zwar deutscher Muttersprache ist, als langjähriger Präsident einer französischsprachigen Gemeinde aber als zweisprachig gilt. Von den erweiterten Auswahlmöglichkeiten, die sich wegen der in der Volksabstimmung vom 7. Februar gutgeheissenen Abschaffung der Kantonsklausel ergeben hatten, machte das Parlament noch keinen Gebrauch.
Die Kampagne für die Parlamentswahlen vom 24. Oktober vermochte keine hohen Wellen zu schlagen. Nachdem der SVP aufgrund von Repräsentativumfragen ein grosser Wahlerfolg vorausgesagt worden war, bezogen die drei anderen Bundesratsparteien mehr oder weniger deutlich gegen die Politik der SVP und vor allem gegen deren plakative Aussagen Stellung. Dabei versuchten sie sich entweder als einzige Kraft gegen den Rechtspopulismus und die Strategien der globalisierten Wirtschaftsunternehmen (SP), oder aber als die einzigen Vertreter einer vernünftigen und an praktikablen Lösungen interessierten Kräfte (FDP und CVP) darzustellen. Die SVP ihrerseits konnte davon profitieren, dass mit der Krise im ehemals jugoslawischen Kosovo und dem in der Folge auf Rekordzahlen anschwellenden Flüchtlingsstrom in die Schweiz die Asylpolitik als eines ihrer Stammthemen Konjunktur hatte. In der gegenteiligen Lage befand sich die SP, indem die von ihr als zentrales Wahlkampfthema vorgesehene Arbeitslosigkeit mit dem Wirtschaftsaufschwung zunehmend an Aktualität einbüsste. Trotz des flauen Wahlkampfs fiel die Beteiligung an den Nationalratswahlen mit 43,2% leicht höher aus als vor vier Jahren.
Eindeutige Wahlsiegerin war die SVP, welche ihren Wähleranteil von 14,9% auf 22,5% steigern konnte und damit zur stärksten Partei wurde. Noch nie seit der Einführung des Proporzwahlsystems im Jahre 1919 hatte eine Partei einen derartigen Stimmenzuwachs erzielen können. Es gelang der SVP, einerseits dort ihre Stellung auszubauen, wo sie ohnehin schon stark war, und andererseits in Gebieten massiv zuzulegen, wo sie bis vor wenigen Jahren noch schwach resp. kaum vorhanden war (Städte resp. katholische Kantone). Der Erfolg der SVP setzte sich nicht vollständig in Sitzgewinne um. Sie überholte zwar mit fünfzehn neuen Nationalratsmandaten die CVP und die FDP, blieb aber mit ihren 44 Sitzen deutlich hinter der SP (51) zurück. Der Vormarsch der SVP ging nur zu einem kleinen Teil zu Lasten der drei anderen Regierungsparteien, welche sich mehr oder weniger halten konnten. Leidtragende waren vielmehr die kleinen Parteien vom rechten Rand des politischen Spektrums: die Freiheits-Partei verlor alle ihre sieben Nationalratssitze, die Schweizer Demokraten zwei von drei. Keine Entsprechung fand der Siegeszug der SVP bei den fast überall nach Majorzsystem ausgetragenen Ständeratswahlen. Sie konnte zwar auch hier zwei neue Mandate erobern, blieb aber mit ihren sieben Sitzen deutlich hinter der CVP (15) und der FDP (18) zurück.
Unmittelbar nach den Parlamentswahlen meldete die nun zur wählerstärksten Partei gewordene SVP ihren Anspruch auf einen zweiten Sitz im Bundesrat an. Zuerst visierte sie einen der beiden CVP-Sitze an, musste allerdings rasch erkennen, dass sie dafür weder bei der FDP noch bei der SP Unterstützung finden konnte. Die FDP sah keinen Anlass, eines der beiden im Frühjahr neugewählten CVP-Mitglieder bereits wieder abzuwählen, und die SP hatte kein Interesse an einer Verschiebung des Kräfteverhältnisses im Bundesrat nach rechts. Während sich diese Forderung der SVP noch im Rahmen der Konkordanzdemokratie und der sogenannten Zauberformel (Regierungsbeteiligung der grössten Parteien gemäss ihrer Wählerstärke) bewegte, versuchte sie dann, diese Vorgaben zu sprengen. Platz machen sollte nun nicht mehr die CVP als kleinste Partei, sondern die SP als einzige nicht zum bürgerlichen Lager gehörende Regierungspartei. Zwar verlangte die SVP nicht deren beide Sitze für sich, aber die SP hatte unmissverständlich klar gemacht, dass bei einer Abwahl des einen auch das andere Regierungsmitglied demissionieren würde. Für derartige Experimente, welche in elektoraler Hinsicht nur der SVP und der SP Nutzen bringen konnten, hatten die FDP und die CVP kein Verständnis. Der von der SVP-Fraktion als Herausforderer gegen Ruth Dreifuss und Moritz Leuenberger aufgestellte Zürcher Nationalrat Christoph Blocher vermochte am 15. Dezember ausserhalb seiner Partei kaum Stimmen zu erzielen und unterlag deutlich.
Neben den Wahlen stellte die Ratifizierung der sieben bilateralen sektoriellen Verträge mit der EU das wichtigste politische Ereignis des Jahres dar. Nachdem die Verträge Ende Juni von Vertretern der EU und der Schweiz unterzeichnet worden waren, befasste sich das Parlament in einer Sondersession Ende August und in der Herbstsession mit ihnen. Mit klaren Mehrheiten hiessen beide Parlamentskammern die Abkommen gut. Mehr zu diskutieren als die Verträge an sich gaben die vom Bundesrat vorgeschlagenen begleitenden Massnahmen. Mit diesen sollten befürchtete negative Auswirkungen möglichst verhindert werden. Besonders wichtig waren die Begleitmassnahmen für die beiden politisch heikelsten Abkommen, die schrittweise Einführung der Personenfreizügigkeit und das Landverkehrsabkommen. Die Gewerkschaften und Umweltschutzverbände hatten mit dem Referendum gedroht, falls keine zusätzlichen Barrieren gegen ein Lohndumping durch Arbeitskräfte aus der EU resp. eine Lastwagenlawine auf den Transitstrecken errichtet würden. Nachdem die Bundesversammlung diese Forderungen mehr oder weniger erfüllt hatte, waren nur noch die Schweizer Demokraten und die Lega dei Ticinesi bereit, die bilateralen Abkommen mit der EU zu bekämpfen. Sie konnten die erforderlichen Unterschriften für ein Referendum kurz nach dem Jahreswechsel einreichen.
Am 18. April hiessen Volk und Stände bei einer tiefen Stimmbeteiligung und mit einer relativ knappen Mehrheit von weniger als 60% die neue Bundesverfassung gut. Diese besser strukturierte und auch lesbarer gemachte Grundordnung ersetzt vom 1. Januar 2000 an die aus dem Jahre 1874 stammende und seither unzählige Male ergänzte und abgeänderte alte Verfassung.